Von der Leyens riskantestes Projekt: Ein europäischer Geheimdienst gegen den Widerstand der Mitgliedstaaten
Seit Jahren diskutiert die Europäische Union darüber, die nationalen Geheimdienste in einer zentralen gesamteuropäischen Nachrichtendienstbehörde zu bündeln. Nun hat die Europäische Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen nach Berichten der Financial Times konkrete Schritte zur Gründung einer solchen Struktur eingeleitet, so das slowenische Wirtschaftsportal Casnik Finance. Für die neue Agentur sprechen mehrere Argumente, zugleich formiert sich bereits deutlicher Widerstand.
Die Idee einer europäischen Geheimdienstagentur hat eine lange Geschichte.
Bereits 2017 warnte die deutsche Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) in einer Studie, dass die Terroranschläge in der EU die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit bei der Informationsweitergabe offenlegen. Gemeinsame Datenverbünde könnten die Nutzung von Informationen für sicherheitspolitische Zwecke erheblich verbessern.
Allerdings zeigten sich auch erhebliche Hürden. Die zentralen Nachrichtendienste gelten als Kern staatlicher Souveränität. Die EU-Verträge sehen daher keinen Kompetenztransfer in diesem Bereich vor. Folglich fehlt der Union eine rechtliche Grundlage für die Gründung eines unabhängigen Geheimdienstes. Möglich ist lediglich eine freiwillige Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf zwischenstaatlicher Ebene.
Wie die Zusammenarbeit jetzt läuft
Die EU verfügt bereits über begrenzte integrierte Nachrichtendiensteinheiten, die nationale Dienste jedoch nur ergänzen und nicht ersetzen. Diese sind in zwei Kategorien gegliedert:
1. Integrierte Zusammenarbeit
Hier geht es um gemeinsame Sammlung und Austausch von Informationen durch EU-Organe wie:
- das europäische Satellitenzentrum (SatCen) unter Leitung von Konteradmiral Louis Tillier
- das EU Intelligence and Situation Centre (IntCen) unter Leitung des Kroaten Danijel Markić, angesiedelt im Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD)
- die militärische Nachrichtendienstabteilung EUMS Int, geführt von Generalleutnant Michiel van der Laan, zuständig für Bewertungen zu zivilen und militärischen Missionen
Zum integrierten Bereich zählt zudem das Amt der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik, derzeit Kaja Kallas, dem der EAD untersteht und der ebenfalls operative Aufgaben im Kampf gegen Terrorismus wahrnimmt.
2. Nicht integrierte, informelle Kooperation
Hierzu gehören bilaterale und multilaterale Netzwerke wie der Berner Club, in dem EU- und Nicht-EU-Staaten Informationen informell austauschen.
Was Brüssel jetzt plant und warum es Bedenken gibt
Die Europäische Kommission richtet derzeit einen neuen europäischen Geheimdienst ein. Der Schritt gilt als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine sowie auf Warnungen des US-Präsidenten Donald Trump, die Sicherheitsunterstützung für Europa künftig zu reduzieren. Die neue Einheit soll innerhalb des Generalsekretariats der Kommission angesiedelt werden und Experten aus nationalen Nachrichtendiensten beschäftigen. Laut FT betont die Kommission, es handle sich um ein organisatorisches und analytisches Gremium, nicht um einen operativen Dienst mit eigenen Agenten. Ein Zeitplan ist noch nicht festgelegt.
Die neue Einheit soll eng mit existierenden Strukturen wie IntCen zusammenarbeiten. Doch gerade dort gibt es Widerstand: Man befürchtet, dass die neue Institution Kompetenzen doppelt und die Rolle des IntCen schwächt. Darüber hinaus zögern viele Mitgliedstaaten, besonders sensible Informationen mit einer zentralen EU-Stelle zu teilen. Die Financial Times verweist ausdrücklich auf Frankreich, das über umfangreiche nachrichtendienstliche Kapazitäten verfügt und traditionell zurückhaltend bei der Weitergabe hochsensibler Daten ist.
Zusätzlich erschweren prorussische Regierungen in einzelnen EU-Staaten (etwa in Ungarn) das Vertrauen innerhalb der Kooperation. Zudem gibt es Zweifel an der Wirksamkeit des IntCen bei der Reaktion auf hybride Bedrohungen durch Russland.
Daten, Misstrauen, Machtkampf
Für Deutschland hat die Debatte erhebliche sicherheitspolitische Relevanz. Die Bundesrepublik verfügt über drei große Nachrichtendienste (BND, BfV und MAD) und gilt als zentraler Akteur in der europäischen Sicherheitsarchitektur. Ein stärker integriertes EU-Geheimdienstsystem würde:
- die Rolle Deutschlands als Datenzulieferer stärken
- zugleich aber mehr Transparenz und Offenlegung sensibler Informationen verlangen
- die operative Autonomie der Dienste politisch zur Diskussion stellen
Die Bundesregierung zeigt sich grundsätzlich offen für mehr europäische Sicherheitszusammenarbeit, reagiert aber traditionell sensibel auf Eingriffe in nationale Geheimdienstkompetenzen. Angesichts des Ukrainekrieges und der Gefahr hybrider Angriffe könnte Deutschland jedoch stärker unter Druck geraten, einer engeren Integration zuzustimmen.
Der Vorstoß von Ursula von der Leyen markiert einen potenziell historischen Schritt hin zu einer zentralisierten europäischen Sicherheitsarchitektur. Doch der Weg ist steinig. Nationale Souveränität, Misstrauen zwischen Mitgliedstaaten und institutionelle Rivalitäten bedrohen das Projekt bereits im Anfangsstadium. Ob eine europäische Geheimdienstagentur Realität wird, hängt davon ab, wie sehr die EU bereit ist, ihre sicherheitspolitische Fragmentierung zu überwinden. Die kommenden Monate werden zeigen, ob aus dem Konzept erstmals ein belastbares Modell entsteht oder ob es erneut in der politischen Grauzone verschwindet.

