Nebenwerte: Theorie der vernachlässigten Unternehmen
Das „Effekt vernachlässigter Unternehmen“ ist eine Börsentheorie, die so alt ist wie die Finanzmärkte selbst – doch türkische Forscher legen nahe, dass sie ein vielversprechender Weg sein könnte, um Renditen zu erzielen.
Investieren ist voller Theorien, die verschiedene Phänomene oder Marktanomalien erklären sollen. Eine davon ist der Effekt der „vernachlässigten Unternehmen“ (engl. neglected firm effect/neglected stock). Die Theorie besagt, dass Unternehmen, die vom Markt und auch von Analysten weitgehend übersehen werden, ein erhebliches Renditepotenzial bergen. Der Grund: Kleinere Firmen unterliegen nicht der gleichen detaillierten Analyse und Kontrolle wie Blue Chips. Das bedeutet, sie können unterbewertet sein, weil es schwerer ist, sich ein vollständiges Bild von ihnen zu machen. Clevere Investoren können diese Informationslücke ausnutzen. Wer eigene, gründliche Analysen betreibt, kann verborgene Werte entdecken. Sobald der Markt diese Werte erkennt, steigen die Kurse oft sprunghaft, was überdurchschnittliche Gewinne ermöglicht.
Small Caps: Beispiele aus Polen
Analysten von DM BOŚ veröffentlichten vor kurzem Empfehlungen für die Aktien von Atrem und Eurotel im Rahmen des Programms zur Unterstützung der Analystenabdeckung (PWPA). Beide Aktien reagierten positiv auf die neuen Einschätzungen – besonders deutlich Eurotel. Am 4. September stieg der Kurs um über 20 Prozent.
Eurotel vertreibt Dienstleistungen und Geräte im Auftrag von Mobilfunkanbietern und Smartphone-Herstellern. Potenzial sieht der Experte insbesondere in der langjährigen Markterfahrung (seit 1996), engen Beziehungen zu großen Betreibern wie T-Mobile und Play sowie in der Fähigkeit, rasch auf Marktveränderungen zu reagieren. Eine deutliche Ergebnisverbesserung wird noch für dieses Jahr erwartet.
Ein ähnlicher Fall war Relpol, ein Hersteller elektromagnetischer Relais, dessen Kurs nach einer Kaufempfehlung im Rahmen des PWPA um mehr als 15 Prozent in wenigen Tagen stieg. Derzeit stehen mit Izostal und Makarony Polskie zwei weitere Firmen im Fokus der Analysten. Izostal liefert Rohre für die Gas-, Wärme- und Wasserwirtschaft in Mittel- und Osteuropa. Im ersten Halbjahr 2025 verdoppelte sich der Umsatz, der Nettogewinn lag jedoch nei nur knapp 2 Millionen Euro – ein Hinweis auf niedrige Margen in der Branche. Makarony Polskie ist ein Lebensmittelhersteller, der über 90 Prozent seines Umsatzes im Inland erzielt. Der Absatz ging im ersten Quartal zurück, ohne dass Gründe genannt wurden. Neue Analystenberichte von BM Santander (Makarony) und Ipopema (Izostal) werden Ende des Monats erwartet.
Wissenschaftliche Forschung zur Theorie
Die Theorie der vernachlässigten Unternehmen wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Manche Experten argumentieren, der Effekt könne verschwunden sein, da Investoren gelernt haben, ihn auszunutzen. Forscher der Universität Istanbul zeigten jedoch 2022, dass eine Strategie, die Aktien vernachlässigter Unternehmen kauft und gleichzeitig beliebte Aktien verkauft, in 20 untersuchten Ländern eine durchschnittliche monatliche Überrendite („Alpha“) von 0,34 Prozent generiert.
Andererseits kamen Forscher der Universität Michigan 2011 zu dem Ergebnis, dass die höheren Renditen eher eine Kompensation für die zusätzlichen Informationskosten und das Risiko geringerer Datenverfügbarkeit sind. Für Investoren bedeutet das: Der Ansatz ist keineswegs ein sicherer Schlüssel zum Erfolg, kann sich aber lohnen – wie das Beispiel Atrem zeigt, dessen Aktienkurs vor einer breiten Marktbeachtung um über 300 Prozent stieg.
Nebenwerte auch hierzulande im Fokus
Auch auf dem deutschen Aktienmarkt gibt es zahlreiche Beispiele für vernachlässigte Unternehmen, die erhebliches Potenzial bergen. Während Blue Chips im DAX regelmäßig im Rampenlicht stehen, bleiben viele Titel aus MDAX, SDAX oder dem Freiverkehr abseits des Interesses institutioneller Analysten. Gerade dort lassen sich immer wieder starke Kursbewegungen beobachten, sobald neue Studien oder Quartalszahlen den Markt aufhorchen lassen. Für Privatanleger in Deutschland kann es sich daher lohnen, gezielt Nebenwerte zu analysieren, die von großen Fonds noch ignoriert werden.
Der Effekt vernachlässigter Unternehmen zeigt, dass Informationsasymmetrien an den Märkten auch heute noch Renditechancen bieten können. Wer bereit ist, Zeit und Ressourcen in tiefgehende Analysen zu investieren, kann verborgene Werte aufdecken. Doch die Kehrseite darf nicht unterschätzt werden: mangelnde Transparenz, höhere Volatilität und geringe Liquidität sind typische Risiken von Nebenwerten. Für Anleger mit langfristigem Horizont und sorgfältiger Auswahl können diese jedoch eine lohnende Ergänzung zum Portfolio sein.


