Politik

Vertrauensfrage oder konstruktives Misstrauensvotum: Wie Deutschland den ungeliebten Kanzler los werden könnte

Wutanfall vom Tele-Prompter? Stilfragen hin oder her! Der Wahlkampf bestimmt den Terminkalender zu den Neuwahlen. Das kann die Union nicht akzeptieren, während sich SPD und Grüne den Weg zu Neuwahlen erst im März schön ausmalen.
08.11.2024 15:45
Lesezeit: 7 min
Vertrauensfrage oder konstruktives Misstrauensvotum: Wie Deutschland den ungeliebten Kanzler los werden könnte
Alle Ampeln auf Rot? Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender, gibt nach einer Sondersitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein Presse-Statement ab. (Foto. dpa) Foto: Christoph Soeder

Der Kanzler sagt, es gehe ihm um „Stabilität“ für das Land. Bloß keine Schnellschüsse, nach dem Eklat um die umstrittene Schuldenbremse und Entlassung von Finanzminister Christian Lindner von der FDP. Sein Ablauf zur Demontage seiner Regierung habe er „genau durchdacht“. Am 15. Januar 2025 werde er im Parlament die Vertrauensfrage stellen - und sicherlich verlieren. Scholz führt keine „unechte Vertrauensfrage“ á la Gerhard Schröder im Sinn. Es werde Neuwahlen geben, aber erst im März. Dann sei Schluss!

Parlamentarische Konfliktbewältigung - Vertrauensabstimmung oder Neuwahlen

Die Vertrauensfrage wird oft von Regierungschefs eingesetzt, um das Parlament an die Kandare zu nehmen und gewissermaßen zu disziplinieren. Sie kann vom Kanzler gestellt werden, um festzustellen, ob seine politische Mehrheit noch steht und die politischen Ziele grundsätzlich noch übereinstimmen. Es kann so mitunter eine konstruktive Konfliktbewältigung erzielt werden. Doch ein klar negatives Ergebnis endet häufig im Rücktritt der Regierung und führt schließlich zu Neuwahlen. Ein geübtes Instrument der demokratischen Hygiene. Es soll Taktiereien und falsche Spielchen verhindern helfen, wie sie 1933 die Weimarer Republik zu Fall brachten.

Scholz und seine durchsichtige Strategie für das Weihnachtsfest. Die Union versteht es nicht und erwartet, dass Scholz schnellstmöglich den Weg freigibt, ohne eigene parlamentarische Mehrheit, als König ohne Land. Das beweisen die Umfragen, selbst in der eigenen Partei, wo die Mehrheit der SPD-Anhänger bezweifelt, dass Scholz noch der richtige Mann im Kanzleramt ist. Von der Mehrheit der Deutschen, die das Theater leid ist, ganz zu schweigen. Doch Friedrich Merz holte sich Donnerstag eine Abfuhr im Kanzleramt.

Auf zwei schwarze Asse im Skat hoffen? Scholz setzt auf das Glück des Berufszockers

Scholz, Typ hanseatischer „Bollerkopp“, will sich nicht hetzen lassen und möchte das Heft des Handelns unbedingt in der Hand zu behalten. Seine vage Hoffnung, das Blatt noch zu wenden, im Wahlkampf 2021, stirbt erst zum Schluss. Pik- und Kreuzass von CDU und CSU im Skat zu finden, wäre Zockerglück.

