Armutsrisiko Pflegefall? Zuzahlungen für Pflege im Heim erneut gestiegen
Für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bedeutet Pflege, dass sie einen Teil selbst zahlen müssen – und der steigt und steigt, denn die Pflegeversicherung trägt anders als die Krankenversicherung nicht die vollen Kosten.
Die Pflege im Heim ist für rund 800 000 Pflegebedürftige noch teurer geworden: Die Zahlungen aus eigener Tasche im ersten Aufenthaltsjahr überschritten nun im bundesweiten Schnitt die Marke von 3.000 Euro im Monat, wie eine Auswertung des Verbands der Ersatzkassen (vdek) ergab. Mit Stand 1. Juli waren demnach durchschnittlich 3.108 Euro zu überweisen. Das sind monatlich 124 Euro mehr als zum 1. Januar und 237 Euro mehr als zum 1. Juli vergangenen Jahres, wie die vdek in einer Pressemitteilung mitteilt.
In den Summen ist zum einen der Eigenanteil für die reine Pflege und Betreuung enthalten. Denn die Pflegeversicherung trägt – anders als die Krankenversicherung – nur einen Teil der Kosten. Für Bewohner im Heim kommen noch Zahlungen für Unterkunft und Verpflegung, Investitionen in den Einrichtungen und Ausbildungskosten hinzu.
Pflegeversicherung: Erhebliche Unterschiede in den Ländern
Regional gibt es weiter große Unterschiede. Im Länder-Vergleich am teuersten war die Pflege im ersten Jahr im Heim zum 1. Juli in Bremen mit durchschnittlich 3.449 Euro im Monat und in Nordrhein-Westfalen mit 3.427 Euro. Bundesweit am niedrigsten war die monatliche Belastung im ersten Jahr im Heim nun in Sachsen-Anhalt mit 2.595 Euro und Mecklenburg-Vorpommern mit 2.752 Euro.
Die Vorstandschefin des Ersatzkassenverbands, Ulrike Elsner, sagte, die Eigenbeteiligung steige seit Jahren kontinuierlich an. „Den Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern sind Belastungen in dieser Größenordnung nicht mehr zuzumuten.“ Um das schnell zu ändern, müssten die Länder ihre Verantwortung zur Übernahme der Kosten für Investitionen und Ausbildung erfüllen.
Eigenbeteiligung: Zuschläge als Kostendämpfer
Bei den selbst zu zahlenden Summen kommt es auf die Aufenthaltsdauer an, weil sich danach Entlastungszuschläge richten, die Pflegebedürftige neben den Leistungen der Pflegekassen bekommen. Der Eigenanteil für die reine Pflege wird damit im ersten Jahr im Heim um 15 Prozent gedrückt, im zweiten um 30 Prozent, im dritten um 50 Prozent und ab dem vierten Jahr um 75 Prozent.
Mit dem höchsten Zuschlag ab dem vierten Jahr stieg die Zahlung aus eigener Tasche nun im Schnitt auf 1.991 Euro im Monat – das waren 126 Euro mehr als zum 1. Juli 2024. Ausgewertet wurden Vergütungsvereinbarungen der Pflegekassen mit Heimen in allen Ländern. Zum Ersatzkassenverband gehören etwa die Techniker Krankenkasse, die Barmer und die DAK-Gesundheit.
Politik: Bund-Länder-AG sucht Lösung für Pflegereform
Die Antwort auf immer neue Ausgabensprünge in der Pflege waren zuletzt vor allem höhere Beiträge. Nun sollen Vorschläge für weitreichendere Ideen her, angesichts immer höherer Milliardenkosten für die Pflege. Um die Finanzen grundlegend abzusichern, soll eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern Vorschläge für eine Reform entwickeln. Das im Koalitionsvertrag von Union und SPD vorgesehene Gremium soll noch in diesem Jahr Ergebnisse vorlegen, um dann Anfang 2026 in die Gesetzgebung zu starten.
„Wir brauchen kein Reförmchen, wir brauchen eine grundlegende Reform“, sagte Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) im Juli bei der Auftaktsitzung. „Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass sie im Pflegefall unterstützt und nicht überlastet werden“, sagte Warken. „Pflege darf kein Armutsrisiko sein, auch nicht für pflegende Angehörige.“
Regierung: Arbeitsgruppe „Zukunftspakt“ als Ziel
Der im Koalitionsvertrag von Union und SPD vorgesehenen AG für einen „Zukunftspakt Pflege“ gehören für den Bund auch Familienministerin Karin Prien (CDU) und weitere Ministerien an, auf Länderseite die für Pflege zuständigen Ressortchefs. Beteiligt sind zudem die kommunalen Spitzenverbände und die schwarz-roten Koalitionsfraktionen im Bundestag.
