Weltwirtschaft

Trotz Rohstoffreichtum: Wieso Russland nur ein Schwellenland bleibt

Lesezeit: 11 min
10.09.2024 14:00
Russland ist eine absolute Rohstoffmacht, aber ökonomisch unterentwickelt. Ursächlich sind nicht Sanktionen oder andere externe Effekte, gegen die sich der Kreml gut gewappnet hat. Die russische Wirtschaft leidet vielmehr unter massiven strukturellen Defiziten, die sich auch durch eine boomende Kriegsindustrie nicht lösen lassen. Unter diesen Umständen wird Russland wohl auf ewig ein Schwellenland bleiben.
Trotz Rohstoffreichtum: Wieso Russland nur ein Schwellenland bleibt
Drohnenaufnahme der Ölraffinerie in Jaroslawl bei Sonnenuntergang - die russische Wirtschaft ist immer noch stark vom Energiesektor abhängig. (Bild: iStockphoto/nantonov)
Foto: nantonov

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Trotz enormer Rohstoffreserven ist der Wohlstand in Russland relativ gering. Der flächenmäßig größte Staat der Welt könnte vielleicht längst eine Industriemacht sein, hat aber in der Realität nur den Status eines reicheren Schwellenlands. Das BIP pro Kopf (13.800 Dollar) ist niedriger als in Bulgarien (15.800 Dollar), dem ärmsten Land der Europäischen Union, welches dieselbe kommunistische Vergangenheit hat.

Der Putin-Boom ist schon lange vorbei

Machthaber Wladimir Putin verdankt seine Popularität nicht zuletzt dem wirtschaftlichen Aufschwung Russlands und der Stabilisierung der Preissteigerungsraten nach der Jahrtausendwende, aber dieser Boom wurde durch die Finanzkrise jäh unterbrochen und geriet dann spätestens vor zehn Jahren endgültig ins Stocken. Seitdem waren die Wirtschaftsdaten lange Zeit ernüchternd – ein Trend, der sich durch Corona und die Wirtschaftssanktionen infolge des Kriegseintritts gegen die Ukraine noch verstärkte. Dies änderte sich erst, also dann Mitte 2023 die Kriegswirtschaft so richtig in die Gänge kam.

Der Lebensstandard ging zwischenzeitlich sogar enorm zurück. Zwischen 2011 und 2021 sanken die real verfügbaren Einkommen um rund 10 Prozent, was bei weitem nicht nur an der Coronakrise lag, die - anders als im Westen - kaum mit staatlichen Unterstützungszahlungen kompensiert wurde. Schon 2015 bis 2016 steckte Russland in einer kleinen Rezession. Außerdem kann sich der Durchschnittsrusse von seinem mageren Einkommen tendenziell immer weniger ausländische Güter leisten, weil der Rubel eine Abwärtungstendenz zu US-Dollar, Euro und anderen Hartwährungen aufweist.

Dabei bieten autarke Energieversorgung, Rohstoffreichtum und eine fleißige, gut ausgebildete Bevölkerung grundsätzlich gute Voraussetzungen, um ökonomisch zu reüssieren. Die Steuerlast ist mit einer Steuerquote von rund 12 Prozent der Wirtschaftsleistung sehr gering. Zudem sind Staatsfinanzen überaus solide. Die russische Staatsverschuldung beläuft sich auf lediglich knapp 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Haushalts-Defizite - wenn überhaupt vorhanden - liegen meist im niedrigen einstelligen Prozentbereich des BIP, selbst in den aktuellen Kriegszeiten.

Zudem verfügt Russland über einen ansehnlichen Vorrat an Devisenreserven in Höhe von knapp 600 Milliarden Dollar und einen über 180 Milliarden Dollar schweren Staatsfonds. Die Devisenreserven haben sich mit Kriegsbeginn de facto fast halbiert, nachdem sich der Westen dazu entschied, rund 280 Milliarden Dollar an Vermögenswerten der russischen Zentralbank einzufrieren. Die EU führt nun sogar die Zinserträge aus diesen konfiszierten Assets der Ukraine als Militärhilfe zu.

