Wirtschaft

Fachkräftemangel bedroht Wirtschaft: Zuwanderung allein reicht nicht

1,7 Millionen unbesetzte Stellen schwächen Deutschland. Warum Zuwanderung das Problem nicht allein lösen kann – und warum Unternehmen jetzt handeln müssen. Entdecken Sie, wie gezielte Rekrutierung, Weiterbildung und die Förderung von Quereinsteigern und Frauen den Fachkräftemangel bekämpfen können.
06.09.2024 11:03
Lesezeit: 3 min
Fachkräftemangel bedroht Wirtschaft: Zuwanderung allein reicht nicht
Ausländische Pflegefachkräfte in Anerkennung nehmen Teil an einem Praxistraining zur Körperpflege (Foto: dpa). Foto: Friso Gentsch

Deutschlands Wirtschaft gerät zunehmend unter Druck – der Fachkräftemangel ist der unsichtbare Motor dieser Krise. Monatelange Wartezeiten auf Handwerker oder medizinische Behandlungen sind längst Realität. Besonders stark betroffen sind Branchen wie die Pflege, der soziale Sektor und die MINT-Berufe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik).

Die Prognosen sind alarmierend: Laut ifo Institut für Wirtschaftsforschung könnten bis 2030 über drei Millionen Fachkräfte fehlen. Gleichzeitig verabschiedet sich eine ganze Generation in den Ruhestand, während immer weniger Erwerbstätige die Sozialsysteme stützen. Besonders dramatisch: Seit 2004 ist die Zahl der Bewerber für Ausbildungsplätze laut der Bundesagentur für Arbeit um 40-Prozent eingebrochen. Ein Teufelskreis, der Deutschlands wirtschaftliche Stabilität bedroht.

Wirtschaft am Abgrund: Milliardenverluste durch fehlende Fachkräfte

Fast die Hälfte der Unternehmen findet nicht genügend qualifizierte Mitarbeiter und 66-Prozent spüren den Mangel direkt, wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt. Der wirtschaftliche Schaden beläuft sich jährlich auf rund 100 Milliarden Euro – das sind 2,56-Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dies belastet sowohl die Wirtschaft als auch das Sozialsystem. Steigende Lohnnebenkosten und höhere Arbeitgeberbelastungen gefährden den Standort Deutschland.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) erklärt dazu: „An diesem Trend ändern auch die bisherigen Zuwanderungszahlen grundsätzlich nichts. Diese Lücke können wir nicht ohne effektive politische Maßnahmen schließen.“ Fakt ist: Trotz Reformen im Zuwanderungsrecht der letzten Jahre kommen immer noch nur wenige qualifizierte Fachkräfte aus Drittstaaten außerhalb der EU nach Deutschland

Zuwanderung allein reicht nicht aus: Was Unternehmen tun müssen

Die Frage ist längst nicht mehr, ob Unternehmen handeln müssen, sondern wie schnell sie reagieren können, um den Fachkräftemangel zu lindern. Zwar bietet Zuwanderung ein enormes Potenzial, doch ohne grundlegende politische Reformen bleibt es schwierig, die dringend benötigten Fachkräfte nachhaltig zu gewinnen und zu halten. Schnellerer Zugang zu Visa, bessere Anerkennungsverfahren für ausländische Abschlüsse und gezielte Fachkräfteanreize sind entscheidend, um die Lücke zu schließen.

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2020 – erste Schritte, aber keine Lösung

Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz wurden zwar erste Erleichterungen geschaffen, doch wesentliche Hürden bestehen weiterhin. Besonders die langen Wartezeiten und komplexen Antragsverfahren stellen ein erhebliches Hindernis dar. Während in der Theorie vielversprechende Regelungen geschaffen wurden, bleibt die praktische Umsetzung mangelhaft.

Zum Beispiel wird die Digitalisierung von Antragsverfahren immer noch viel zu langsam vorangetrieben, was den gesamten Zuwanderungsprozess behindert. Fachkräfte müssen oft monatelang auf die Bearbeitung ihrer Visa warten, was viele hochqualifizierte Bewerber abschreckt und sie in Länder mit schnelleren Prozessen abwandern lässt.

Einführung spezieller Fachkräfte-Visa & steuerliche Erleichterungen

Es ist klar, dass oberflächliche Korrekturen nicht ausreichen. Unternehmen fordern daher eine tiefgreifende Reform des Zuwanderungsprozesses. So müssen etwa spezialisierte „Fachkräfte-Visa“ schneller und weniger bürokratisch vergeben werden, um hochqualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland effizient anzuwerben.

