Politik

Deutschland steht vor dem historischen Aufschwung – aber es gibt ein großes Problem

Mit der faktischen Abschaffung der Schuldenbremse beginnt Deutschland eine neue Ära – mit enormen Investitionen in Militär, Infrastruktur und Klima. Doch Ökonomen warnen: Die Rechnung könnte ganz Europa treffen. Denn wenn selbst Berlin die Regeln bricht, wer soll sich dann noch daran halten?
21.06.2025 08:39
Lesezeit: 3 min

Ein „historischer Schritt“ mit Sprengkraft

Was CDU-Chef Friedrich Merz im März durchsetzte, wird von internationalen Medien als „gamechanger“ und „bazooka“ gefeiert: Der Verzicht auf die strikte Einhaltung der Schuldenbremse markiert einen historischen Bruch in der deutschen Finanzpolitik – und sendet ein Signal weit über Berlin hinaus. Denn Deutschland war bislang das Rückgrat der europäischen Stabilitätskultur.

In einem taktisch raffinierten Schachzug wurde die Aufweichung noch durch die alte Bundestagsmehrheit abgesegnet – bevor rechte und linke Oppositionsparteien wie AfD oder Die Linke bei Neuwahlen ihre Vetomacht hätten einsetzen können.

Der neue Kurs: Verteidigungsausgaben über 1 Prozent des BIP sollen künftig von der Schuldenbremse ausgenommen werden. Zudem wurde ein schuldenfinanzierter Sonderfonds in Höhe von 500 Milliarden Euro beschlossen, der in Infrastruktur und Klimawandel fließen soll.

„Deutschland erwachte aus einem langen, pazifistischen Schlaf“

Für den renommierten Ökonomen Jeromin Zettelmeyer, Direktor der Brüsseler Denkfabrik Bruegel, ist dieser Schritt ein notwendiger Befreiungsschlag. Er sieht die Entscheidung als logische Konsequenz der Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz am 27. Februar 2022.

„Deutschland erwachte aus einem langen, pazifistischen Schlaf – doch danach folgte die Enttäuschung, dass die Regierung nicht liefern konnte“, erklärt Zettelmeyer. Der Wille zur sicherheitspolitischen Neuausrichtung war da – aber es fehlte am Geld und an der Koalitionsdisziplin. Der Versuch, ungenutzte Corona-Mittel umzufunktionieren, scheiterte am Bundesverfassungsgericht. Die Rezession 2023/24 tat ihr Übriges.

90 bis 100 Prozent Schuldenquote? Für Deutschland akzeptabel

Laut Zettelmeyer wird sich die deutsche Staatsschuldenquote von derzeit rund 62 Prozent auf etwa 90 bis 100 Prozent des BIP erhöhen, wenn die neuen Kreditrahmen ausgeschöpft werden. Doch er gibt sich gelassen:

„90 bis 100 Prozent sind für Deutschland vertretbar“, so der Ökonom.

Die Sonderregelung für das Militär sei verantwortbar, da sie weniger zur konsumtiven Ausweitung als zur strategischen Stärkung genutzt werde. Auch bleibe die Schuldenbremse in anderen Bereichen intakt.

Zettelmeyer betont zudem, dass das neue Modell „keine Einladung zum Selbstbedienungsbuffet“ sei, da Zinskosten im normalen Haushalt abgebildet werden müssten.

Doch es gibt ein „fürchterliches Dilemma“

Trotz aller positiven Effekte schlägt Zettelmeyer Alarm. Denn Deutschland verstößt mit seiner neuen Linie gegen die erst 2023 reformierten EU-Fiskalregeln, die eine Schuldenquote von 60 Prozent und ein Defizitlimit von 3 Prozent vorsehen.

„Das ist ein fürchterliches Dilemma. Doch wenn man der deutschen Debatte zuhört, bekommt man nicht den Eindruck, dass sich die Politiker ernsthaft Sorgen machen“, warnt Zettelmeyer.

