Der Mauerfall am 9. November 1989 war geprägt von einer denkwürdigen Pressekonferenz mit dem SED-Funktionär Günter Schabowski, der die Nachricht unerwartet verkündete. "DDR öffnet Grenzen" verbreitete sich als Eilmeldung, und jubelnde Menschen drängten sich über die Mauer und tanzten am Brandenburger Tor. Die Bilder dieses historischen Ereignisses bewegen die Menschen seit nunmehr 35 Jahren. Doch nicht alles ist im kollektiven Gedächtnis geblieben. Vieles von dem, was damals geschah, ist in Vergessenheit geraten oder wurde nie umfassend bekannt. Der Mauerfall brachte der DDR einen dramatischen Wandel, doch auch die Bundesrepublik war plötzlich gefordert und wurde von den Ereignissen überrascht. Einige Fakten, die sich im Rückblick lohnen.
Die Flüchtlingswelle bringt die BRD an ihre Belastungsgrenzen
Der 9. November begann im Westen mit Forderungen nach einem Aufnahmestopp für Übersiedler aus der DDR. Bis 1989 hatten nach Schätzungen schon etwa 200.000 Menschen die DDR in Richtung Bundesrepublik verlassen. Auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt im Westen herrschte Notstand. Der hannoversche Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg (SPD) warnte, dass die Kapazitäten erschöpft seien. Auch Oskar Lafontaine (SPD), damals Ministerpräsident des Saarlands, äußerte Verständnis für die Proteste gegen den Zustrom von DDR-Bürgern.
In der DDR spürte man das Fehlen der Auswanderer deutlich. Die Stasi verkündete, dass "angesichts dringender Erfordernisse" 385 Mitarbeiter in die Produktion versetzt würden, darunter auch Fahrer, Monteure und 21 Ärzte. Der Sektenführer Bhagwan Shree Rajneesh in Indien bot eine ungewöhnliche Lösung: Seine Anhänger könnten die entleerte DDR als internationales Zentrum nutzen. "Alle verlassen das Land", bemerkte er, "bald wird es leer sein, doch meine Jünger könnten das Vakuum füllen." Weil viele DDR-Bürger über die Tschechoslowakei flohen, drohte Prag mit der Schließung der Grenze zur DDR. Oberst Gerhard Lauter von der Volkspolizei wurde beauftragt, eine Regelung zu schaffen, um dies zu verhindern. Wer die DDR verlassen wollte, sollte künftig offiziell die Ausreise beantragen können. Lauters Team ging aber weiter und entwickelte eine umfassendere Reiseregelung für Privatreisen in den Westen.
Schabowskis Pressekonferenz: Der "Mauerfall" beginnt mit einem Missverständnis
Die Reiseregelung, vom Politbüro und Ministerrat beschlossen, erreichte Günter Schabowski kurz vor seiner Pressekonferenz. Er sprach fast eine Stunde über andere Themen, bis eine Journalistenfrage die geplante Regelung zur Sprache brachte. Eigentlich sollte diese erst am nächsten Tag gelten, doch Schabowski erklärte sie fälschlicherweise für "sofort, unverzüglich". Das sorgte für hektische Eilmeldungen und Aufregung im Westfernsehen. Um 21.01 Uhr erhob sich der Bundestag in Bonn und sang "Einigkeit und Recht und Freiheit".
Doch die Grenze war zu diesem Zeitpunkt noch geschlossen. Am Grenzübergang Bornholmer Straße wartete Oberstleutnant Harald Jäger auf Anweisungen, während Tausende Menschen "Tor auf" riefen. Um 23.30 Uhr traf er eigenmächtig die Entscheidung: "Wir fluten jetzt."
Sahra Wagenknecht bleibt dem Aufbruch fern
Das Zentralkomitee der SED tagte bis 20.47 Uhr und soll von Schabowskis Äußerungen und den Vorgängen an den Grenzen nichts gewusst haben. Egon Krenz, Parteichef der SED, erfuhr erst gegen 22.00 Uhr von Stasi-Chef Erich Mielke von der Situation. Helmut Kohl befand sich währenddessen bei einem Staatsbesuch in Polen. Später erinnerte er sich: "Es war einer der dramatischsten Augenblicke, und wir spürten, dass wir abseits waren, wie auf einem anderen Stern." Angela Merkel, die spätere Kanzlerin, war am Abend des Mauerfalls wie gewöhnlich donnerstags in der Sauna und marschierte danach über die Bornholmer Brücke, wo sie ihr erstes Westbier trank. Sahra Wagenknecht, damals 20 Jahre alt, blieb der Freude über die historische Wende fern. In einem Interview sagte sie 2010: "Da war ich in meiner Wohnung in Berlin und habe Kants 'Kritik der reinen Vernunft' gelesen." Erst 1990 fuhr sie nach West-Berlin, um ein Buch aus der Bibliothek zu holen.
Das Begrüßungsgeld wird ein Milliardenprojekt - Berliner Mauer verschwindet
Der Mauerfall fiel auf einen Donnerstag, und zum Wochenende strömten die Menschen in den Westen. Am Grenzübergang Helmstedt/Marienborn entstand eine 60 Kilometer lange Schlange. Da viele Fahrzeuge liegen blieben, war der ADAC im Dauereinsatz. Pannenhelfer Manfred Klein erinnert sich: "Manchmal war es nur ein platter Reifen, dann wieder kaputte Radlager, weil die Autos überladen waren." Etwa 300.000 DDR-Bürger reisten an diesem ersten Wochenende allein nach Niedersachsen. Seit 1970 zahlte die Bundesregierung DDR-Besuchern ein Begrüßungsgeld - ursprünglich eine patriotische Geste für eine überschaubare Anzahl von Gästen. 1989 betrug das Begrüßungsgeld 100 D-Mark. Kurz nach dem Mauerfall hatten bereits drei Millionen Menschen das Geld beantragt, und bis Jahresende nahezu jeder der 16 Millionen DDR-Bürger. Die Kosten beliefen sich auf rund zwei Milliarden D-Mark. Im Dezember wurde das Begrüßungsgeld daher abgeschafft.
Die Berliner Mauer, die am 13. August 1961 errichtet wurde und rund 155 Kilometer umfasste, wurde sofort nach dem 9. November von sogenannten "Mauerspechten" mit Hämmern bearbeitet. Der systematische Abbau begann jedoch erst zwischen Juni und November 1990. Ein paar Mauerreste blieben in Berlin erhalten, darunter die East Side Gallery am Ostbahnhof, die bis heute kunstvoll bemalt ist. Auf einem Mauerstück ist das Zitat des österreichischen Lyrikers Erich Fried verewigt: "Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt."
35 Jahre Mauerfall – die Erinnerungen an dieses historische Ereignis werden auch in Zukunft lebendig bleiben.