In Nordrhein-Westfalen hat die politische Aufarbeitung des Solinger Anschlags vom 23. August 2024 begonnen. Mehrere Sachverständige haben im Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags zum Terror von Solingen gravierende Missstände bei Asylverfahren und Abschiebungen benannt.
Der Leipziger Bundesverwaltungsrichter und Düsseldorfer Rechtsprofessor Martin Fleuß erklärte, dass Mängel im deutschen sowie europäischen Migrationsrecht, neben anderen Faktoren, „den Boden für den Anschlag von Solingen bereitet“ hätten. Diese Defizite könnten „jederzeit für die Verübung weiterer Anschläge vergleichbarer Art ausgenutzt werden.“
Sachverständige kritisieren Abschiebepraxis: "Kontraproduktiv, Asylbewerber dezentral unterzubringen"
Der Konstanzer Rechtsprofessor Daniel Thym nannte beim Eintritt des Ausschusses in die Beweisaufnahme zahlreiche Hürden für Rückstellungen. So sei es kontraproduktiv, Asylbewerber dezentral unterzubringen, da dies den Zugriff der Behörden erschwere, sagte der Europa- und Völkerrechtsexperte.
Das Problem verschärfe sich, wenn Asylsuchende in kleinen Einheiten untergebracht würden. „Warum sollten Asylbewerber eine Ausreisepflicht ernst nehmen, wenn der Staat bereits aktiv sich um ihr Bleiben kümmert?“, fragte Thym. Fleuß hingegen sieht in der dezentralen Unterbringung auch Vorteile.
Experten zerpflücken strukturelle Mängel im Abschiebesystem - "Das ist absurd"
Das mutmaßlich islamistisch motivierte Messerattentat vom vergangenen August in Solingen lenkte aus Thyms Sicht die Aufmerksamkeit auf strukturelle Mängel bei den sogenannten Dublin-Überstellungen an andere europäische Staaten. In vielen Fällen gebe es einen „kalten Boykott des Dublin-Systems durch die Ersteinreiseländer“, stellte er fest. „Dublin kann nicht funktionieren, weil das System von Designfehlern durchzogen ist“, erklärte er. „Überall gibt es Sand im Getriebe – auch in NRW“.
Der Migrationsforscher Dietrich Thränhardt, der früher in Münster lehrte, stellte fest, dass trotz des Drängens von Kommunen und Bundesländern die Asylverfahren in Deutschland in den letzten Jahren nicht beschleunigt worden seien. Thym wies darauf hin, dass das Asylverfahren und ein Klageverfahren gegen den Bescheid im Durchschnitt mehr als drei Jahre dauerten, bevor eine theoretische Möglichkeit zur Abschiebung bestünde – eine Abschiebung in der Praxis jedoch oft scheitere. „Das ist absurd“, sagte der Jurist.
Anschlag von Solingen: Attentäter hätte nach EU-Asylregeln nach Bulgarien abgeschoben werden sollen
Am 23. August des vergangenen Jahres tötete der Syrer auf einem Stadtfest in Solingen drei Menschen mit einem Messer und verletzte acht weitere. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zu dem Anschlag. Der Untersuchungsausschuss soll nun den Anschlag politisch aufarbeiten. Dabei wird auch Fehlverhalten und Versäumnisse der Landesregierung sowie beteiligter Behörden untersucht. Im Fokus stehen unter anderem strukturelle Mängel bei Rückführungen, Dublin-Überstellungen, Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam.
Der mutmaßliche Attentäter, der Syrer Issa Al H., hätte eigentlich bereits 2023 nach den EU-Asylregeln nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Diese Abschiebung scheiterte jedoch, unter anderem, weil er in seiner Flüchtlingsunterkunft nicht angetroffen wurde.