Europas Herausforderung: Reformen oder Stagnation
Dr. Jan Mischke, Partner des „McKinsey Global Institute“ und Experte für europäische Wirtschaft, warnt vor einer Phase langfristiger Stagnation in Europa, wenn keine strukturellen Reformen umgesetzt werden. In einem exklusiven Interview mit „Verslo žinios“ erklärt er, dass große europäische Konzerne jährlich etwa 700 Milliarden Euro weniger investieren als ihre US-amerikanischen Pendants. Mischke betont, dass Investitionen nicht nur ein Maß für Wettbewerbsfähigkeit sind, sondern auch die Grundlage dafür bilden, langfristig wirtschaftlich stark zu bleiben. Ohne gezielte Reformen könnten die europäischen Volkswirtschaften an Attraktivität verlieren und in einem Umfeld verbleiben, in dem nur geringe Wachstumsraten möglich sind. Kleine Länder wie Litauen müssen daher eigene Strategien entwickeln, um in neuen Wettbewerbsfeldern erfolgreich zu sein und wirtschaftlich zu wachsen.
Warum Europa an Wettbewerbsfähigkeit verliert
Die führenden europäischen Unternehmen investieren deutlich weniger in Schlüsselbranchen wie Technologie und Energie als US-Konzerne. Mischke weist darauf hin, dass Investitionen sowohl die Wettbewerbsfähigkeit anzeigen als auch deren Voraussetzung darstellen. Wer Investitionen anzieht, zeigt Attraktivität und schafft gleichzeitig die Grundlage, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Gemeinsam mit dem Weltwirtschaftsforum veröffentlichte das McKinsey Global Institute zu Beginn dieses Jahres einen Bericht, in dem zehn Projekte vorgestellt wurden, die das Potenzial haben, die Investitionslandschaft Europas grundlegend zu verändern und das Wachstumspotenzial deutlich zu steigern. Ziel ist es, eine Umgebung zu schaffen, in der Unternehmen leichter investieren und sich entwickeln können, ohne dabei an regulatorische Hürden zu stoßen.
Vorgeschlagene Reformmaßnahmen
Ein vorgeschlagener Ansatz ist der sogenannte „28. Modus“. Dieses Modell umfasst einheitliche, investitionsfreundliche Regeln, die Bereiche wie Unternehmensrecht, Arbeitsbeziehungen und Steuern abdecken und denen innovative Großunternehmen freiwillig beitreten könnten. Dadurch würden sie in allen EU-Staaten nach denselben Prinzipien arbeiten können, was die grenzüberschreitende Expansion erleichtert. Ein weiterer Vorschlag betrifft öffentliche Innovationsbeschaffungen. Viele schnell wachsende europäische Unternehmen benötigen verlässliche Einnahmen und Großkunden, die bisher häufig nur durch einen Umzug nach Silicon Valley und Verträge mit Technologieriesen wie Google oder Microsoft erreichbar sind. Europäische Staaten könnten jedoch selbst als Großabnehmer fungieren und so Unternehmen vor Ort fördern, insbesondere in Bereichen wie Verteidigung, Energie und Gesundheit, in denen öffentliche Budgets und der Innovationsbedarf besonders hoch sind.
Investitionen im Gesundheitswesen
Mischke betont, dass Investitionen in KI-basierte Diagnostik- und Behandlungssysteme im Gesundheitswesen eine besonders große Chance bieten. Solche Maßnahmen würden den Unternehmen eine verlässliche Einnahmequelle bieten und gleichzeitig den europäischen Markt für innovative Technologien stärken. Die Vorschläge von Mario Draghi zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Europas wurden als Reaktion auf diese Herausforderungen präsentiert. Ein Jahr nach ihrer Veröffentlichung ist jedoch nur etwa elf Prozent der Maßnahmen umgesetzt worden. Mischke sieht dies als Ausdruck der Notwendigkeit für eine stärkere Integration zwischen den EU-Mitgliedsstaaten. Die Entscheidung liege nun bei den europäischen Regierungen, ob sie tiefgreifende Reformen einführen oder sich auf politische Zwänge und Kompromisse beschränken, die das Wachstumspotenzial nur begrenzt erschließen.
Langfristige Folgen mangelnder Reformen
Ohne Reformen droht Europa eine Phase mit sehr moderatem Wachstum von nur rund einem Prozent pro Jahr, während die USA die Möglichkeit hätten, die Produktivität zu steigern und ein jährliches Wachstum von etwa 3,3 Prozent zu erreichen. Mischke erläutert, dass sich dieser Unterschied über einen Zeitraum von zehn Jahren auf mehr als zwanzig Prozentpunkte summieren könnte. Gleichzeitig würde Europa im Wettlauf um technologische Führungspositionen und Künstliche Intelligenz nicht mehr um die Spitzenposition kämpfen, sondern lediglich um einen Platz hinter den USA und China. Besonders kleine, offene Volkswirtschaften wie Litauen könnten in einem solchen Szenario vergleichsweise noch stärker von Wettbewerbsrückständen betroffen sein, da sie auf dynamische internationale Märkte angewiesen sind.
