Finanzen

Das falsche System: Volkswagen-Krise ist gefährlich für ganz Deutschland

Lesezeit: 7 min
03.10.2015 02:30
Die Krise bei Volkswagen könnte schon bald Auswirkungen auf ganz Deutschland haben: Noch nie war die wichtigste Branche derart unter Druck. Das Problem: Der Betrug ist nur die Spitze des Eisbergs. Es geht um ein System, das sich überlebt hat - sowohl personell als auch technisch. Die Deutschland AG steht vor der Zerschlagung.

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Die Betrugs-Affäre bei Volkswagen ist nicht nur die Tat von einzelnen, verantwortungslosen Ingenieuren, sondern möglicherweise der abgelösten Führungsspitze des Konzerns. Sie ist Ausdruck eines übermütig gewordenen Systems ohne checks und balances – der Deutschland AG. Ändert diese ihre etablierten Verhaltensweisen nicht schnell und grundlegend, droht Deutschland der Bedeutungsverlust des wichtigsten Wirtschaftszweigs des Landes, und darüber hinaus Schaden als Industrie- und Wirtschaftsstandort generell.

Die volkswirtschaftliche Rolle der Autoindustrie in Deutschland kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie hat vor allem in den letzten 20 Jahren nochmals ganz wesentlich zugelegt. Sie ist die größte Wachstumsindustrie des Landes geworden, deren Exporte und weltweiter Absatz stark zugelegt haben. Die Autoindustrie ist dadurch in eine Sonderrolle geschlüpft. In den USA, im Vereinigten Königreich, in Frankreich oder in Italien, allesamt alte Autoländer, hat die Autoindustrie ihren Zenit längst überschritten. ‚Wenn Detroit einen Schnupfen kriegt, bekommen die USA Fieber’. Diese Zeiten sind vergangen. In keinem anderen fortgeschrittenen Industrieland hat die Autoindustrie eine derart zentrale Bedeutung mehr für die Gesamtwirtschaft. Dabei ist die Autoindustrie eine alte, reife Industrie.

Deutschland verdankt diese Sonderrolle einer rigorosen Fokussierung der Autobauer auf das Premium-Segment. Dieses hat sich stark ausgeweitet, seine Marktanteile sind weltweit stark gewachsen. Von den deutschen Autokonzernen, VW zuvorderst, ist dies in den 1990er Jahren korrekt antizipiert worden. Das Wachstum des Premium-Segments verdankt die Industrie nachfrageseitig den immer längeren Distanzen zwischen Wohn- und Arbeitsort und den damit verbundenen, längeren Fahrzeiten. Es ist angenehmer, diese Zeit in einem gut ausgestatteten Auto zu verbringen. Angesichts des Dichtestresses sind auch die Sicherheitsmerkmale von Premium-Automobilen zentral. Die 2000er Jahre brachten eine breite Schicht von Personen mit höherem Einkommen hervor. Immer noch wirksam ist klassenübergreifend die statusbildende Funktion des Autobesitzes. Staatliche, oft steuerliche Anreize und vor allem die Ausdehnung des Kredits sind weitere Kernfaktoren. Immer mehr Autos haben heute Premium-Qualität. Die Einkommen und Vermögen ihrer Besitzer sind aber längst nicht überall Premium, sondern Durchschnitt oder eher Median. Nur der konsequente Rückgriff auf Flotten- oder privates Leasing, Abzahlungskredite und andere Kreditformen hat diese Expansion des Premium-Segments überhaupt ermöglicht. Das Ganze beruht auf immer niedrigeren Zinsen und hohen Wiederverkaufswerten. Nur dann sind die Raten für viele Käufer bezahlbar. Die hohen Wiederverkaufswerte ergeben sich aus der Produktqualität beziehungsweise deren Prestige einerseits, dem globalen Distributionsnetz der Autohersteller andererseits.

Auf der Angebotsseite stehen diesem Wachstum des Premium-Segments eine sehr hohe Innovationsrate und konstante Produktverbesserungen auf allen Ebenen gegenüber. Auch die Qualität und Langlebigkeit muss speziell hoch sein. Nur deshalb rechtfertigt sich der Preis. Beides Innovationspotential und Qualitätskultur ist untrennbar mit dem Standort Deutschland verbunden, mit seiner Ingenieurskultur, Techniktradition und seinem spezifischen dualen Ausbildungssystem. Damit solche Autos beziehungsweise ihre Kreditzinsen bezahlbar sind, muss unter der Haube eine gewaltige Normierung mit sehr hohen Stückzahlen stattfinden. Darum konzentriert sich das Premium-Segment auf ganz wenige Hersteller mit hohen und rasch wachsenden Stückzahlen. Für Käufer fühlbar sind vor allem Design, Haptik, Innenraum-Ausstattung, Motoreigenschaften wie Beschleunigung, Laufruhe oder Verbrauch sowie die Sicherheitsmerkmale. Der Automarkt ist ein Markt für den privaten Konsum. Die Konsumenten verlassen sich auf den Markennamen und auf das Gütesiegel ‚Made in Germany’, was alles die Komplexität der Teile und Prozesse in einem Auto anbetrifft.