Russland reagiert auf seine Weise, schraubte etwa die nationalen Goldreserven auf einen neuen Rekordwert, frohr mehrmals Vermögen europäischer Großbanken ein und engagiert sich federführend für eine BRICS-Alternative zum westlichen Bankenkommunikationssystem SWIFT, von dem Russland ausgeschlossen wurde.

Abhängigkeit von Öl und Gas

Der Hauptgrund für die regelmäßigen Wirtschaftsflauten ist die gravierende Abhängigkeit vom Exportgeschäft mit Erdöl, Erdgas und Kohle. Das BIP-Wachstum korreliert stark mit den Preisen der fossilen Brennstoffe. Wenn die Öl- und Gaspreise einbrechen, ist das für die russische Wirtschaft immer eine mittlere Katastrophe und mit einem proportionalen Rückgang der Staatseinnahmen verbunden.

Die Branche der großen Ölmultis (Gazprom, Rosneft, Lukoil und Co.), die Putin nach der Jelzin-Ära wieder verstaatlichte - inklusive der damit verbundenen Dienstleister - steht für knapp 30 Prozent der Wertschöpfung, 60 Prozent der Exporteinnahmen und ein Drittel des Staatsetats. Die Energiebranche ist der produktivste Sektor der gesamten Volkswirtschaft.

Die zunehmenden westlichen Sanktionen zwangen das Land dazu, neu Absatzmärkte für seine Energieträger zu suchen. Russisches Erdgas fließt mittlerweile sehr eingeschränkt – und bald womöglich nur noch über dubiose Kanäle zum Beispiel via Türkei, Aserbaidschan und undurchsichtige Schiffsrouten – in die EU. 2025 läuft ein wichtiges Transitabkommen mit der Ukraine aus, über das auch jetzt noch Gas aus Russland gen Westen fließt.

Aber es wird insgesamt deutlich weniger. Russland hatte 2021 auf verschiedenen Routen noch über 150 Milliarden Kubikmeter Gas nach Europa exportiert. 2023 gingen die Lieferungen um mehr als die Hälfte auf 69 Milliarden Kubikmeter zurück. Im laufenden Jahr werden die Gasimporte aus Russland voraussichtlich weiter sinken, auch wenn die Zahlen zuletzt leicht stiegen und die EU im zweiten Quartal erstmals seit zwei Jahren wieder mehr Gas aus Russland bezog (12,7 Milliarden Kubikmeter) als aus den USA (12,3 Milliarden).

Japan und China können sich jetzt an riesigen Mengen an billigem Flüssiggas (LNG) aus Russland erfreuen, weil die Europäer dieses offenkundig nur indirekt über Umwege kaufen wollen. Die Verschiffung von LNG, wo sich bestimmte europäische Häfen als Zwischenstationen anbieten, wurde durch ein neues Umladeverbot weiter beschränkt, aber dank Russlands gewaltiger Schattenflotte an Öltankern dürften sich die Auswirkungen in Grenzen halten. Der russische Ölexport hat sich indes laut Regierungsangaben nahezu komplett Richtung China (Anteil: 45 bis 50 Prozent) und Indien (40 Prozent) verlagert.

China: Ein Partner mit viel Eigeninteresse

Das Reich der Mitte ist mit einem jährlichen bilateralen Handelsvolumen von umgerechnet 240 Milliarden Dollar inzwischen der größte Handelspartner und der Kremlchef warb erst jüngst bei seinem Staatsbesuch in China für eine stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit. „Russland ist bereit und in der Lage, die chinesische Wirtschaft, Unternehmen, Städte und Dörfer kontinuierlich und zuverlässig mit ökologisch sauberer und erschwinglicher Energie, Strom und Wärme zu versorgen“, sagte Putin. Er sei sicher, dass beide Staaten ihre strategische Allianz im Energiebereich weiter stärken würden.

Russlands Energieinfrastruktur ist insbesondere beim Gasexport auf die Versorgung Europas ausgerichtet, wie zahlreiche Pipeline-Verbindungen, darunter die bei einem Anschlag gesprengten Nordstream-Leitungen, dokumentieren. Die Marginalisierung dieses Absatzmarktes trifft die Förderation also durchaus hart, zumal man sich in den Vorkriegsjahren zunehmend auf den Gasexport fokussiert hatte.