Länder wie Kanada und Australien setzen bereits erfolgreich auf punktbasierte Zuwanderungssysteme, die Qualifikationen, Sprachkenntnisse und Berufserfahrung priorisieren und somit gezielt die Fachkräfte gewinnen, die ihre Wirtschaft benötigt. Kanadas Express-Entry-System bearbeitet Visa innerhalb von nur sechs Monaten und bietet dauerhafte Aufenthaltserlaubnisse.

Mit den im Juni 2024 in Kraft getretenen Änderungen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes orientiert sich Deutschland stärker an solchen Modellen, um den Zuwanderungsprozess zu beschleunigen und gezielt Fachkräfte für dringend benötigte Branchen zu gewinnen. Zusätzlich könnten steuerliche Erleichterungen oder finanzielle Zuschüsse für die Umsiedlung und Familienzusammenführung dazu beitragen, Fachkräfte langfristig zu binden.

Deutsche Bahn: Quereinsteiger und internationale Fachkräfte rekrutieren

Ein großes Hindernis für internationale Fachkräfte ist oft auch die langwierige Anerkennung ihrer Abschlüsse. Politische Reformen könnten den Prozess beschleunigen, etwa durch Standardverfahren und engere Kooperation mit den Herkunftsländern. Brückenkurse und Weiterbildungsmaßnahmen vor der Einreise würden zusätzlich die Integration in den Arbeitsmarkt erleichtern.

Die Deutsche Bahn setzt verstärkt auf die Rekrutierung internationaler Fachkräfte, insbesondere aus Drittstaaten. Beschleunigte Integrationsprogramme und die Anerkennung ausländischer Abschlüsse haben dazu beigetragen, dass die Bahn bereits über 1.000 neue Mitarbeiter aus dem Ausland gewinnen konnte. Gleichzeitig schließt die Bahn Personalengpässe durch den Einsatz von Quereinsteigern. Spezielle Schulungsprogramme bereiten Bewerber ohne branchenspezifische Vorkenntnisse auf Tätigkeiten wie Lokführer oder Zugbegleiter vor.

SAP: Frauen und Diversität als Wettbewerbsvorteil

Auch SAP setzt auf Vielfalt und stärkt gezielt die Einbindung von Frauen und internationalen Fachkräften durch flexible Arbeitsmodelle, betriebliche Kinderbetreuung und Mentoring-Programme. Teilzeitführungsmodelle ermöglichen es Frauen, häufiger in Führungspositionen aufzusteigen. Diese Maßnahmen steigern nicht nur die Mitarbeiterzufriedenheit, sondern auch die Innovationskraft des Unternehmens. SAP gilt heute als Vorreiter in Diversität und profitiert von einem breiteren Fachkräftepool.

Bosch: Ausbildung und Weiterbildung als Schlüsselstrategie

Bosch investiert jedes Jahr Millionen in Ausbildungszentren und bietet umfassende Aus- und Weiterbildungsprogramme, um gezielt auf technische Berufe vorzubereiten. Besonders erfolgreich ist das „Dual Study Program“, das Auszubildenden ermöglicht, schon während der Ausbildung wertvolle Praxiserfahrung zu sammeln. Diese Maßnahmen haben Bosch geholfen, eine stabile Fachkräftebasis aufzubauen – trotz eines hart umkämpften Marktes.

Gezielte Rekrutierung: So gewinnen Sie die besten Talente

Erfolgreiche Rekrutierung erfordert vor allem eines: Maßgeschneiderte Strategien. Dazu gehört auch eine ansprechende Gestaltung von Stellenausschreibungen und ein schlanker und effizienter Bewerbungsprozess. Ein attraktives Arbeitsumfeld und familienfreundliche Bedingungen sind außerdem entscheidend, um Fachkräfte langfristig zu halten.

Doch klar ist: Ohne entschlossenes Handeln von Unternehmen und Politik wird sich die Krise weiter verschärfen. Der Fachkräftemangel ist kein temporäres Problem, sondern eine strukturelle Herausforderung, die Deutschlands wirtschaftliche Zukunft massiv gefährdet. Die Zeit drängt – jetzt müssen die Weichen gestellt werden, bevor die Wettbewerbsfähigkeit unwiderruflich Schaden nimmt.

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