Schon jetzt verbrauche das neue Verteidigungsbudget die komplette Flexibilität, die die EU für Sonderausgaben eingeräumt habe. Für Infrastruktur- oder Klimainvestitionen bleibe im Rahmen der Regeln schlicht kein Spielraum mehr.

Brüssels Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel

Das große Risiko: Wenn Deutschland als jahrelanger Mahner plötzlich selbst die Regeln bricht, verlieren diese ihre Legitimität. Zettelmeyer erinnert an die Nullerjahre, als Frankreich und Deutschland die Defizitregeln ignorierten – und damit das gesamte Regelwerk aushöhlten.

„Meine Sorge ist, dass wir eine Wiederholung dessen erleben könnten, was Mitte der 2000er geschah“, sagt er. Damals verlor die EU ihre fiskalische Glaubwürdigkeit – heute könnte es noch schlimmer kommen, wenn die Kommission ebenfalls mitspielt.

EU-Wirtschaftskommissar Valdis Dombrovskis hatte zuletzt angedeutet, dass ein deutsches Wachstum den zusätzlichen Schuldenaufbau rechtfertigen könne. Doch Zettelmeyer widerspricht: „Ich glaube nicht im Geringsten, dass das stimmt.“

„Man muss die Alarmglocke läuten“

Zettelmeyer betont, dass er die Investitionsoffensive grundsätzlich unterstützt – aber nur bei ehrlicher Kommunikation. „Es geht nicht darum, dass ich meine, Deutschland solle nicht investieren. Ganz im Gegenteil – das müssen sie sogar. Aber sie dürfen auch nicht so tun, als sei das mit den EU-Regeln vereinbar – als würde es keinen Konflikt geben.“

„Sie müssen eine bessere Lösung finden“, fordert der Ökonom. Es brauche eine Reform, keine Verdrängung.

Neue Regel: 90 statt 60 Prozent?

Eine Lösung könnte laut Zettelmeyer darin bestehen, das EU-Schuldenziel von 60 auf 90 Prozent des BIP anzuheben – sowie einige Schutzmechanismen, etwa Schuldengrenzen bei neuen Investitionsfonds, zu flexibilisieren.

„Ich meine, das wäre akzeptabel – sofern es sich um die richtigen Investitionen handelt.“

Dänemark: Ratspräsidentschaft in der Zwickmühle

Besonders brisant: Ab dem 1. Juli 2025 übernimmt Dänemark die EU-Ratspräsidentschaft – und wird damit voraussichtlich als erstes Land mit dem deutschen Dilemma konfrontiert.

„Die dänische Ratspräsidentschaft wird wirklich interessant. Und ziemlich schwierig“, so Zettelmeyer.

Dänemark, traditionell Mitglied der „Sparfraktion“, hat sich unter Premierministerin Mette Frederiksen zuletzt stärker von der Schuldenorthodoxie gelöst. Dennoch bleibt der politische Druck hoch – insbesondere in Anbetracht eines möglichen Handelskonflikts mit den USA, der am 9. Juli eskalieren könnte.

Deutschlands Investitionskurs sendet ein gefährliches Signal an Europa

Mit der Aufweichung der Schuldenbremse beschreitet Deutschland einen Kurs, der fiskalisch notwendig, aber politisch explosiv ist. Denn was als Investitionsoffensive verkauft wird, könnte sich als Türöffner für eine neue Phase der Regel-Erosion in der EU entpuppen.

Ökonomen wie Jeromin Zettelmeyer appellieren an die Verantwortlichen, nicht länger zu verdrängen. Europa braucht strategische Investitionen – aber auf Basis realistischer, belastbarer Regeln. Wird das Problem ignoriert, riskiert Brüssel nicht nur seine Glaubwürdigkeit, sondern eine Neuauflage der Schuldenkrise. Und diesmal könnte sie im Zentrum Europas beginnen.

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