Experten warnen vor russischer Eskalation in Europa
Mehrere entscheidende Entwicklungen der vergangenen Woche haben das Bild verändert, wie sich der Krieg in der Ukraine weiterentwickeln könnte. Fachleute befürchten, dass Russland seine Kriegsführung in Europa ausweiten könnte und warnen davor, dass europäische Streitkräfte möglicherweise gezwungen sein könnten, direkt in den Konflikt einzugreifen. „Das kann nicht ausgeschlossen werden“, sagt Susan Stewart vom Deutschen Institut für Internationale und Sicherheitsangelegenheiten (SWP) in Berlin. Die Einschätzungen der Expertinnen und Experten deuten darauf hin, dass Europa in eine Phase erhöhter Unsicherheit und potenzieller Konfrontation mit Russland eingetreten ist, in der politische, militärische und wirtschaftliche Faktoren zunehmend ineinandergreifen.
Europa im Zustand des hybriden Krieges
„Europa befindet sich in einem hybriden Krieg mit Russland“, erklärte Dänemarks Premierministerin Mette Frederiksen beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen. Sie bezeichnete die aktuelle Lage als die gefährlichste Situation seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Diese Einschätzung teilen zahlreiche sicherheitspolitische Beobachter, die betonen, dass die russischen Angriffe auf Energieinfrastruktur, IT-Systeme und politische Prozesse längst Teil einer breiten Strategie seien. Carolina Vendil Pallin, Forschungsleiterin am schwedischen Verteidigungsforschungsinstitut FOI, sieht den Krieg zudem in einer neuen Phase, da die Dynamik, die während der von Donald Trump angestoßenen Friedensinitiativen bestand, inzwischen abgeflaut ist. „Ich glaube, alle Beteiligten spüren diese Veränderung und versuchen nun, auf anderen Wegen voranzukommen“, sagt sie. Fachleute sehen vier entscheidende Faktoren, die den weiteren Verlauf bestimmen könnten.
Putins „goldene Gelegenheit“
Der dänische Geheimdienst hatte bereits zuvor gewarnt, Russland könne bis etwa 2030 bereit sein, einen groß angelegten Krieg in Europa zu führen. Die jüngsten Hybridangriffe deuteten jedoch darauf hin, dass Präsident Wladimir Putin schon jetzt zur Eskalation bereit sei, erklärt Susan Stewart vom SWP. „Putin zielt gern auf die Schwachstellen anderer“, sagt sie. Angesichts des schwindenden amerikanischen Engagements und der Tatsache, dass Europa zwar militärisch erstarkt, aber seine Verteidigungspläne noch nicht vollständig umgesetzt hat, sehe Putin eine Gelegenheit, diese Lücken gezielt auszunutzen. Stewart warnt, dass dies ein Versuch sein könne, innerhalb der NATO Spannungen auszulösen. Auch die Sicherheitsforscherin Minna Ålander von Chatham House und Frivärld teilt diese Einschätzung. Sie glaubt, dass Russland Hybridangriffe verstärken könnte, um eine übermäßige Reaktion europäischer NATO-Staaten zu provozieren. „Ich bin besorgt, dass Russland auf diese Weise einen internen Konflikt innerhalb der Allianz herbeiführen will“, sagt sie. Carolina Vendil Pallin weist jedoch darauf hin, dass es in Russland ebenso wie innerhalb der NATO Kräfte gebe, die auf Deeskalation bedacht seien. Diese zurückhaltenden Akteure könnten vorerst verhindern, dass der Konflikt in eine direkte militärische Konfrontation mündet. Dennoch bleibe das Risiko hoch, dass kleinere Provokationen oder Missverständnisse schnell zu einer größeren Krise führen.
Der Kampf um den Himmel
Während sich an der Bodenfront kaum Fortschritte zeigen und Russland weiter versucht, Gebiete in der Region Donbass einzunehmen, verlagert sich der entscheidende Teil des Krieges in den Luftraum. Nach Einschätzung mehrerer Analysten ist der Kampf um die Lufthoheit mittlerweile ausschlaggebend für den weiteren Verlauf. In den vergangenen Monaten gelang es der Ukraine, durch Angriffe auf die russische Öl-Infrastruktur und gezielte Operationen die Kriegsmaschinerie des Kremls zu stören. Eine dieser Aktionen, bekannt als „Operation Spinnennetz“, nutzte lokale Mobilfunknetze, um Drohnen präzise auf russische Luftwaffenstützpunkte zu lenken. „Seitdem ist es in Russland fast zur Routine geworden, Mobilfunknetze in Regionen nahe der Grenze zur Ukraine abzuschalten“, erklärt Pallin.