Strategische Investitionen für Wettbewerbsfähigkeit
Europa investiert jährlich in Straßen, Schienen, Energie, digitale Infrastruktur und grüne Technologien. Mischke betont, dass grundsätzlich jede Investition die Wettbewerbsfähigkeit stärkt, solange sie effizient eingesetzt wird. Entscheidend sei jedoch, in welchen Bereichen investiert wird. Historisch floss ein großer Teil der Investitionen in Forschung und Entwicklung der Automobilindustrie, was Europa im 20. Jahrhundert zum führenden Kontinent in diesem Sektor machte. Heute verschiebt sich der Schwerpunkt zunehmend in Richtung Künstliche Intelligenz und digitale Technologien. Mischke weist darauf hin, dass US-Technologiekonzerne wie Apple, Microsoft, Alphabet, Amazon, Meta, Nvidia und Tesla mehr Mittel in Forschung und Entwicklung investieren, als Europa insgesamt für öffentliche und private Forschungsprojekte bereitstellt. Europa müsse daher auf seine Stärken setzen und eine führende industrielle KI-Infrastruktur aufbauen, anstatt im direkten Wettbewerb um universelle Sprachmodelle gegen die USA anzutreten.
Spezialisierung statt Allgemeinmodelle
Laut Mischke sollte Europa seine Ressourcen auf spezialisierte KI-Modelle und deren Anwendungen konzentrieren, etwa im Bereich autonomer Fahrzeuge, in der erweiterten Fertigung, im Gesundheitswesen oder in der Verteidigung. Dieser Ansatz umfasst nicht nur die Modelle selbst, sondern die gesamte Infrastruktur, einschließlich Sensorik, Halbleiter, Betriebssysteme und Robotik. Strategische Investitionen seien entscheidend, um in diesen Zukunftsfeldern langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Unternehmen und Staaten müssten sorgfältig prüfen, welche Bereiche die größte Wirkung entfalten, um Ressourcen gezielt einzusetzen und Innovationsvorsprünge zu sichern.
Globale Perspektiven und China
China steht vor einem Ungleichgewicht in der Binnennachfrage, das etwa fünf bis sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Gelingt eine Stabilisierung, könnte das Land in den nächsten zehn Jahren weiterhin mit vier bis fünf Prozent pro Jahr wachsen, was als relativ schnell einzustufen wäre. Mischke weist jedoch darauf hin, dass die derzeitige Entwicklung hinter diesem Potenzial zurückbleibt. In dieser Situation könnten Länder wie Litauen oder die USA ein schnelleres Wachstum erreichen. Gleichzeitig haben Handelskonflikte zwischen den USA und anderen Ländern begrenzte Auswirkungen auf Litauen. Der Export in die USA macht lediglich 2,4 Prozent des litauischen BIP aus, und die durchschnittlichen Zölle liegen bei zwölf Prozent, sodass der Effekt insgesamt überschaubar bleibt.
Stärken und Herausforderungen für Litauen
Litauen zeigt innerhalb der EU weiterhin überdurchschnittliches Wachstum und gilt als Zentrum für qualifizierte Arbeitskräfte und Talente, was für ausländische Investoren besonders attraktiv ist. Gleichzeitig bestehen erhebliche Herausforderungen bei der Finanzierung wachstumsstarker Unternehmen, da Kredite vergleichsweise teuer sind und alternative Finanzierungsquellen begrenzt zur Verfügung stehen. Mischke empfiehlt, private Kapitalvereinigungen oder Fonds zu fördern, um den Zugang zu Kapital zu erleichtern und politisch weniger eingeschränkte Finanzierungsoptionen zu schaffen. Dies ist besonders wichtig, weil schnell wachsende Unternehmen auf flexible Formen von Privatkapital angewiesen sind, sei es Risikokapital, Private Equity oder private Kredite, die oft effektiver sind als traditionelle Bankfinanzierungen. Produktivität bleibt der entscheidende Faktor für langfristigen wirtschaftlichen Erfolg, insbesondere angesichts steigender Löhne. Unternehmen und die Regierung müssen Investitionen in Technologie, Automatisierung und Innovation gezielt vorantreiben, um sicherzustellen, dass die Wertschöpfung pro Mitarbeiter steigt und das wirtschaftliche Wachstum nachhaltig bleibt. Nur so können hohe Löhne finanziert werden, ohne die Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden, und Litauen kann seine Position als dynamisches und investorenfreundliches Land innerhalb der EU weiter ausbauen.
Unabhängigkeit der Forschung
Das „McKinsey Global Institute“ arbeitet als unabhängiger Think Tank mit eigener Managementstruktur, die Forschungsthemen auswählt und die Publikationen bestimmt. Alle Projekte werden intern finanziert, externe Aufträge werden strikt abgelehnt. Mischke betont, dass diese Struktur gewährleistet, dass Analysen und Empfehlungen unabhängig von kommerziellen Interessen der McKinsey-Beratung erfolgen. Durch die große Anzahl unterschiedlicher Kunden sei es praktisch unmöglich, einseitige Positionen zu vertreten.
Die Analyse von Jan Mischke zeigt, dass Europa vor entscheidenden Weichenstellungen steht. Für Deutschland bedeutet dies, dass die eigene Wettbewerbsfähigkeit maßgeblich von gezielten Investitionen in Technologie, Infrastruktur und Forschung abhängt. Nur durch strategische Reformen und kluge Investitionen kann Deutschland seine Position als führende Wirtschaftsnation innerhalb der EU und global behaupten. Gleichzeitig eröffnet sich die Möglichkeit, von spezialisierten KI- und Industrieprojekten zu profitieren, anstatt in einem direkten globalen Wettbewerb mit den USA und China zu stehen. Reformen, gezielte Investitionen und Innovationsförderung bleiben zentrale Faktoren für die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands.


