Politik

Top-Ökonom Igor Lipsicas: Neue Weltwirtschaft braucht neue Strategien

Die sich wandelnden Modelle der Weltwirtschaft, der demografische Niedergang, die Strategien anderer Länder und die Werkzeuge des Wachstums, die halfen, Krisen zu überwinden, darüber spricht der Wirtschaftsprofessor und Mitbegründer der Moskauer Hochschule für Ökonomie, Igor Lipsicas.
05.10.2025 17:23
Lesezeit: 3 min
Top-Ökonom Igor Lipsicas: Neue Weltwirtschaft braucht neue Strategien
Die richtige Strategie ist entscheidend, sagt Igor Lipsicas. Irland sei dafür ein herausragendes Beispiel. (Foto: dpa) Foto: Gregor Fischer

Igor Lipsicas sieht kleinere Staaten im demografischen Abstieg

Im Gespräch mit unseren litauischen Kollegen vom Wirtschaftsportal Verslo Zinios betont Igor Lipsicas, dass er kein ausgewiesener Experte für die litauische Wirtschaft sei. Er schlägt aber vor, über die sogenannten Staaten der „zweiten Reihe“ zu sprechen und darüber, in welche Richtung sie ihre Wirtschaft entwickeln sollten.

Litauen beispielsweise und auch die anderen baltischen Staaten, haben den Übergang von der sowjetischen Planwirtschaft zwar gemeistert, gehören jedoch noch nicht zu den führenden Ländern wirtschaftlichen und technologischen Fortschritts wie etwa die USA oder Westeuropa. Doch sie haben die „Falle mittlerer Einkommen“ hinter sich gelassen, verfügen über solide Infrastrukturen und ein relativ hohes Lebensniveau.

Als Ausgangspunkt empfiehlt Lipsicas einen Blick auf die Demografie. Über Jahrzehnte galt sie als nachrangig, wichtiger schienen Fortschritt und Investitionen. Heute sei klar, dass eine große Bevölkerung ein Vorteil sei: Sie schafft Märkte, die es erlauben, Unternehmen zunächst im Inland aufzubauen, bevor sie ins Ausland expandieren. Im Baltikum dagegen zeichnet sich ein negatives Bild. Laut Eurostat leben dort derzeit etwa sechs Millionen Menschen. In 75 Jahren könnten es nur noch vier Millionen sein, in Litauen sogar nur 1,7 Millionen. Damit schrumpft die Binnenmarktnachfrage. Unternehmensgründungen und Wachstum werden schwieriger.

Staaten mit derartig sinkender Bevölkerungszahl haben nur zwei Optionen: Entweder gelingt es, die Bevölkerungszahl spürbar zu erhöhen oder die Wirtschaft muss stark auf Export ausgerichtet werden. Dafür aber ist es nötig, die veränderte Struktur der Weltwirtschaft zu verstehen.

Warum Donald Trump falsch liegt

„Früher dachten wir bei internationalem Handel an den Austausch zwischen Staaten, Unternehmen und Völkern. In dieser Logik bewegt sich noch immer Donald Trump. Doch die Realität sieht inzwischen anders aus“, erklärt Igor Lipsicas.

Nach Angaben der UN-Handelsorganisation UNCTAD bestehen 80 Prozent des globalen Handelsvolumens heute aus Wertschöpfungsketten internationaler Konzerne. Mit anderen Worten: Die USA importieren nicht aus Mexiko, sondern von amerikanischen Konzernen mit Standorten in Mexiko. Damit sind Zölle, Handelsbarrieren oder klassische Außenhandelsfragen zwar nicht verschwunden, aber sie sind weniger relevant. Der moderne Welthandel findet innerhalb von Konzernstrukturen statt. „Das ist nicht mehr der Fall, dass ein Unternehmen auf die Weltmärkte geht, internationale Marketingstrategien entwickelt und durch Exporte wächst. Heute gilt: Entweder man wird Teil der Lieferkette eines großen Herstellers. Oder man bleibt außen vor.“

Neue Modelle: Risiko statt nur Kosten

Die baltischen Staaten müssen also lernen, sich in diese globalen Wertschöpfungsketten einzugliedern. Andernfalls bleiben nur kleine Nischen. Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass neben niedrigen Kosten auch die Risikofaktoren entscheidend seien. Als China seine Häfen schloss, brachen ganze Lieferketten zusammen.

