Es scheint eine verkehrte Welt zu sein: Ausgerechnet die Bundesbank, die sonst immer Lohnzurückhaltung anmahnt, sieht auf einmal Spielraum für höhere Lohnabschlüsse. So erklärt Jens Ulbrich, Chefökonom der Bundesbank, bei einem Treffen mit Gewerkschaftsökonomen am Wochenende in Berlin:
„Die Lohnentwicklung in Deutschland ist vor dem Hintergrund der guten konjunkturellen Lage, der niedrigen Arbeitslosigkeit und der günstigen Perspektiven durchaus moderat.“
Also muß es ziemlich schlecht um die Entwicklung der deutschen Löhne stehen. Tatsächlich geht es der Bundesbank aber nicht um das Wohl der deutschen Arbeitnehmer oder die soziale Gerechtigkeit, sondern ausschließlich um das Inflationsziel der EZB von 2 %, das in der deflationären Entwicklung immer weniger erreichbar wird. Damit wird die Entschuldung der Banken, die der Bundesbank und der EZB besonders am Herzen liegt, immer schwieriger. Auch die FAZ vermutet unter der süffisanten Schlagzeile „Sogar die Bundesbank ist jetzt für höhere Löhne“:
„Offenbar herrscht in der Bundesbank angesichts einer Jahresinflationsrate von zuletzt nur 0,5 Prozent im Euroraum große Sorge vor Deflation, also fallenden Preisen. Höhere Lohnabschlüsse könnten dazu beitragen, dass die Inflationsrate sich wieder dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank von knapp zwei Prozent nähert.“
Tatsächlich liegen die deutschen Löhne netto je Arbeitnehmer kaufkraftbereinigt noch unter dem Niveau des Jahres 2000, während die Produktivität um fast 15 % gestiegen ist und mindestens in dieser Höhe Spielraum für die Lohnentwicklung eröffnet hätte (Abb. 17870). Im Vergleich mit den Ländern Westeuropas und mit den USA war die deutsche Lohnentwicklung insgesamt (im Unterschied zu Abb. 17870 nicht je Arbeitnehmer und nicht netto) mit 11 % seit dem Jahr 2000 die schwächste. Allein 7 Länder verzeichneten ein Plus um 30 % und darüber (Abb. 18196).
Die Situation wird noch erhebliche durch die nach Leistungsgruppen sehr unterschiedliche Entwicklung verschärft. Leider liegen Daten des Statistischen Bundesamts erst für die Entwicklung ab 2007 vor. Danach stiegen die Bruttomonatsverdienste der Arbeitnehmer in leitender Stellung, also der Manager und vergleichbarer Berufe, in den etwas mehr als 6 Jahren um 8,9 %, die normaler Fachkräfte dagegen nur um 1,2 % und „kassierten“ angelernte Arbeitnehmer sogar ein Minus von 0,9 % (Abb. 10002). Man kann die Entwicklung ab 2007 in die Gesamtentwicklung der Löhne je Arbeitnehmer bis 2007 einordnen und hat dann wenigstens eine ungefähre Vorstellung, wie ungünstig sich die Löhne für die meisten Leistungsgruppen seit dem Jahr 2000 entwickelt haben (Abb. 18412).
Die ungünstige Entwicklung der deutschen Löhne erklärt sich nicht zuletzt aus der immer weiter abnehmenden Tarifbindung, die die Arbeitnehmer zunehmend dem Einsatz der Gewerkschaften bei den Tarifverhandlungen entzieht. Sie ist in W-Deutschland seit 1996 von 70 % auf nur noch 52 % gefallen, in O-Deutschland liegt sie sogar nur noch bei 35 %; überwiegend sind die deutschen Arbeitnehmer also „gewerkschaftsfrei“ (Abb. 17018).
Joachim Jahnke, geboren 1939, promovierte in Rechts- und Staatswissenschaften mit Anschluss-Studium an französischer Verwaltungshochschule (ENA), Mitarbeit im Kabinett Vizepräsident EU-Kommission, Bundeswirtschaftsministerium zuletzt als Ministerialdirigent und Stellvertretender Leiter der Außenwirtschaftsabteilung. Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, zuletzt bis Ende 2002 als Mitglied des Vorstands und Stellvertretender Präsident. Seit 2005 Herausgeber des „Infoportals“ mit kritischen Analysen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung (globalisierungskritisch). Autor von 10 Büchern zu diesem Thema, davon zuletzt „Euro – Die unmöglich Währung“, „Ich sage nur China ..“ und „Es war einmal eine Soziale Marktwirtschaft“. Seine gesellschaftskritischen Analysen beruhen auf fundierter und langjähriger Insider-Erfahrung.
Sein Buch über das Ende der sozialen Marktwirtschaft (275 Seiten mit 176 grafischen Darstellungen) kann unter der ISBN 9783735715401 überall im Buch- und Versandhandel für 15,50 Euro bestellt werden, bei Amazon hier.