Doch ist ein kurzfristiger Wahltermin im Januar organisatorisch machbar? Bundeswahlleiterin Ruth Brand , die für Organisation und Durchführung der Wahlen zuständig ist, sieht „keine Hindernisse für eine rasche Neuwahl“. Ein Sprecher ihrer Behörde erklärte, „die Vorbereitungen könnten ebenso kurzfristig getroffen werden wie bei regulären Wahlen“. Aufgabe der Bundeswahlleiterin ist es, dafür zu sorgen, dass alle gesetzlichen Vorschriften eingehalten und die Wahl ordnungsgemäß durchgeführt wird. Rechtlich seien die Fristen klar geregelt. Eine Neuwahl in wenigen Wochen sei ohne Weiteres durchführbar - nach Art. 39 Grundgesetz sollte eine Neuwahl spätestens 60 Tage nach der Auflösung des Bundestages stattfinden. Dass Briefwahlunterlagen zu drucken und Turnhallen Im Winter frei zu räumen zur ordentlichen Stimmabgabe - warum sollen die deutschen Logistik-Weltmeister das also nicht organisieren können?

Wie die SPD die Frage nach Opfern oder Tätern zu Lasten der Opposition umdreht

Doch bei den Sozis sind die Reihen fest geschlossen. Abwarten, Tee trinken heißt die Devise. Die „Eskia“ und „der Lars“, beide SPD-Parteivorsitzende, stehen stramm hinter „dem lieben Olaf“. Selbst der Applaus der linken Bundestagsfraktion gilt als gesichert. Rolf Mützenich, der SPD-Fraktionschef, hält das Gezerre um die Termine für einen von der Opposition gebauten „Popanz“. Reine Nervensache also? Scholz glaubt, die Bürger mögen es hoffentlich der Union anlasten, wenn fällige und drängende Entscheidungen im Bundestag (wie Haushalt, Klinikreform, Kindergeld, etc.) an der bürgerlichen Opposition scheitern. Habeck erhofft sich derweil Schwung, um selbst ins Kanzleramt durchzustarten. Gestern verkündete er, mit einem schelmischen Augenzwinkern (per Video), sich als grüner Kanzlerkandidat (sic!) zu bewerben. Alles von langer Hand vorgeplant und zum optimalen Zeitpunkt verkündet? Bis dieses Gift in der Wählerschaft eingesickert ist, braucht es tatsächlich viel mehr Zeit.

Scholz wie Archimedes 90 Minuten unbeteiligt auf dem Feld, um in Nachspielzeit zu punkten - Eureka!

Aus Sicht von Kanzler Scholz herrscht eine Krise, ber der alle zusammenstehen und ihre Pflicht erfüllen müssten. Auch Merz trage da eine staatspolitische Verantwortung. Findet der Kanzler. Obwohl er 90 Minuten wie Archimedes unbeteiligt und geistesabwesend über den Sportplatz stolziert ist, ohne jeglichen Ballkontakt oder Torschuss. Also hofft er auf Nachspielzeit, weil er - Eureka! - endlich die Lösung zum Punkten gefunden hat.

SPD-Generalsekretär Matthias Miersch setzt bereits voll auf Angriff: „Friedrich Merz sollte sich das alles noch mal gut überlegen.“ Verkehrte Welt! Opfer-Täter-Umkehr á la SPD! Der Kanzler habe ja „nun wirklich alles versucht“ in den letzten Wochen und Monaten. Doch die Wähler werden verstehen, dass es die SPD gut meint und der Kanzler eine zweite Chance verdient hat.

Auch die Außenministerin sieht das so. Ihr geht es, ganz staatstragend, um Verlässlichkeit. „Wenn die Russen in Kiew stehen“, sagt Annalena Baerbock in der Sendung von Sandra Maischberger, „ist auch die deutsche und europäische Sicherheit gefährdet.“

„Die Amerikaner sind bis Januar handlungsunfähig“, glaubt Baerbock. „Da wäre es nicht gut, wenn auch Deutschland als zweitstärkste Demokratie ausfällt.“ Stabilität? Was das ist, sei Ansichtssache! Baerbocks erzählte im Fernsehen mal wieder ihre alte Leier von der Geschichte auf dem Kopf stehender Zahlen: „Man hat selber Werte, auch selber Interessen“, betont die Grüne. „Sie sehen womöglich eine Sechs.“ Aus ihrer Perspektive sei es hingegen „eine Neun“. Erforderlich ist in dem Fall „ein geordneter Prozess“. Was allein zählt? „Der Kanzler entscheidet das - auch aufgrund unserer Geschichte“, sagt Baerbock, und damit Basta! Früher oder später, mag sein?

