Europa steht erneut vor einer strategischen Bewährungsprobe. Während die USA ihre weltweite Truppenpräsenz überprüfen, warten die europäischen Verbündeten gespannt auf Washingtons Entscheidung zur künftigen Militärpräsenz auf dem Kontinent. Zwar wurde auf dem NATO-Gipfel im Juni in Den Haag ein klares Bekenntnis zu höheren Verteidigungsausgaben abgegeben – vor allem auf Drängen von US-Präsident Donald Trump. Doch die eigentliche Frage lautet: Wird das genügen, um die Amerikaner zum Bleiben zu bewegen?
Ein Abzug zumindest eines Teils der rund 85.000 in Europa stationierten US-Soldaten gilt als wahrscheinlich. Die Entscheidung darüber wird in den kommenden Monaten erwartet – und dürfte sich als Lackmustest für den transatlantischen Zusammenhalt erweisen. Die Sorge vor einem russischen Angriff bleibt, insbesondere für den Fall, dass sich der Krieg in der Ukraine abschwächt.
„Es wird keine Überraschungen geben“, versicherte Matthew Whitaker, US-Botschafter bei der NATO. Die strategische Architektur Europas bleibe intakt, so sein Versprechen. Doch wie viel Gewicht solche Worte tatsächlich haben, bleibt offen – gerade unter einem Präsidenten Trump, der sich in sicherheitspolitischen Fragen als unberechenbar erwiesen hat.
Strategischer Wandel: Europa bleibt vorsichtig optimistisch
Obwohl Trumps Rückkehr ins Weiße Haus viele NATO-Staaten zunächst verunsicherte, zeigen sich europäische Diplomaten inzwischen vorsichtig optimistisch. Die Stimmung sei hoffnungsvoll, erklärte ein hoher Beamter gegenüber AFP. Gleichzeitig räumen viele ein, dass eine Reduzierung der US-Truppen kaum zu verhindern sein wird.
Derzeit schwankt die Zahl amerikanischer Soldaten in Europa zwischen 75.000 und 105.000. Der mögliche Abzug betrifft vor allem jene Einheiten, die unter Präsident Biden nach dem russischen Angriff auf die Ukraine aufgestockt wurden. Zwar gehen die meisten Beobachter nicht von einem radikalen Bruch aus. Doch selbst ein schrittweiser Rückzug könnte spürbare Folgen für Europas Sicherheitsarchitektur haben.
Denn nicht nur Soldaten sind betroffen. Auch hochmoderne Ausrüstung wie Luftabwehrsysteme, Raketen und Satellitenüberwachung würde in Frage gestellt. Einen adäquaten Ersatz dafür kurzfristig bereitzustellen, sei für viele europäische Staaten kaum realistisch, so Experten.
„Die europäischen Investitionen in Verteidigungsfähigkeit werden erst in Jahren wirksam sein“, warnt Ian Lesser vom German Marshall Fund. Deshalb sei der Zeitpunkt entscheidend – ein Signal der Schwäche könne zum falschen Moment kommen.
Deutschlands Rolle: Mehr Verantwortung, höhere Kosten
Für Deutschland wäre ein US-Truppenabzug sicherheitspolitisch wie wirtschaftlich von erheblicher Tragweite. Neben der militärischen Schutzfunktion geht es um strategische Infrastruktur: Deutschland beherbergt zahlreiche US-Stützpunkte, darunter Ramstein, ein zentraler NATO-Knotenpunkt. Ein Rückbau würde die Logistik der Allianz empfindlich treffen – und zu milliardenschweren Investitionen zwingen, um Lücken zu schließen.
Zudem könnten lokale Wirtschaftsregionen unter einem Rückzug leiden: Rund 35.000 US-Soldaten sind allein in Deutschland stationiert, mit weitreichenden Effekten auf Arbeitsplätze, Auftragsvergabe und Immobilienmärkte. Bereits während Trumps erster Amtszeit hatte Berlin eine Truppenreduktion abgewehrt – doch diesmal könnte der politische Widerstand in Washington schwächer sein.
Die Bundesrepublik steht damit vor der doppelten Aufgabe, in die eigene Verteidigung zu investieren und zugleich die wirtschaftlichen Folgen eines US-Rückzugs abzufedern. In Zeiten wachsender geopolitischer Unsicherheit wäre das ein finanzieller und sicherheitspolitischer Kraftakt.
NATO-Zusammenhalt auf dem Prüfstand
Während Russland weiterhin keine Anzeichen für Kompromissbereitschaft zeigt, könnte ein amerikanischer Truppenabzug von Moskau als strategische Einladung missverstanden werden. Die Sorge: Ein Rückzug der USA aus Europa – auch nur partiell – könnte Putins Kalkül verändern.
Trotz diplomatischer Beteuerungen, dass die NATO zusammensteht, bleibt der Faktor Trump unberechenbar. Wie stark seine Entscheidungen sicherheitspolitisch oder wirtschaftlich motiviert sind, ist offen. Auch andere Themen, wie die stockenden Handelsgespräche zwischen Washington und Brüssel, könnten den sicherheitspolitischen Schulterschluss belasten.
Ein europäischer Diplomat bringt es auf den Punkt: „Was, wenn wir alle falsch liegen und der Truppenabbau erst 2026 beginnt? Momentan gibt es nicht viel, worauf man sich verlassen kann.“
Die Botschaft zwischen den Zeilen ist klar: Europa muss sich auf weniger Amerika einstellen – und deutlich mehr Eigenverantwortung übernehmen.