Drei Tage nach der historischen Wahlniederlage der SPD bei der Bundestagswahl hat die neue Fraktion den Parteivorsitzenden Lars Klingbeil zu ihrem Chef gewählt. Der 47-jährige Niedersachse erhielt 85,6 Prozent der Stimmen - ein Ergebnis, das deutlich unter den Wahlergebnissen seines Vorgängers Rolf Mützenich bei seinen drei Wahlen zum Fraktionsvorsitz seit 2019 liegt (94,7, 97,1 und 97,7 Prozent).
Klingbeils Aufstieg zur zentralen SPD-Figur
Mit der Wahl zum Fraktionschef steigt Klingbeil zur zentralen Figur der SPD auf und wird die Partei in die Verhandlungen mit der Union über eine mögliche Regierungskoalition führen. Offen bleibt, ob er nach erfolgreichen Gesprächen über eine schwarz-rote Regierung weiterhin Fraktionsvorsitzender bleibt oder in die Bundesregierung wechselt - unter Umständen als Stellvertreter des Kanzlers. Für diesen Posten gibt es jedoch einen Mitbewerber: Verteidigungsminister Boris Pistorius, der laut Umfragen als der beliebteste Politiker Deutschlands gilt.
Parteistratege wirft Klingbeil "Machtstreben" vor Dass Klingbeil nach dem dramatischen Wahldebakel seinen Einfluss ausbaut, sorgt für Diskussionen in der Partei. Juso-Chef Philipp Türmer äußerte deutliche Kritik: "Durch dieses Vorgehen entstand der fatale Eindruck: Einer der Hauptverantwortlichen für das schlechte Abschneiden greift nun nach dem Fraktionsvorsitz", sagte er kürzlich dem Spiegel.
Wahlkampfstratege kritisiert Klingbeil: "Bonapartismus" statt "Nachdenken und Selbstreflexion"
Ähnlich äußerte sich der frühere Wahlkampfstratege Matthias Machnig. Er hätte erwartet, dass die Parteiführung sich in dieser Situation erst einmal mit "Nachdenken und Selbstreflexion statt übereiltem Handeln" befassen würde. "Doch stattdessen hat Klingbeil das politische Vakuum in der Wahlnacht für sich genutzt. Das ist eine Art Machtergreifung oder sogar Bonapartismus." Der Begriff Bonapartismus bezieht sich auf eine autoritäre Herrschaftsform, die nach dem französischen Kaiser Napoleon Bonaparte benannt ist.
SPD mit schlechtestem Wahlergebnis seit 138 Jahren Die SPD ist bei der Wahl von 25,7 auf 16,4 Prozent gefallen und nur noch drittstärkste Kraft hinter der Union und der AfD. Es handelt sich um das schlechteste Ergebnis der ältesten Partei Deutschlands bei einer Bundestagswahl – und sogar um das schwächste Resultat bei nationalen Parlamentswahlen seit 138 Jahren. Die Fraktion verkleinert sich von 207 auf 120 Abgeordnete.
Vorwärts statt Rückzug Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte bereits nach den ersten Hochrechnungen signalisiert, dass er sich nicht an der Bildung der neuen Regierung beteiligen werde. In der Vergangenheit haben Parteivorsitzende in ähnlichen Situationen ihren Rücktritt erklärt. Doch Klingbeil entschied sich für einen anderen Weg: Er stellte sich an die Spitze der Fraktion und sicherte sich noch am Wahlabend die Unterstützung des Parteipräsidiums. Einen Tag später wurde er vom Fraktionsvorstand einstimmig als Kandidat nominiert. Dass er bei der Wahl unter 90 Prozent bleibt, wird als Rückschlag gewertet.
Mützenich tritt zurück: Jüngere müssen "Partei voranbringen"
Auch Nahles hatte beide Ämter inne Klingbeil, der am Wahltag 47 Jahre alt wurde, hat eine bemerkenswerte Parteikarriere hinter sich. Seit 2009 ist er Mitglied des Bundestages, 2017 wurde er Generalsekretär der SPD, und nach dem Wahlsieg 2021 übernahm er gemeinsam mit Saskia Esken den Parteivorsitz. Die Verbindung von Partei- und Fraktionsvorsitz gab es bei der SPD zuletzt 2018/19 mit Andrea Nahles. Ihre Amtszeit endete abrupt: Im Juni 2019 trat sie nach einem katastrophalen Europawahlergebnis unter starkem Druck der Fraktion zurück.
Mützenich: Jüngere müssen "die Partei voranbringen" Der 65-jährige Rolf Mützenich stand der Fraktion nach Nahles' Rücktritt fünf Jahre und fünf Monate vor. Seinen Rückzug begründete er am Wahlabend damit, dass nun "jüngere Kräfte die Partei voranbringen und neue Impulse setzen" sollten.
Von seinem Nachfolger erwartet Mützenich, dass er die SPD "mit klarer Entschlossenheit, deutlicher Führung und fester Überzeugung" in die Verhandlungen mit der Union führt. Das Team der SPD für die Sondierungsgespräche soll spätestens bis Donnerstag stehen.