US-Präsident Joe Biden hat der Ukraine übereinstimmenden US-Medienberichten zufolge den Einsatz weitreichender Raketen gegen bestimmte Ziele in Russland erlaubt. Konkret geht es um die Freigabe für den Einsatz von ATACMS-Raketen mit großer Reichweite zur Verteidigung der ukrainischen Streitkräfte in der von der Ukraine besetzten westrussischen Region Kursk. Das berichteten mehrere große US-Medien unter Berufung auf US-Regierungskreise.
In der Region Kursk zeichnet sich derzeit eine Gegenoffensive Moskaus ab. Die "New York Times" und die "Washington Post" berichteten, die Freigabe sei eine Reaktion auf die Stationierung tausender nordkoreanischer Soldaten in der Region, die das russische Militär dabei unterstützen sollen. Die weitreichenden Waffen würden wahrscheinlich zunächst gegen russische und nordkoreanische Truppen eingesetzt, um die ukrainischen Streitkräfte in der Region Kursk zu verteidigen, hieß es in den Berichten. ATACMS-Raketen verfügen über eine Reichweite von bis zu rund 300 Kilometern.
Was das Weiße Haus zu den Berichten sagt
Das Weiße Haus hat nach Berichten über die Freigabe von US-Raketen Kritik aus Moskau zurückgewiesen - reagiert aber ausweichend auf Fragen zu dem Thema. "Das Feuer wurde durch die russische Invasion in die Ukraine entfacht", sagte der stellvertretende Nationale Sicherheitsberater der USA, Jon Finer, am Rande des G20-Gipfels in Rio de Janeiro. Auch auf mehrfache Nachfrage wollte Finer die Berichte nicht offiziell bestätigen, dementierte sie aber auch nicht. "Ich bestätige keine Entscheidungen, die in Bezug auf die US-Unterstützung in diesen operativen Fragen getroffen wurden oder nicht", sagte Finer.
Reaktion auf Einsatz nordkoreanischer Soldaten
Finer sagte weiter: "Ich werde nicht auf die auf dem Tisch liegenden Optionen oder dergleichen eingehen, sondern nur sagen, dass wir sehr deutlich gemacht haben, dass das Ziel, das übergeordnete strategische Ziel, für den Rest dieser Amtszeit in Bezug auf die Ukraine darin besteht, die Ukraine so stark wie möglich zu machen." Fakt sei, dass die US-Regierung ihre politischen Entscheidungen "auf der Grundlage der Umstände" auf dem Schlachtfeld treffe. In den vergangenen Tagen und Wochen habe es eine "bedeutende russischen Eskalation" gegeben, so Finer mit Blick auf Berichte über den Einsatz nordkoreanischer Truppen.
Außenministerin Annalena Baerbock hat mit Zustimmung auf die US-Berichte reagiert. Es gehe jetzt darum, "dass die Ukrainer nicht warten müssen, dass die Rakete über die Grenze fliegt, sondern dass man die militärischen Abschussbasen, dass man von dort, wo die Rakete geflogen wird, dass man das zerstören kann", sagte die Grünen-Politikerin am Morgen. Dies sei im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts jedes Landes. Es sei schon lange bekannt, dass die Grünen, "das genauso sehen wie unsere osteuropäischen Partner, wie die Briten, wie die Franzosen und auch wie die Amerikaner".
Scholz weiß Bescheid, ändert Haltung aber nicht
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hält an seinem Nein zur Lieferung weitreichender Marschflugkörper vom Typ Taurus an die Ukraine auch nach Kursänderung der US-Regierung fest. "Ja, die Bundesregierung war darüber informiert und nein, es hat keine Auswirkungen auf die Entscheidung des Bundeskanzlers, Taurus nicht zu liefern", sagte der stellvertretende Regierungssprecher Wolfgang Büchner in Berlin.
Bislang hatte Biden der Ukraine den Einsatz von US-Waffen auf Ziele in Russland nur zur Verteidigung der russischen Offensive in der ostukrainischen Stadt Charkiw erlaubt. Hier genehmigte Washington den Einsatz des Raketenwerfersystems vom Typ Himars mit einer Reichweite von rund 80 Kilometern. Für den Einsatz des Army Tactical Missile Systems (ATACMS) galten bislang Beschränkungen. Die Ukraine bat seit längerem um die Freigabe für den Einsatz weitreichenderer US-Waffen auf russischem Territorium. Als Begründung wurde angeführt, dass dies für den Kriegsverlauf entscheidend sei.
Selenskyj deutet Kehrtwende an
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigte die Freigabe nicht direkt, deutete am Abend aber an, die Erlaubnis für den Einsatz weitreichender Waffen erhalten zu haben. In den Medien kursierten entsprechende Berichte, sagte Selenskyj in einer Ansprache. Doch Militärschläge würden nicht mit Worten geführt. "Solche Dinge werden nicht angekündigt. Die Raketen werden für sich selbst sprechen", sagte er.
US-Außenminister Antony Blinken hatte nach einem Besuch in Kiew im September bereits Andeutungen gemacht, dass es Bewegung in der Frage gebe. Man sei bereit, die militärische Unterstützung für die Ukraine nach Bedarf anzupassen und «nachzujustieren», sagte er. Offiziell hatte es in Washington bislang aber geheißen, dass es keinen Politikwechsel zu vermelden gebe.
Die Berichte über die Lockerung kamen nun kurz vor Beginn des Gipfels der Staats- und Regierungschefs führender Wirtschaftsmächte (G20) in Brasilien. Etwa zeitgleich zur Veröffentlichung landete der russische Außenminister Sergej Lawrow am Gipfelort.
Biden ist nur noch wenige Wochen im Amt. Im Januar wird er von Donald Trump abgelöst, der angekündigt hat, den Krieg in der Ukraine zu beenden. Er hat allerdings nicht erklärt, wie er das machen will. US-Militärhilfen für die Ukraine steht er skeptisch gegenüber.
Putin und sein Gefolge drohen mit Konsequenzen
Kremlchef Wladimir Putin hatte bereits mit ernsten Folgen gedroht, sollte die Ukraine die gelieferten westlichen Waffen mit großer Reichweite künftig gegen russisches Staatsgebiet einsetzen dürfen. Nach Darstellung Putins läuft eine solche Freigabe auf eine direkte Konfrontation Russlands mit dem Westen hinaus und kommt einer Kriegsbeteiligung gleich. Putin, der vor mehr als zwei Jahren den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hatte, wirft dem Westen fortwährende Eskalation vor.
Der russische Außenpolitiker Leonid Sluzki hat vor einer Eskalation im Ukraine-Krieg gewarnt. "US-Raketenangriffe tief in russischen Gebieten werden unweigerlich zu einer größeren Eskalation führen, die droht, noch weitaus ernstere Folgen nach sich zu ziehen", sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma laut Agentur Tass. Sollte sich die Information bestätigen, sagte Sluzki, dann werde Russland aufs Schärfste reagieren. US-Präsident Joe Biden habe entschieden, sich als "Blutiger Joe" aus dem Amt zu verabschieden und so in die Geschichte einzugehen. Biden mache es seinem designierten Nachfolger Donald Trump nicht nur schwerer, den Krieg in der Ukraine zu beenden, sondern auch eine globale Konfrontation zu verhindern.