Politik

"Anschlag in Solingen den Boden bereitet": Experten zerpflücken deutsche Abschiebepraxis

Im Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags hat die Aufarbeitung des Terroranschlags von Solingen begonnen. Welche Versäumnisse und Mängel in der Asyl- und Abschiebepraxis haben die Attacke begünstigt? Sachverständige stellen der deutschen Abschiebepraxis ein vernichtendes Urteil aus.
17.01.2025 13:14
Aktualisiert: 17.01.2025 13:14
Lesezeit: 2 min

In Nordrhein-Westfalen hat die politische Aufarbeitung des Solinger Anschlags vom 23. August 2024 begonnen. Mehrere Sachverständige haben im Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags zum Terror von Solingen gravierende Missstände bei Asylverfahren und Abschiebungen benannt.

Der Leipziger Bundesverwaltungsrichter und Düsseldorfer Rechtsprofessor Martin Fleuß erklärte, dass Mängel im deutschen sowie europäischen Migrationsrecht, neben anderen Faktoren, „den Boden für den Anschlag von Solingen bereitet“ hätten. Diese Defizite könnten „jederzeit für die Verübung weiterer Anschläge vergleichbarer Art ausgenutzt werden.“

Sachverständige kritisieren Abschiebepraxis: "Kontraproduktiv, Asylbewerber dezentral unterzubringen"

Der Konstanzer Rechtsprofessor Daniel Thym nannte beim Eintritt des Ausschusses in die Beweisaufnahme zahlreiche Hürden für Rückstellungen. So sei es kontraproduktiv, Asylbewerber dezentral unterzubringen, da dies den Zugriff der Behörden erschwere, sagte der Europa- und Völkerrechtsexperte.

Das Problem verschärfe sich, wenn Asylsuchende in kleinen Einheiten untergebracht würden. „Warum sollten Asylbewerber eine Ausreisepflicht ernst nehmen, wenn der Staat bereits aktiv sich um ihr Bleiben kümmert?“, fragte Thym. Fleuß hingegen sieht in der dezentralen Unterbringung auch Vorteile.

Experten zerpflücken strukturelle Mängel im Abschiebesystem - "Das ist absurd"

Das mutmaßlich islamistisch motivierte Messerattentat vom vergangenen August in Solingen lenkte aus Thyms Sicht die Aufmerksamkeit auf strukturelle Mängel bei den sogenannten Dublin-Überstellungen an andere europäische Staaten. In vielen Fällen gebe es einen „kalten Boykott des Dublin-Systems durch die Ersteinreiseländer“, stellte er fest. „Dublin kann nicht funktionieren, weil das System von Designfehlern durchzogen ist“, erklärte er. „Überall gibt es Sand im Getriebe – auch in NRW“.

Der Migrationsforscher Dietrich Thränhardt, der früher in Münster lehrte, stellte fest, dass trotz des Drängens von Kommunen und Bundesländern die Asylverfahren in Deutschland in den letzten Jahren nicht beschleunigt worden seien. Thym wies darauf hin, dass das Asylverfahren und ein Klageverfahren gegen den Bescheid im Durchschnitt mehr als drei Jahre dauerten, bevor eine theoretische Möglichkeit zur Abschiebung bestünde – eine Abschiebung in der Praxis jedoch oft scheitere. „Das ist absurd“, sagte der Jurist.

Anschlag von Solingen: Attentäter hätte nach EU-Asylregeln nach Bulgarien abgeschoben werden sollen

Am 23. August des vergangenen Jahres tötete der Syrer auf einem Stadtfest in Solingen drei Menschen mit einem Messer und verletzte acht weitere. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zu dem Anschlag. Der Untersuchungsausschuss soll nun den Anschlag politisch aufarbeiten. Dabei wird auch Fehlverhalten und Versäumnisse der Landesregierung sowie beteiligter Behörden untersucht. Im Fokus stehen unter anderem strukturelle Mängel bei Rückführungen, Dublin-Überstellungen, Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam.

Der mutmaßliche Attentäter, der Syrer Issa Al H., hätte eigentlich bereits 2023 nach den EU-Asylregeln nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Diese Abschiebung scheiterte jedoch, unter anderem, weil er in seiner Flüchtlingsunterkunft nicht angetroffen wurde.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Panorama
Panorama Feiertage 2026: Alle Termine, Brückentage und Regeln – wie Sie am besten profitieren
13.12.2025

Die Feiertage 2026 liegen günstig und ermöglichen viele lange Wochenenden. Wer früh plant, kann deshalb Brückentage optimal nutzen....

DWN
Immobilien
Immobilien Immobilienrendite: Es lohnt sich wieder zu vermieten
13.12.2025

Eine Mietimmobilie als Kapitalanlage kann wieder eine interessante Investition sein. Doch nicht überall macht das Sinn. Wo sich das...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Prominenter China-Experte zeichnet düsteres Bild für Europa: „Es wird ziemlich schlimm“
13.12.2025

Europa wähnt sich sicher, doch die nächste ökonomische Erschütterung rollt bereits heran. Der prominente China-Analyst Dan Wang...

DWN
Finanzen
Finanzen Falsche Gehaltsgruppe: Was kann ich tun, wenn meine Gehaltseinstufung nicht zum Tarifvertrag passt?
13.12.2025

Viele Beschäftigte merken erst spät, dass ihre Gehaltsgruppe im Tarifvertrag nicht zur Arbeit passt. Das kann monatlich bares Geld...

DWN
Technologie
Technologie Lidl krempelt den Einkauf um: Warum die Scan-and-Go-Technologie den Handel umdreht
13.12.2025

Litauens Handelsketten treiben den digitalen Umbruch voran. Das Selbstscansystem Scan & Go kommt nun in die Lidl Filialen. Bisher wurde...

DWN
Politik
Politik Billigfluglinien bereiten sich bereits auf Flüge in die Ukraine vor
13.12.2025

Wizz Air, Ryanair und EasyJet bringen sich in Stellung. Europas Billigfluglinien planen bereits ihre Rückkehr in die Ukraine und rechnen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Europa-Krise vertieft sich: JPMorgan warnt vor dramatischen Folgen für Amerika
13.12.2025

Die Warnungen von JPMorgan Chef Jamie Dimon treffen Europa in einer Phase wachsender politischer Unsicherheit. Seine Kritik an der...

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Textilrecycling: Wie eine schwedische Gründerin die Branche unter Druck setzt
12.12.2025

Ein junges schwedisches Unternehmen behauptet, die nachhaltigste Lösung für das Textilrecycling gefunden zu haben. Die Methode nutzt CO2,...