Gleichzeitig habe Moskau seine Raketenangriffe auf ukrainische Städte verstärkt. Laut der Financial Times soll es Russland gelungen sein, seine Raketen so zu modifizieren, dass sie das ukrainische Luftabwehrsystem teilweise umgehen. Um die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine dauerhaft zu sichern, seien zusätzliche militärische Ressourcen und insbesondere Luftabwehrsysteme notwendig, sagt Pallin. Susan Stewart vom SWP betont, dass Europa bereit sein müsse, noch entschiedener zu handeln. „Zunächst muss die Ukraine in die Lage versetzt werden, gezielt strategische Ziele in Russland anzugreifen, um dessen Kriegsführung zu stören. Sollte das nicht gelingen, könnte eine militärische Intervention europäischer Streitkräfte notwendig werden“, erklärt sie.
Trumps Kurswechsel
Eine weitere Entwicklung, die internationale Aufmerksamkeit erregt hat, ist der abrupte Kurswechsel von US-Präsident Donald Trump. Er hat signalisiert, dass die Ukraine künftig amerikanische Waffen gegen Ziele tief im russischen Staatsgebiet einsetzen dürfe. Diese neue Tonlage sei in Moskau keineswegs unbemerkt geblieben, sagt Pallin. Russland habe bereits angekündigt, Systeme mit Sirenen und Lautsprechern zu testen, um auf mögliche Angriffe reagieren zu können. „Die Sorge wächst – sowohl wegen der zunehmenden Drohnenangriffe als auch wegen der Möglichkeit, dass die Ukraine Raketen auf russisches Territorium abfeuert“, erklärt Pallin. Phillips O’Brien, Professor für strategische Studien an der Universität St Andrews in Schottland, sieht in Trumps Kurswechsel ein mögliches Indiz dafür, dass die USA über Informationen verfügen, wonach Russland wirtschaftlich und militärisch zunehmend geschwächt sei. Dennoch mahnen Experten zur Vorsicht: Trumps Worte sollten nicht überbewertet werden. „Wir müssen auf seine Taten achten, nicht auf seine Worte“, sagt Minna Ålander. „Und seine Handlungen zeigen bislang, dass Amerika sich eher aus Europa und der Ukraine zurückzieht.“
Gefrorene Milliarden
Die russischen Offensiven und die Unsicherheit über die US-Unterstützung haben in Europa die Diskussion über den Einsatz eingefrorener russischer Vermögenswerte neu entfacht. Die EU-Kommission schlägt vor, der Ukraine zinsfreie Kredite aus diesen Geldern zu gewähren, deren Gesamtwert rund 140 Milliarden Euro (etwa 1.550 Milliarden schwedische Kronen) beträgt. Bis Ende Oktober sollen die Mitgliedsstaaten über den Vorschlag entscheiden. Belgien zögert allerdings noch, während der Kreml mit Vergeltung droht, darunter der Beschlagnahmung westlicher Vermögenswerte in Russland in gleichem Umfang. Laut der schwedischen Regierung deckt die genannte Summe gerade einmal den Finanzbedarf der Ukraine für die kommenden zwei Jahre, der auf rund 130 Milliarden Euro (1.400 Milliarden Kronen) geschätzt wird. „Das wird der Ukraine zweifellos helfen, und ich halte diesen Schritt für richtig“, sagt Susan Stewart. „Aber es wird allein nicht ausreichen, um den Krieg entscheidend zu wenden.“ Damit bleibe die Frage offen, ob Europa bereit ist, noch größere finanzielle und militärische Verantwortung zu übernehmen.
Deutschlands Verantwortung in einer unsicheren Zeit
Die zunehmenden Spannungen zwischen Russland und Europa, die schwankende Unterstützung der USA und die Möglichkeit einer direkten europäischen Beteiligung verdeutlichen, dass der Krieg in der Ukraine längst zu einer europäischen Angelegenheit geworden ist. Für Deutschland bedeutet das eine doppelte Herausforderung: Einerseits muss Berlin die militärische und wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine fortsetzen, andererseits gilt es, die Stabilität innerhalb der NATO zu wahren. Deutschland steht damit im Zentrum einer sicherheitspolitischen Zeitenwende, die nicht nur über den Ausgang des Krieges, sondern auch über die künftige Rolle Europas auf der Weltbühne entscheidet. Europas Sicherheit und damit auch Deutschlands, hängt zunehmend davon ab, ob es gelingt, Geschlossenheit, Entschlossenheit und strategische Weitsicht miteinander zu verbinden.

