Politik

Der Brunnen ist vergiftet: EU kann wegen Flüchtlings-Krise zerbrechen

Lesezeit: 6 min
06.09.2015 02:18
Der Hamburger Ökonom Reinhard Crusius sieht die EU an einem kritischen Punkt angelangt: Europa wird nur noch ökonomisch definiert und nicht mehr politisch. Seit dem Revival der nationalistischen Ressentiments in der Griechenland-Krise ist der Brunnen vergiftet. Eine mutige Alternativ-Politik ist weit und breit nicht in Sicht.
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Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was hat uns das Griechenland-Desaster über den Zustand der EU gezeigt?

Reinhard Crusius: Klare Aussagen kann man hier nur zum Zustand der Währungsunion machen. Diese Aussagen sind von meiner Seite aus durchweg negativ. Wie in meinem Buch ausführlich dargelegt, ist die Währungsunion eine Zangengeburt mit Dauerschäden. Der größte Geburtsfehler neben der potentiellen Unvereinbarkeit der verschiedenen Ökonomien und Wirtschaftspolitiken unter dem Dach einer Währungsunion ist die fast totale neoliberale Ausrichtung, die sich, wie wir im Frühjahr und Sommer 2015 sahen, wie Rost durch die Institutionen und Köpfe gefressen hat. So haben wir ein zunehmendes ökonomisches und politisches Auseinanderdriften und eine Euro-Rettungs-Politik, die ökonomisch und politisch katastrophal ist. Gegenbeispiele wie Spanien, Portugal und Irland sind statistische Schimären ohne Rekurs auf die ökonomische und soziale Alltagsrealität in diesen Ländern! Nicht erst die aktuelle Flüchtlings-Krise, sondern schon der ökonomisch unsinnige, volksfeindliche, rechtlich und politisch regelbrechende Akt vom Juli/August 2015 in der Griechenland-Krise war wohl der Anfang vom langsamen Ende der Währungsunion, möglicherweise auch der EU, wie sie einmal gedacht war. Das Ganze wird aktuell nur noch zusammengehalten durch den eisernen Willen der neoliberalen Bruderschaft in Brüssel und in den Hauptstädten (unter Führung von Merkel und Schäuble), den Bankrott dieser Politik nicht eingestehen zu wollen und zu können – Bankrott, wenn wir Europa noch als Projekt der Völkerverbindung, des Friedens, des sozialen Fortschritts, der Gemeinschaft von Demokratien, also der vielbeschworenen „Wertegemeinschaft“ verstehen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In der Flüchtlingsfrage wird deutlich, dass die National-Staaten keine wirkliche Solidarität praktizieren. Kann die EU darüber zerbrechen?

Reinhard Crusius: Die Flüchtlingsfrage zeigt verschärft, wie die einseitige neoliberale Fokussierung auf „Wettbewerbsfähigkeit“ und die ökonomisch unsinnige und unrechtmäßige, d.h. regelverletzende Euro-Rettungs-Politik den Staatenbund als Bund der Völker in der Substanz zerstören. Abgesehen von der unglaublichen Blindheit und Verantwortungslosigkeit, mit der die EU und die deutsche Regierung das Problem bisher behandelten – in Deutschland schon seit zwanzig Jahren speziell durch die CDU/CSU schon damals mit den Zuständigen Schäuble und Merkel und ihrem Sprachrohr - der Bild-Zeitung - sowie ihren CSU-Gehilfen. Insofern gehen Euro-Krise und Flüchtlingsproblem in eine zusammenhängende Krisenbetrachtung, und da sieht es eher finster aus.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In der Griechenland-Frage musste man mit Erschrecken feststellen, dass die Ressentiments gegeneinander offenbar auf Knopfdruck aktiviert werden können. Werden wir dieses Schema noch öfter erleben?

Reinhard Crusius: Man kann nur Ressentiments „auf Knopfdruck abrufen“, die schon da sind. Das Erschreckende ist, dass die neoliberale „Lösung“ der Euro-Krise diese Ressentiments so erst produziert hat, also die Politik (bei uns vorneweg die CSU-Lautsprecher) und die Medien - vorneweg die Bild-Zeitung, etwas „gediegener“, doch genauso bösartig einseitig auch andere. Das Gift ist nun im Brunnen! Wir werden, zumindest in Deutschland mit seiner spezifisch obrigkeitshörigen, überwiegend neoliberal gepolten Medienlandschaft das bei jeder weiteren Krise wieder erleben, zum Beispiel aktuell beim Flüchtlingsproblem. Den Friedensnobelpreis würde die EU heute sicher nicht mehr erhalten!