Der Kreml setzt(e) daher große Hoffnungen darauf, dass Peking die stark gesunkenen Erdgas-Lieferungen nach Europa kompensieren würde. Bis 2030 sollen jährlich 100 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach China fließen.

Schon lange vor Beginn des Ukrainekriegs wurde das große Pipeline-Projekt „Power of Siberia“ fertig gestellt und in dessen Rahmen ein 30-jähriger Liefervertrag abgeschlossen. Eine weitere neue von Gazprom betriebene Pipeline soll über die Mongolei nach China führen. Doch das laut aktuellen Analysen schätzungsweise 100 Milliarden Dollar teure Megaprojekt stockt bereits seit Jahren. Derzeit sieht es so aus, als ob die Mongolei den Baustart bis 2028 verzögern möchte. Peking ist ebenfalls zurückhaltend. Gemäß einem Bericht der „South China Morning Post“ (SCMP) verweigert China eine Beteiligung an den Baukosten, will nur eine geringe Abnahmemenge garantieren und verlangt bessere Gas-Rabatte. Ein weiterer Streitpunkt sind die Besitzverhältnisse an dem Teil der 2.600 Kilometer langen Gasleitung, der sich auf mongolischem Staatsgebiet befinden wird.

Trotz eigentlich guter Beziehungen zu Russland erweist sich der ostasiatische Staat nicht als Retter in der Not, sondern vielmehr als knallharter Verhandlungspartner, der aus dieser Konstellation das Maximum herauszuholen versucht. China nutzt seine starke Position aus, um immer höhere Rabatte auf russisches Erdgas zu bekommen. Laut Insidern fordert Peking mittlerweile Preise, die nahe an den subventionierten Inlandspreisen in Russland liegen. Zugleich legt China Wert darauf, sich nicht zu abhängig von Russland zu machen und importiert deshalb zusätzlich große Gasmengen aus beispielsweise Kasachstan, Turkmenistan und Myanmar.

Symptomatisch für das Gasnachfrage-Problem ist der Zustand von Gazprom, das 2023 einen Milliardenverlust erlitt und damit zum ersten Mal seit 1999 in den roten Zahlen steckt. Die China-Lieferungen sind derzeit offensichtlich nicht profitabel. Nach einer gezwungenen Drosselung der Gasförderung um 25 Prozent liegen die Produktionsmengen auf einem historischen Tiefstand und der staatliche Gasriese muss einen Schuldenberg von umgerechnet rund 82 Milliarden Dollar stemmen.

Besser läuft es beim Ölgiganten Rosneft, der im ersten Halbjahr 2024 den Gewinn im Vorjahresvergleich um 27 Prozent auf 7,6 Milliarden Dollar steigerte. Hier kann man also mit den Lieferungen nach China und Indien immerhin noch Gewinne erwirtschaften.

Sanktionen wirken kaum

Das hört sich ziemlich übel an. Warum geht es der russischen Wirtschaft aber immer noch verhältnismäßig gut? Ein Faktor: Während die westlichen Wirtschaftssanktionen im Energiesektor zumindest teilweise einen negativen Effekt haben, funktionieren sie an anderer Stelle wenig bis gar nicht.

Einheimische wie ausländische Medien berichten gleichermaßen, dass es in Russland trotz immer schärferer Sanktionspakete keinen Mangel an westlichen Produkten zu geben scheint. Zur Erklärung reicht eigentlich eine Analyse ausgewählter deutscher Handelsdaten. So legte etwa letztes Jahr der Export von Autos nach Kirgistan im Vergleich zu 2021 um 11.000 Prozent zu, für elektrische Maschinen um 10.400 Prozent und bei Maschinen zur Metallverarbeitung um 5.400 Prozent. Das Endziel dieser Handelsgüter ist allzu offensichtlich.