Die Finanznöte in der Pflege sind schon chronisch geworden. Anfang 2025 kam die nächste Beitragsanhebung nach der vorherigen im Sommer 2023. In diesem Jahr erwartet die Pflegeversicherung ein Minus von 166 Millionen Euro. Die Bundesregierung will zur Stabilisierung ein Darlehen von 500 Millionen Euro zuschießen und 2026 noch eins von 1,5 Milliarden Euro. Damit im nächsten Jahr nicht gleich wieder Beitragserhöhungen kommen müssen, fehlt aber noch Geld.
Die Finanzspritzen sollen jetzt Zeit schaffen, um die große Reform anzugehen. Prien sagte, Pflegende zu Hause seien „die stillen Heldinnen und Helden“ des Systems und wünschten sich zu Recht, stärker gesehen zu werden. Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) sagte, das heute sehr komplizierte System überfordere viele und solle einfacher gestaltet werden. Die bayerische Ressortchefin Judith Gerlach (CSU) sagte, es gehe um eine Reform, die im besten Fall die nächsten Jahrzehnte tragfähig sei.
Pflegeversicherung in Schieflage: Die Baustellen im Überblick
Zahl der Pflegebedürftigen steigt bis 2070 deutlich an
Die Zahl der Menschen, die Pflegeleistungen bekommen, nimmt deutlich zu – und zwar „in stärkerem Maße, als durch die Alterung der Gesellschaft erwartbar ist“, wie das Statistische Bundesamt erläuterte. Hintergrund ist eine Reform von 2017, die weiter gefasste Kriterien für die Einstufung einer Pflegebedürftigkeit einführte. Aktuell gibt es 5,6 Millionen Leistungsempfänger, nachdem es 2019 4,0 Millionen gewesen waren. Bis 2055 könnte es nach einer Prognose der amtlichen Statistiker einen Anstieg auf 7,6 Millionen Pflegebedürftige geben.
Kostenexplosion bei den Ausgaben
Die Ausgaben der Pflegeversicherung stiegen im vergangenen Jahr auf 63,2 Milliarden Euro nach knapp 57 Milliarden Euro 2023. Im Jahr 2014 waren es noch 24 Milliarden Euro gewesen und 2019 gut 40 Milliarden Euro. Ein großer Kostenfaktor sind dabei steigende Personalausgaben für dringend benötigte Pflegekräfte. Seit 2022 darf es Versorgungsverträge der Pflegekassen nur noch mit Heimen geben, die nach Tarifverträgen oder ähnlich bezahlen.
Eigenanteil steigt für Betroffene ins Unermessliche
Für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bedeutet Pflege, dass sie einen Teil selbst zahlen müssen – und der steigt und steigt. Denn die Pflegeversicherung trägt anders als die Krankenversicherung nicht die vollen Kosten. Für die rund 800 000 Pflegebedürftigen in Heimen kommen Unterkunft und Verpflegung dazu, weitergegeben werden auch Umlagen für Investitionen in den Heimen und Ausbildung. Anfang 2025 summierte sich das nach Kassendaten im ersten Jahr des Heimaufenthalts im Bundesschnitt auf teilweise mehr als 3000 Euro im Monat.
Kosten steigen durch „Kostendämpfer“ weiter
Einige Kostendämpfer haben vorherige Bundesregierungen schon installiert. So bekommen Heimbewohner inzwischen angehobene Zuschläge, die den Anstieg der Zuzahlungen für die reine Pflege mildern sollen. Die Pflegekassen kostet das immer mehr – für 2025 werde ein Anstieg auf 7,3 Milliarden Euro erwartet, heißt es in einem Bericht des Bundesrechnungshofs. Das Pflegegeld für Menschen, die daheim betreut werden, wurde 2024 nach mehreren Jahren wieder erhöht. Ein Bundeszuschuss wurde aber gestrichen.
Trotz Vorschlägen bisher keine Pflegereform
Diverse Vorschläge für eine Finanzreform liegen längst auf dem Tisch: von mehr Steuermilliarden über Deckel für Eigenanteile bis zu einem Umbau des Modells zu einer Vollversicherung, die alle Pflegekosten trägt. Die Pflegekassen fordern auch, dass der Bund Milliardenausgaben aus der Corona-Krise erstattet und Rentenbeiträge für pflegende Angehörige übernimmt. Die Bund-Länder-AG soll auch Anreize für mehr Eigenvorsorge prüfen – und den Umfang von Leistungen.
Fazit: Mehr Geld vom Staat oder private Vorsorge?
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz mahnt: „Der Zukunftspakt Pflege kann nur gelingen, wenn Bund und Länder ihrer Finanzierungspflicht nachkommen.“ Bund und Länder seien dafür verantwortlich, dass der Pflegeversicherung und den Pflegebedürftigen bisher 15 Milliarden Euro jährlich vorenthalten würden. Der Verband der Privaten Krankenversicherung warb für eine Förderung privater Vorsorge. Milliardenschwere Fehlsteuerungen müssten jetzt endlich auf den Prüfstand.

