Die achte Zinssenkung in Folge steht bevor
Am 5. Juni richtet sich der Blick erneut nach Frankfurt: Nach der Juni-Sitzung der Europäischen Zentralbank (EZB) wird Präsidentin Christine Lagarde auf der Pressekonferenz die geldpolitischen Beschlüsse erläutern. Die Erwartungen sind klar – und dennoch ist vieles ungewiss. Das berichtet das Nachrichtenportal Finance.si.
Nahezu einhellig rechnen Ökonomen mit einer weiteren Lockerung der Geldpolitik: Um 0,25 Prozentpunkte soll der Leitzins gesenkt werden, womit der maßgebliche Einlagesatz der EZB von derzeit 2,25 auf 2,00 Prozent sinken würde. Es wäre die achte Zinssenkung im laufenden Lockerungszyklus – insgesamt würde der Zinssatz damit um zwei volle Prozentpunkte reduziert.
Die Märkte haben diese Erwartung bereits eingepreist. Analysten verweisen darauf, dass Investoren ihre Positionen entsprechend angepasst haben – markante Kursreaktionen bleiben daher in der Regel aus.
Inflationssorgen als zentrales Argument
Hintergrund der geldpolitischen Lockerung ist vor allem die Sorge vor einer zu niedrigen Inflation. Die EZB verfolgt nur ein Mandat: Preisstabilität im Euroraum zu sichern – definiert als eine Inflationsrate von mittelfristig rund zwei Prozent.
Doch die aktuellen Daten sprechen eine andere Sprache: Im Mai sank die Gesamtinflation laut erster Eurostat-Schätzung auf 1,9 Prozent – nach 2,2 Prozent im April. Auch die Kerninflation (ohne Energie und Nahrungsmittel) ging zurück, von 2,7 auf 2,3 Prozent.
Zwar orientiert sich die EZB nicht an monatlichen Schwankungen, sondern am mittelfristigen Trend – doch die Zahlen wecken Erinnerungen an vergangene Deflationsphasen: 2009 und 2015 musste die EZB gegen eine gefährlich niedrige Inflation ankämpfen. Damals senkte Mario Draghi die Einlagezinsen erstmals in den negativen Bereich – mit weitreichenden Folgen für Sparer, Investoren und Finanzmärkte.
Die Gefahr: deflationäre Spirale
Deflation ist kein harmloses Phänomen. Sie signalisiert oft strukturelle Probleme in der Wirtschaft: Sinkende Preise führen zu schrumpfenden Unternehmensgewinnen, geringeren Investitionen, Lohnzurückhaltung – ein Teufelskreis aus schwacher Nachfrage und wirtschaftlicher Stagnation.
Die aktuellen Inflationsrückgänge werden von Ökonomen unter anderem auf die Aufwertung des Euro sowie auf fallende Energiepreise zurückgeführt. Beides steht im Kontext wachsender geopolitischer Spannungen und einer US-Zollpolitik, die zunehmend protektionistische Züge annimmt.
Stichwort Vorsicht: EZB könnte auch abwarten
Doch nicht alle plädieren für eine sofortige Zinssenkung. Die wirtschaftliche Entwicklung im Euroraum zeigt sich zuletzt robuster als erwartet. Während das US-BIP im ersten Quartal auf Jahresbasis um 0,2 Prozent schrumpfte, wuchs das BIP im Euroraum um 0,3 Prozent gegenüber dem Vorquartal und um 0,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Der österreichische Notenbankchef Robert Holzmann – sonst als geldpolitischer Falke bekannt – rief dazu auf, mit weiteren Zinsschritten bis mindestens September zu warten. Die Unsicherheit rund um die US-Außenhandelspolitik sei derzeit zu groß.
Was kommt nach dem Juni? Märkte rechnen mit weiterer Lockerung
Obwohl eine Zinssenkung im Juni als nahezu sicher gilt, sind die weiteren Schritte der EZB weniger klar. Ökonomen gehen aktuell davon aus, dass bis Ende des Jahres eine weitere Senkung um 0,25 Prozentpunkte erfolgen könnte. Damit würde der Einlagesatz der EZB bei 1,75 Prozent liegen – 2,25 Punkte tiefer als zu Beginn der geldpolitischen Lockerung.
Frische EZB-Prognosen: Senkung wahrscheinlich
Am Donnerstag werden außerdem die aktualisierten Konjunkturprognosen der EZB veröffentlicht. Analysten erwarten eine leichte Senkung der bisherigen Schätzungen für Inflation und Wirtschaftswachstum.
Im März hatte die EZB für 2024 noch eine Inflation von 2,3 Prozent prognostiziert – nach 2,1 Prozent im Dezember. Für 2025 wurde ein BIP-Wachstum von 0,9 Prozent erwartet, zuvor lag die Schätzung bei 1,1 Prozent.
Das neue Szenario könnte durch schwächere Energiekosten, die Stärke des Euro und potenzielle Umleitungen globaler Lieferketten infolge von Trumps Handelskrieg mit China geprägt sein. Gleichzeitig dürften staatliche Konjunkturmaßnahmen – etwa der deutsche 500-Milliarden-Investitionsfonds oder Kaufanreize für E-Autos – stabilisierend wirken.
Lagarde im Fokus – auch abseits der Geldpolitik
Neben der Zinsfrage dürfte Lagarde auf der Pressekonferenz auch zu ihrer persönlichen Zukunft befragt werden. Medienberichten zufolge – u.a. in der Financial Times und bei Politico – steht sie als mögliche Nachfolgerin von Klaus Schwab an der Spitze des Weltwirtschaftsforums (WEF) im Gespräch. Schwab musste nach Vorwürfen über finanzielle Unregelmäßigkeiten und mutmaßliches Fehlverhalten seinen Posten räumen.
Ob Lagarde ihren bis 2027 laufenden EZB-Vertrag voll erfüllen wird oder womöglich nach Davos wechselt – auch das könnte am Donnerstag in Frankfurt zur Sprache kommen. Die Richtung ist offen – nicht nur bei den Zinsen.