Kirgistan ist gewiss ein Extrembeispiel, weil das Handelsvolumen hier zuvor sehr gering war. Aber auch in Kasachstan, Usbekistan, Armenien oder Georgien ist ein eindeutiger Trend zu beobachten. Zentralasien und der Südkaukasus haben sich zum Hub des indirekten Warentransports nach Russland entwickelt. In der Praxis sind es in erster Linie einheimische Unternehmen in diesen Ländern, von Russen dort neu gegründete Firmen oder Mittelsmänner/ Subunternehmer in Drittstaaten wie der Türkei und den Emiraten, die westliche Ware direkt oder über weitere Zwischenhändler nach Zentralasien importieren und dann Richtung Russland weiterverkaufen. Solche Handelsketten zu verbieten, ist praktisch unmöglich, ohne den gesamten internationalen Handel auzuhebeln.

Über diese Kanäle gelangen nicht nur westlich Industriegüter und Alltagsprodukte, sondern auch sogenannte „Dual-Use-Güter“ wie Halbleiter, die sowohl zivile als auch militärische Verwendung haben, nach Russland. Auch China nutzt diese Handelsumwege, um kriegsrelevante Güter zu exportieren und somit potentiallen Sekundärsanktionen der USA zu entgehen.

Der Kreml betont zwar, dass die Wirtschaft nicht auf westliche Markenprodukte angewiesen sei, hat aber ein klares Interesse daran, dass die Importe weiterlaufen wie bisher. Die russische Bevölkerung ist zwar sehr leidensfähig, aber für die Akzeptanz des Status Quo ist es wichtig, dass die Menschen möglichst wenig Einschränkungen ihres Lebensstandards bemerken.

Die Weltwirtschaft braucht Russland

Die russische Volkswirtschaft ist aller Sanktionen zum Trotz nach wie vor stark in die Weltwirtschaft integriert. „Man sollte keinen Kollaps im Stil der 90er-Jahre erwarten”, wird Alexandra Prokopenko, ehemalige Mitarbeiterin der Russischen Zentralbank, von Capital zitiert. „Russland hat bedeutende finanzielle Reserven, seine Wirtschaft ist diverser und offener nach außen. Auch wenn das Land seine Beziehungen zum Westen beschnitten hat, so werden seine Handelsverbindungen mit Asien immer enger.“

Laut Zahlen der „Kyiv School of Economics“ haben weniger als die Hälfte aller internationalen Firmen seit März 2022 dem Land ganz oder teilweise den Rücken gekehrt. Diejenigen westlichen Konzerne und KMUs, die den russischen Markt noch nicht verlassen haben, zögern jetzt. Hauptgrund dafür ist, dass die Bedingungen für den Geschäftsverkauft immer schlechter werden. Es muss ein Mindestrabatt von 50 Prozent auf die Firmenassets gewährt werden, hinzu kommt eine „Rückzugsteuer“ von 15 Prozent. „Einige dieser Unternehmen haben über 30 Jahre hinweg vier bis fünf Fabriken aufgebaut. Sie sind nicht bereit, das mit 90-prozentigem Discount zu verkaufen“, erklärte ein Insider im Gespräch mit der Financial Times.

Es ist jedoch auch generell keine einfache Entscheidung, diesen Markt hinter sich zu lassen. Russland ist ein riesiges Land mit einer entsprechend relevanten Nachfragefunktion für den Weltmarkt. Und so ganz ohne russische Rohstoffe geht es eben nicht, und das weit über Öl und Gas hinaus. Russland ist auch Marktführer der globalen Palladium-Produktion und eine der wichtigsten Fördernationen von Gold, Platin, Eisen, Aluminium und – nicht zu vergessen – Uran.

Als Brennstoff für Kernkraftwerke unabdingbar, zeigt sich am Beispiel von Uran eine gewisse Scheinheiligkeit der US-Politik, die Europa zu immer härteren Sanktionen drängt. Die Vereinigten Staaten importieren nämlich fleißig russisches Uran; 2023 war es mit rund 702 Tonnen (Gegenwert: 1,2 Milliarden Dollar) so viel wie noch nie zuvor. Die USA sind einer von vielen Staaten, die wieder verstärkt auf Atomenergie setzen und dafür auch auf billiges angereichertes Uran aus Russland angewiesen sind. Im Mai diesen Jahres hat der Senat nun ein Importverbot beschlossen, das aber Ausnahmeregelungen für den Fall enthält, dass die Versorgung heimischer Reaktoren gefährdet ist. Ein weiteres Beispiel für pragmatische amerikanische Handelspolitik: Im Frühjahr haben die USA Sanktionen gegen russische Banken für sämtliche Energiegeschäfte aufgehoben.