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Deutschland will keine Transfer-EU, die Franzosen schon. Sind die Vorstellungen der weiteren Integration im Grunde nicht unvereinbar?

Reinhard Crusius: Wir haben längst eine Transfer-Union, alles unter anderen Namen, aber letztlich immer mit Zustimmung von Merkel und Schäuble. Sie wollenden Währern das nur nicht eingestehen – genau so sind ihre ökonomisch zerstörerischen Eier-Tänze um einen Schuldenschnitt begründet. Die Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland sind eher in der Frage begründet, wie man die Ergebnisse der Austeritäts-Politik bewertet. Wenn Frankreich hier etwas gegensteuert, kann das europapolitisch und ökonomisch nur gut tun. Auch Merkel/Schäuble werden bald merken oder zugeben müssen, dass ihr harter Kurs gegen einige Völker Europa bzw. den Euro vor die Wand zu fahren droht. Was die weitere „Integration“ angeht, ist diese aktuell, auch angesichts des Flüchtlingsproblems, wohl erst einmal beerdigt. So, wie die Brüsseler Instanzen sich in der Euro-Rettungs-Politik und jetzt in der Flüchtlingspolitik darstellen, dürfte die Sympathie für „mehr Europa“ im Sinne von noch mehr bürokratischer, intransparenter Macht für Brüssel - und genau das ist ja mit „mehr Europa“ gemeint - wohl gegen Null tendieren. Im Übrigen ist ja das Grundproblem der Währungsunion, dass sie eigentlich unvereinbare Politiken und Ökonomien krampfhaft zu vereinen sucht – wird wohl nicht mehr sehr lange gut gehen!

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Man hat den Eindruck, dass das Misstrauen von Merkel und Schäuble gegenüber der EU-Kommission wächst. Täuscht der Eindruck?

Reinhard Crusius: Dieser Eindruck täuscht wohl nicht. Ich vermute aber, dieses „Misstrauen“ hat eher etwas mit Machtfragen zu tun als mit Inhalten. Ich befürchte noch mehr, dass Merkel und Schäuble mehr straffen Zentralismus wollen, im Sinne der Merkel’schen „marktkonformen Demokratie“, wohingegen die neue Kommission und das neue EU-Parlament erfreulicherweise heute eher zu mehr Demokratie, Transparenz und Subsidiarität streben – daher wohl wirklich das „Misstrauen“ von Merkel und Schäuble.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Hat sich das bisherige Konzept der EU als gescheitert erwiesen?

Reinhard Crusius: Hier muss man zwischen der EU und der Währungsunion unterscheiden. Als gescheitert bei beiden betrachte ich die stramme neoliberale Ausrichtung, was aber beide Institutionen nicht hindern wird, so wie bisher weiterzumachen. Der Neoliberalismus ist ja in besonderer Weise gegen Erfahrungen resistent, vor allem seit seinem eigentlichen Offenbarungseid, dem Finanzcrash 2007/2009, was seinen Charakter als politische Religion verdeutlicht. Die EWU droht zu scheitern, weil die Euro-Krise bei weitem nicht bewältigt ist bzw. nur auf Kosten einer Zweiteilung der EWU in eine dauerverschuldete sogenannte „Hartz IV-Zone“ im Süden und den Rest. Das werden die Völker hoffentlich nicht mitmachen! Leider droht jedoch das EWU-Abenteuer auch die Idee „Europäische Union“ zu diskreditieren, aber gescheitert ist die EU hoffentlich noch lange nicht! Die „Rettung“ könnte ein Wandel zu einer Wirtschafts- und Sozialunion sein, wie ich sie in meinem Buch ausführlich beschreibe. Vielleicht entscheidet sich die Frage des Scheiterns in den kommenden Jahren an der Flüchtlingsproblematik.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Es ist ja interessant, dass es heute auch bei vielen Medien harsche Kritik an der EU gibt, die noch vor wenigen Monaten völlig unkritisch berichteten. Sehen wir ein Umdenken – oder ist das nur eine Mode?