Klingbeil fragt: Warum sollte jemand gegen Kindergelderhöhung stimmen wollen?

„Es ist komplex“, so Baerbock. Ihr Appell an CDU-Chef Merz lautet: „Wenn wir im November, Dezember und Januar extra Geld brauchen", hofft sie, dass alle gemeinsam Kraft finden, das zu möglichen. Sie verlangt, dass sich die Union (wie nach dem Angriff der Russen auf die Ukraine und beim Sondervermögen der Bundeswehr) einen Ruck gibt und aus Mitverantwortung fürs Land die Vorschläge der rot-grünen Minderheitsregierung einfach devot durch winkt. Grünes Wünsch-Dir-was?

Die SPD hat die Taktik vorgegeben, die Union den Winter über vor sich herzutreiben. Rente, Pflege, Bundeswehr, innere Sicherheit - Schikanierzwickel gibt es noch genug, Wie es SPD-Chef Klingbeil bereits vorführt, wenn er die rhetorische Frage aufwirft: „Warum sollte jemand gegen Kindergelderhöhung stimmen?“ Er richtet den Finger ganz unverhohlen auf Merz. Das Kalkül: Der Sauerländer wolle ja Kanzler werden und müsse den Wählern partout gefallen.

„Geordneten Übergang“, erwartet derweil Markus Söder, der CSU-Parteichef. Wie andere Politiker auch. Selbst Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg will die Neuwahlen möglichst schnell absolvieren - so wie Scholz das beratungsresistent vorgibt, gehe es nicht. Wirklich gute Gründe hat der Kanzler für seinen Verschiebe-Bahnhof bisher nicht vorgetragen. Außer natürlich dem Wunsch nach mehr Zeit für ein Comeback - und die Wählergunst.

Was für Alternativen gibt es also? Das Parlament stürmen zu lassen (wie Donald Trump es Januar 2021 seinen Anhängern suggeriert hat, um die Amtseinführung Joe Bidens zu verhindern), das fällt bei uns wohl aus. Und was ermöglicht rechtlich das schlaue Grundgesetz?

Die Alternativen laut Grundgesetz: Dem Kanzler das Vertrauen aussprechen oder ihn stürzen

„Eigentlich stellt der deutsche Bundeskanzler die Vertrauensfrage, um handlungsfähig zu bleiben. Doch einige Kanzler stellten sie, damit der Bundestag sie stürzt und es Neuwahlen gibt“, so beurteilen die Schweizer Eidgenossen laut „NZZ“ die Rechtslage. „Theoretisch ist die Sache mit der Vertrauensfrage ganz einfach: Der Kanzler fragt das Parlament, ob es seine Politik unterstützt. Der Bundestag tritt dann zusammen und stärkt die Position des Kanzlers, spricht ihm sein Vertrauen aus. Oder er stürzt ihn.“ Den Gründerväter der Verfassung ging es darum, dass der Kanzler die Handlungsfähigkeit bewahren kann. Wenn die freilich dem Regierungschef abhanden gekommen ist, wie nun offensichtlich Olaf Scholz, dann gibt es nur einen weiteren Ausweg.