Bezeichnend ist auch, dass beim neuesten Sanktionspaket der EU die „No Russia Clause“ entscheidend abgeschwächt wurde. Diese bezieht sich auf Luftfahrtgüter, Waffen und fortgeschrittene Technologiegüter, die in russischen Militärsystemen verwendet werden und verbietetet EU-Exporteuren die Wiederausfuhr solcher Güter nach Russland. In einem Kompromiss einigten sich die Mitgliedsstaaten darauf, dass diese Klausel vorerst nicht wie geplant auch auf Tochterunternehmen angewendet werden muss. Grund waren vor allem Warnungen aus der deutschen Wirtschaft, die einen zu hohen Verwaltungsaufwand und Umsatzverluste befürchtete.

Renationalisierung der Wirtschaftsstrukturen – mit Nebenwirkungen

Die Rohstoffmacht Russlands beschränkt sich nicht auf fossile Energieträger und Metalle. Es ist heute der bedeutendste Weizen-Lieferant der Welt. In der Erntesaison 2022/2023 wurden 55 Millionen Tonnen Weizen ins Ausland exportiert. Zugleich ist Russland der größte Exporteur von Düngemittel weltweit.

Diese Erfolge in der Agrarindustrie kommen nicht von ungefähr, sondern sind das Ergebnis einer langfristigen „Renationalisierungsstrategie“, die ihre Ursprünge bereits in den frühen 2000er-Jahren hat und 2014 durch die erste Ukraine-Krise an Dynamik gewann. Um die Abhängigkeit von der westlichen Wirtschaft zu verringern, beschloss die russische Führung damals Maßnahmen, um Importe aus den USA und der EU durch einheimische Produkte zu ersetzen („Importsubstitution“). Im Lebensmittelsektor wurde dies durch die Einführung von Gegensanktionen und Importstopps erreicht. Westliche Produkte verschwanden vielfach aus den Supermarktregalen und wurden durch russische Waren ersetzt.

In der Folge konnte die russische Lebensmittelindustrie und der Agrarsektor ein massives Wachstum erreichen, was aber auch Nachteile für die Konsumenten mit sich brachte. Die Lebensmittelpreise stiegen überproportional an und somit erhöhte sich die Inflation.

Die unfassbaren Weiten des Landes sind für die ökonomische Potenz nicht nur von Vorteil. In Russland gibt es immer noch zig tausende Siedlungen, die nicht über asphaltierte Straßen zu erreichen sind, eine mangelhafte Wasserversorgung aufweisen und deren jüngere Bevölkerung dem Ruf der Urbanisierung in die Großstädte folgt Der landwirtschaftliche Aufschwung wird überwiegend von Großbetrieben mit modernen Anbaumethoden und Maschineneinsatz auf den besonders fruchtbaren Böden im Süden vorangetrieben, woran die Dörfer in den abgelegenen Landesteilen kaum partizipieren. Trotz des Landwirtschafts-Booms in bestimmten Landesteilen trägt der Agrarsektor weiterhin nur rund drei bis vier Prozent zur Wertschöpfung bei.

Die steigende Produktivität des Agrarsektors hat einen Großteil der ländlichen Gebiete marginalisiert. Die Produktivitätsfortschritte der am günstigsten gelegenen Regionen – wie zum Beispiel Stawropol oder Krasnodar-Krai könnte durch eine Überproduktion bestimmter Nahrungsmittel sogar dafür sorgen, dass die Landwirtschaft in nördlicheren Regionen in Teilen oder gänzlich eingestellt wird. Dies könnte wiederum finanzielle Maßnahmen zur sozialen Unterstützung betroffener Bevölkerungsteile erforderlich machen, wie Michail Ksenofontow und Dmitrij Polzikow vom Institut für Volkswirtschaftliche Prognosen der Russischen Akademie der Wissenschaften resümieren.