In den letzten 20 Jahren hat sich deshalb die Struktur der Autoindustrie erheblich geändert. Die Fertigungstiefe der Autoproduzenten hat deutlich abgenommen. Die Produktion ganzer Komponenten und Teile ist an spezialisierte Zulieferer ausgelagert worden, die in ihren Kernbereichen ebenfalls hohe Innovationsfähigkeit und Stückzahlen aufweisen. Die Produktion von Kleinwagen und arbeitsintensiver Komponenten ist weitgehend aus Deutschland verschwunden, sie hat sich nach Ostmitteleuropa verschoben. Im Zentrum stehen drei sehr große Autohersteller, welche die Modelle entwickeln, konzernweite Plattformen und Motorenfamilien produzieren. Darum herum gruppieren sich viele und zum Teil ebenfalls sehr groß gewordene Zulieferer, welche Komponenten oder ganze Systeme entwickeln und anbieten. Hinter Volkswagen, BMW oder Daimler stecken nicht nur das Unternehmen, sondern eine ganze Zulieferindustrie. Für den Endkunden sichtbar aber ist der Markenname des Autoherstellers, er bürgt für die gesamte Qualität.

Für diese drei Konzerne hat die Rolle des Heimmarktes in Deutschland erheblich abgenommen. Sie sind Weltkonzerne geworden, die global verkaufen und auch produzieren. In Deutschland sind zentrale Funktionen wie Forschung und Entwicklung, Administration, Produktion und Fertigung von Premium-Automobilen, Marketing und Finanzierung angesiedelt. Daneben haben diese Weltkonzerne Werke in China, in Ostmitteleuropa, in den USA, in Lateinamerika und anderswo aufgestellt.

Von allen großen Autoherstellern weltweit ist die Volkswagen AG am stärksten gewachsen. VW ist der größte deutsche Industriekonzern, und bis Mitte 2015 gewichtigster Dax-Wert gewesen. VW ist im ersten Halbjahr 2015 größter Autohersteller der Welt geworden. Volkswagen ist auch einer der 10 größten Konzerne der Welt, gemessen an der Fortune 500 Liste. Kein anderer Konzern hat diese Gleichteile- oder Plattform-Strategie so konsequent umgesetzt wie Volkswagen. Mit Modifikationen stecken in einem SEAT, SKODA, VW oder AUDI viele gleiche Bauteile, vor allem auch Motoren und andere teure Komponenten. Dabei ist Volkswagen recht ungleichgewichtig vertreten. VW ist der mit Abstand größte Autohersteller in Europa und auch in China, aber nur schwach in den USA vertreten. Die Gewinne werden vor allem in China, bei Audi und Porsche gemacht, während die Stamm-Marke durch Überschneidungen mit Audi, Skoda und teilweise Seat defizitär und im Profil nicht klar eigenständig ist.

Volkswagen hat seit den 1950er Jahren eine Reihe von Besonderheiten, die das Unternehmen von anderen Autoherstellern unterscheiden. Strukturell sind die Nähe zur Politik und die weit reichende Einflussnahme auf die Regulierung der Autoindustrie von Vorteil. Das Bundesland Niedersachsen ist aus historischen Gründen ein großer Aktionär mit Sperrminorität. Ebenso ist die Rolle des Betriebsrates und der Gewerkschaften historisch verankert. Volkswagen ist in den 2000er Jahren auf eine Art und Weise übernommen worden, die einzigartig ist. Porsche, ein Unternehmen, an dem der damalige Aufsichtsratsvorsitzende von Volkswagen gewichtiger Teilhaber war, hatte über die Jahre hinweg große Aktienpakete von VW aufgekauft, und sich plötzlich auf unfreundliche Art eine Mehrheitsbeteiligung über Optionen verschafft. Der Vorsitzende des Aufsichtsrates hat während all dieser Jahre nicht etwa sein Amt wegen Interessenkollision niedergelegt oder seine Beteiligung an Porsche verkauft, sondern sich dem Gremium zusammen mit den Gewerkschaften am Ende als weißer Ritter präsentieren können. Mit dem Effekt, dass er als Person großer Einzelaktionär und über die Aktionärsbindungsverträge gewichtiger und lange Zeit dominierender Teilhaber wurde.