Neue Konzepte wie „friendshoring“ (Produktionsverlagerung in politisch befreundete Staaten) oder „nearshoring“ (Produktion in teureren, aber geografisch näheren Regionen) prägen seither die Standortwahl. „Die baltischen Länder müssen in diesen neuen Modellen ihren Platz finden“, so Lipsicas. Dazu sei es nötig, den potenziellen Partnern klare Vorteile zu bieten. Geografische Nähe zu Europa sei ein Pluspunkt. Entscheidend aber sei eine Strategie, die die Länder als verlässliche Partner positioniert.

Lipsicas verweist auf Irland: Noch bis in die 1970er Jahre war das Land arm und von Auswanderung geprägt. Heute ist es eine wohlhabende EU-Nation. Das Erfolgsrezept: eine Steuerpolitik, die internationale Unternehmen anzog.

Litauen dagegen höre man selten als Standort für Niederlassungen großer Konzerne. „Das wäre aber notwendig, um Teil globaler Wertschöpfungsketten zu werden“, sagt Igor Lipsicas. Dazu brauche es Humankapital. Während Irland Studierende aus aller Welt anzieht, setze Litauen vor allem auf lokale Ausbildung in Landessprache. Viele Absolventen wandern dann ins Ausland ab. Eine klare Einwanderungspolitik für qualifizierte Fachkräfte fehle.

Studien aus den USA zeigten: Geringqualifizierte Migranten belasten die Wirtschaft eher, während Hochqualifizierte mehr zum BIP beitragen, als sie kosten. „Litauen sollte sich aktiv am internationalen Wettbewerb um Talente beteiligen“, fordert der Professor.

Kapital, Krieg und neue Motoren

Die EU-Fördermittel, die den baltischen Staaten bisher halfen, nehmen ab. Neue Wachstumsquellen seien nötig, möglicherweise durch engere Partnerschaften mit den USA oder China. „Ohne neue Strategie droht ein sinkender Lebensstandard“, warnt er.

Der Krieg in der Ukraine werde die Region wirtschaftlich kaum direkt verändern. Russland bleibe ein militarisierter, verarmender Staat, vergleichbar mit Nordkorea in Asien. Für die kleineren Länder bedeutet dies aber, dauerhaft hohe Verteidigungsausgaben einzuplanen. Genau darin sieht Lipsicas eine Chance: In Zeiten wachsender Rüstungsausgaben könnten Länder mit technologischen Stärken (etwa Litauen mit seiner Laserindustrie) wichtige Nischen besetzen, etwa bei Antidrohnen-Systemen.

„Man muss lernen“

Wie aber kann man konkret in globale Lieferketten einsteigen? „Man muss lernen“, so Lipsicas. Beratungsprogramme, Forschungszentren und gezielte Industriepolitik seien nötig. Ohne Anstrengung würden die Märkte von Nachbarn wie Polen übernommen.

Zum Abschluss verweist er auf Japan: Nach dem Zweiten Weltkrieg sei das Land wirtschaftlich am Boden gewesen. Es habe systematisch gelernt, internationale Märkte zu verstehen – und sei dadurch zur führenden Exportnation aufgestiegen.

***

Igor Lipsicas wurde 1950 geboren und gilt als einer der bekanntesten Wirtschaftswissenschaftler des postsowjetischen Raums. Er ist promovierter Ökonom und Professor, der von 1993 bis 2023 an der Moskauer Hochschule für Wirtschaft tätig war und dort maßgeblich an ihrem Aufbau beteiligt war. Seine wissenschaftliche Arbeit konzentrierte sich auf Marketing-Management, die ökonomische Analyse realer Investitionen, Preisbildung sowie die Unternehmensreformen in den postsozialistischen Volkswirtschaften. Anfang dieses Jahres legte Lipsicas seine russische Staatsbürgerschaft nieder und lebt seither in Litauen.

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