Auch in anderen Sektoren versucht man seit langem, die einheimische Produktion zu stärken. So wurden etwa ausländische Unternehmen, die in Russland produzieren, verpflichtet, Vorprodukte bevorzugt bei russischen Anbietern zu kaufen. Dieses Programm der Importsubstituierung war jedoch nicht in allen Branchen erfolgreich. Bisweilen mangelt es an geeigneten heimischen Zulieferern. Russland versucht, die hier entstandenen Lücken durch Importe aus Ostasien zu schließen.

Durch Sanktionen, Gegensanktionen und Importsubstituierung hat sich die Wirtschaft Russlands in Teilen vom Weltmarkt entkoppelt. Das dämpft einerseits die Wirkung von externen Einflüssen wie Sanktionen und Finanzkrisen. Aber andererseits wurde die Wettbewerbsfähigkeit geschwächt, besonders außerhalb des Rohstoffsektors, und trotz Umgehungsstrategien für die Wirtschaftssanktionen ist der Zugang zu westlicher Technologie voraussichtlich dauerhaft eingeschränkt.

Korrupte Oligarchen-Wirtschaft

Unter den größten Unternehmen des Landes sind die Sektoren Rohstoffe, Energie, Rüstung sowie die Finanzbranche überrepräsentiert. Durch die Konzentration auf einige dominante Sektoren (allen voran die Erdöl- und Erdgas-Industrie) ist die russische Wirtschaft strukturell zu einseitig aufgestellt. In den genannten Branchen ist Russland durchaus international konkurrenzfähig, in anderen Branchen weit weniger.

Die Machtkonzentration auf wenige Quasi-Oligopole in Kombination mit dem starken Staatseinfluss macht die russische Ökonomie undynamisch. Das äußert sich zum Beispiel am geringen Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung am BIP (1 Prozent), der etwa in China (2,5 Prozent), Deutschland (3,1 Prozent) und den USA (3,5 Prozent) deutlich höher ist.

Die aktuelle Dominanz der Kriegswirtschaft wird dieses Problem nicht lösen, sondern eher verhärten, weil Kapital, Ressourcen und Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie gebunden sind, obwohl sie an andere Stelle produktiver eingesetzt wären.

Die Vorzeige-Industrien und die gesamte Ökonomie leiden unter oligopolistischen Strukturen. Russland ist – etwas überspitzt formuliert – eine politisch gewollte Oligarchen-Wirtschaft. Die russische Wirtschaft wird von Großunternehmen dominiert, die entweder Staatskonzerne sind oder stark von der Regierung beeinflusst werden. Kleine und mittelgroße Firmen erwirtschaften nur rund 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, während es in der EU über 50 Prozent ist. Offiziell möchte der Kreml die Rolle der KMUs seit vielen Jahren stärken, aber es gelingt nicht.

Die wirtschaftlichen Strukturen des Landes ähneln den politischen. Im „Economic Freedom of the World Index“ des Fraser-Instituts, das Länder anhand verschiedener Kriterien (Staatsquote, Steuern, Geldwert-Stabilität, Rechtssystem, Handelsfreiheit, Regulierung) einen Wert für die wirtschaftliche Freiheit der Unternehmen und Bürger zuordnet – landet Russland auf Rang 104 von 165. Damit steht man hinter Ländern wie Honduras, Nigeria und Katar. Der Hauptgrund für die schlechte Bewertung sind gravierende Defizite beim Schutz von Eigentumsrechten und hohe Markteintrittsbarrieren.

Das Geschäftsumfeld in Russland ist aus dieser Perspektive wenig einladend. Im „Corruption Perception Index“ von Transparency International schneidet die Förderation mit dem 141. Platz von 180 ebenfalls miserabel ab. In der Risiko-Rangliste der staatlichen deutschen Exportkredit-Versicherung (Hermesdeckung) wird Russland mit der höchsten Risikostufe bewertet.

Korruption, staatliche Willkür und der große Einfluss der Mafia sind ein integraler Bestandteil des politischen und wirtschaftlichen Systems in Russland. Ein systemisches Problem, das in den letzten zehn Jahren eher schlimmer geworden ist und von dem das Putin-Regime vermutlich nicht mehr abrücken wird.

                                                                            ***

Jakob Schmidt ist studierter Volkswirt und schreibt vor allem über Wirtschaft, Finanzen, Geldanlage und Edelmetalle.



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