Reinhard Crusius: Sie meinen offensichtlich die deutschen Medien. Diese haben sich bisher eher dadurch ausgezeichnet, dass sie sich für Europa kaum interessierten, auch keinen hinreichenden journalistischen Sachverstand („Expertise“) besitzen. So hat sich die Berichterstattung über die EU bzw. über „Brüssel“ weitgehend auf das Räsonieren über die „Gurkenkrümmung“ und das „Bürokratiemonster“ beschränkt. Selten zum Beispiel wurde bisher Positives berichtet – und ich meine, dass die EU auch viel Lobenswertes zu Stande brachte, gerade für die Bürger. In der Euro-Krise seit 2010 hat sich diese Schwachstelle „Expertise“ dann, zusammen mit der überwiegend neoliberalen Ausrichtung der deutschen Medienlandschaft, als verhängnisvoll erwiesen, da der Leser eigentlich über all die Jahre kaum etwas Substanzielles, noch weniger etwas Objektives erfuhr, sondern viel zu häufig nur journalistisch aufbereitete Regierungserklärungen – auch in den sogenannten „Qualitätsmedien“. Ich sehe da kein Umdenken, da das ja zuerst einmal ein Denken voraussetzt. Ich sehe diese aktuell eher kritische Tonlage der Medien eher als „Mode“, und zwar deshalb: Da die Kanzlerin und Schäuble aktuell eher kritisch gegenüber „Brüssel“ sind, sind es auch die „seriösen Leitmedien“, denn so, wie Merkel erst einmal schaut, was die Medien verlauten, schauen diese erst einmal, was Merkel sagt – eine eigenartige Symbiose von Regierung und Vierter Gewalt!

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie selbst haben erlebt, dass man auch mit konstruktiver Kritik an der EU in der Öffentlichkeit nicht durchdringt. Was haben Sie beobachtet?

Reinhard Crusius: Diese Erfahrung beruht auf den zur vorigen Frage gemachten Beobachtungen. Das EU-Thema ist kompliziert, es ist dröge, und es ist, wie gesagt, mit Scheuklappen geradezu vernagelt. „Konstruktive Kritik“ zu würdigen, setzte voraus, sich von jahrelang gepflegten europapolitischen Mantras zu verabschieden. Das tut keiner gerne. Bei jenen Medien, die, klein aber fein, bisher eher „non-konform“ über die EU und die Euro-Rettungspolitik berichten, gibt es augenscheinlich „Interpretations-Leitwölfe“. Da kommt man als „institutioneller Außenseiter“, wie ich einer bin, kaum ran. Es gibt einfach in den Medien zu viel „stream“, egal ob „main“ oder „links“. Dabei täte unabhängiges, kritisches Denken so Not! Von der Wissenschaft, vor allem der „ökonomischen Wissenschaft“, wage ich in diesem Zusammenhang kaum zu reden.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ist das unkritische Nachbeten von reiner PR durch viele Medien mitverantwortlich dafür, dass sich die EU eben nicht weiterentwickelt hat?

Reinhard Crusius: Ja, natürlich. Das Grundproblem ist also: Die Medien bejubeln sich gern selbst als „Wächter der Demokratie“, als „Vierte Gewalt“ (ganz euphorisch nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“), sind aber aus vielerlei Gründen strukturell unfähig bzw. nicht gewillt, diese Rolle wirklich auszufüllen. Vor allem sind sie absolut unkritisch sich selbst gegenüber, geradezu resistent gegen Kritik – dabei ist ihre Macht ungeheuer: Alles, was wir über die politischen Prozesse, in die wir involviert sind, erfahren, erfahren wir durch die Medien – und leider haben diese auch bei Kritik immer das letzte Wort! Woher soll also bei diesen Medien eine breite, offene Debatte zum Beispiel über die Euro-Rettungs-Politik oder jetzt die Flüchtlingspolitik kommen? Wo zum Beispiel wird Frau Merkel heute angegriffen für die fatale Rolle, die sie seit zwanzig Jahren in der Flüchtlingspolitik spielt? „Die Kanzlerin spricht ein Machtwort“, jubelt stattdessen die Presse. Frage: Warum erst jetzt, und wo bitte hatten die bisherigen „Machtworte“ der Kanzlerin erkennbare Folgen? Was die EU angeht, haben die deutschen Medien bisher, vor allem in der sogenannten Griechenland-Krise, eklatant versagt!

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie kann es weitergehen? Kann man die EU neu erfinden?

Reinhard Crusius: Ja, man kann! Ich meinem Buch ausführlich beschreiben. Man könnte das sogar mit mehr Hoffnung, wenn die europäischen Sozialdemokraten sich unter der Altardecke des Neoliberalismus hervortrauten, unter der sie nur zugrunde gehen können.

***

Reinhard Crusius, geboren 1941 in Gütersloh; viele Jahre Arbeit als Schriftsetzer; Studium über Zweiten Bildungsweg in Hamburg; Diplom-Volkswirt, Dr. rer. pol.; Habilitation an der TU Berlin. Diverse Aufsätze, Rundfunkbeiträge und Veröffentlichungen.

Das Buch kann beim Tectum-Verlag direkt bestellt werden (hier).

Außerdem ist das Buch auf Amazon erhältlich, und natürlich im guten bewährten Buchhandel.


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