Erstaunliche Parallelen zum konstruktiven Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt anno 1982

Wie in einer Zeit und politischen Gemengelage, die der heutigen nicht ganz unähnlich war. Anno 1981, jener Zeit, als der sogenannte Nato-Doppelbeschluss zur Stationierung amerikanischer Pershing-Raketen erfolgte. Es formierte sich erstmals in der Bundesrepublik eine mächtige Friedensbewegung. die zu Hunderttausenden in Bonn zum Hofgarten zogen, um gegen Helmut Schmidts Ost-Politik zu demonstrieren. Die SPD rückte (wie heute erneut) immer weiter nach links und entfremdete sich dabei zusehends von der FDP-Koalition. Sie reagierte (wie Christian Lindner heutzutage auch) mit Wirtschaftsforderungen und finanziellen Vorbehalten, die dann zum Bruch unter den ungleichen Koalitionären führte. Die Opposition trieb die Spaltung voran. Bis CDU-Parteichef Helmut Kohl im Oktober 1982 Kanzler Schmidt mit einem „konstruktiven Misstrauensvotum“ aus dem Amt bugsieren konnte. Kohl hatte freilich sofort eine absolute Mehrheit im Bundestag, weil ihm die (seitens der FDP, vor allem dank Otto Graf Lambsdorff und Hans-Dietrich Genscher) zugesichert worden war.

Aktuell kann Friedrich Merz darauf nicht hoffen. Die Stimmen der FDP reichen nicht, ohne die Grünen mit an Bord. Mit der AfD könnte er womöglich rechnen - auf sie bauen wird er nicht, ohne dabei politischen Selbstmord zu riskieren. Mit Alice Weidel und Björn Höcke im Gebüsch hieße dies wohl, einen Pakt mit dem Teufel schmieden. Solange die blau-nationalistische Opposition kein wirkliches Vertrauen im Land erworben hat und als politisch unberechenbar gilt, führt dieser Weg ins Abseits.

Mit der AfD ein konstruktives Misstrauensvotum wäre denkbar, aber politischer Selbstmord für Merz

Vorerst also nur kontrollierte Offensive gegen Scholz. Mit verteilten Rollen! „Good cop, bad cop“, heißt es, wenn etwa die New Yorker Polizei ein freiwilliges Geständnis erwirken möchte. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann versucht es zunächst kleinlaut und beteuert seine „Demut“ vor der Lage, in der sich die Regierung befindet. Grundsätzlich könnte ein Misstrauensvotum zielführend sein, aber nur mit Jamaika. Leider „sind die Grünen dazu nicht bereit".

Merz hofft deshalb, dass der Kanzler wenigstens noch einen „Rest an Einsicht und staatspolitischer Verantwortung“ hat und durch tiefes In-sich-gehen unter Beweis stellt. Nicht viel mehr als die kommende Sitzungswoche des Bundestages will Merz dem Regierungschef zubilligen, bevor „Hardball“ gespielt werden soll und die CDU die kleine Koalition aus Grünen und Roten (ohne Chancen auf irgendeine Mehrheit) auflaufen lassen will. Dann droht eine wahrlich bleierne Zeit, wo in der Ukraine die Granaten einschlagen und Deutschland als europäische Mittelmacht gelähmt agiert und quasi ausfällt - ohne Gestaltungskraft, ohne Geld, ohne Gnade. Die Weihnachtsfeiertage könnten also alles andere als beschaulich und besinnlich ausfallen. Diesen Winter weht eine besonders steife Brise - an der Spree und erst recht (jenseits des großen Teichs) in Washington.

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Peter Schubert

Peter Schubert ist stellv. Chefredakteur und schreibt seit November 2023 bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Immobilienthemen. Er hat in Berlin Publizistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaften an der Freien Universität studiert, war lange Jahre im Axel-Springer-Verlag bei „Berliner Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „Welt Kompakt“ tätig. 

Als Autor mit dem Konrad-Adenauer-Journalistenpreis ausgezeichnet und von der Bundes-Architektenkammer für seine Berichterstattung über den Hauptstadtbau prämiert, ist er als Mitbegründer des Netzwerks Recherche und der Gesellschaft Hackesche Höfe (und Herausgeber von Architekturbüchern) hervorgetreten. In den zurückliegenden Jahren berichtete er als USA-Korrespondent aus Los Angeles in Kalifornien und war in der Schweiz als Projektentwickler tätig.

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