Seit Jahrzehnten stehen sich Volkswagen und Bundesregierung sehr nahe. Bis Ende der 1980er Jahre war der Bund selber ein großer Teilhaber an VW. Unter dem Auto-Kanzler Schröder ließ sich dieser vom Personal-Direktor eine Reform des Arbeitsmarktes und der Sozialgesetzgebung auf die Bedürfnisse von Volkswagen und der Autoindustrie zuschneidern. Wiederholt setzten er und seine Nachfolgerin sowie die zuständigen Minister sich persönlich ein, um unliebsame Verschärfungen der Emissionswerte in Deutschland und in Brüssel zu verhindern.

Für einen Konzern von der Größenordnung von VW kennzeichnet diesen eine einzigartige Konzentration von Entscheidungs- und Kontrollmacht. VW hat weltweit 600.000 Beschäftigte, davon rund die Hälfte in Deutschland. Im Konzern sind 12 Marken vertreten, was außergewöhnlich ist. Speziell ist dabei die Konstellation, dass ein Multimarken-Portfolio mit geringer Autonomie der meisten Marken koexistieren. Vieles wurde zentral in Wolfburg entschieden. Die Entscheidung über die Produktentwicklung oblag dem Vorstandschef des Konzerns, der ebenfalls gleichzeitig Entwicklungschef war. Diese Machtkonzentration war der Kern des Erfolgs, aber auch der damit verbunden Risiken. Der Aufsichtsratsvorsitzende wie der Konzernchef waren große Visionäre und Unternehmer der Industrie, die zielgerichtet an einem einzigartigen und speziellen Geschäftsmodell zimmerten. Wer nicht hineinpasste, wurde kaltgestellt oder musste gehen. Eine kritische Unternehmenskultur konnte sich so nicht etablieren.

Für die Sonderentwicklung der deutschen Premiumhersteller in den letzten 20 Jahren spielt der Diesel als Antrieb eine wichtige Rolle. Der Diesel war die Antwort der deutschen Premium-Hersteller auf die CO2-Ziele der Europäischen Union und auf die gestiegenen Erdölpreise. Die deutschen Premium-Hersteller haben dabei im globalen Kontext einen Sonderweg eingeschlagen. In den USA und in Asien spielt der Dieselmotor keine oder eine sehr geringe Rolle für Personenwagen. Die deutschen Autohersteller, welche in diesem Markt ohnehin nicht überrepräsentiert sind, versuchten vor allem mit dem Diesel einen Anteil am Markt zu bekommen.

Der Dieselmotor hat einen einfachen Vorteil, er hat den höchsten Wirkungsgrad, deutlich besser als Benzin- oder Elektromotoren. Damit der Dieselmotor diesen konstruktionsbedingten Vorteil voll ausnützen konnte, waren verschiedene Voraussetzungen wichtig: Turbo-Aufladung, Direkteinspritzung, innermotorische Verbesserungen und Abgasfilter. Die Kombination von Turbo-Aufladung und Direkteinspritzung hat die Drehmomente der Dieselmotoren pulverisiert und sie in Größenordnungen von Sportwagen versetzt. Damit diese genutzt werden konnten, brauchte es Innovationen bei den Getrieben. Innermotorische Verbesserungen, Katalysatoren und Partikelfilter waren nötig, um die beim Diesel beziehungsweise bei der Direkteinspritzung anfallenden Rußpartikel und Abgase zu vermeiden oder zu entsorgen.

Die deutschen Premiumhersteller, nicht nur der Volkswagen AG, sondern auch von BMW und Daimler, haben mit dieser Dieselstrategie den Automarkt in Europa in den 2000er Jahren überrollt. Sie waren damit nicht nur im Premium-, sondern auch im Mittelklasse- und Kompaktklasse-Segment erfolgreich. Der Anteil der Dieselmotoren an der Fahrzeugproduktion ist in Europa in den letzten 20 Jahren massiv angestiegen. Der Diesel ist zum bevorzugten Motor für die Oberklasse, für die SUV’s, und für obere Mittelklasse-Autos geworden. Nicht für Kleinwagen, dort blieben Benziner dominant. Bei Kompaktwagen halten sich Benziner und Diesel die Waage, bei Mittelklassewagen hat sich der Diesel ebenfalls durchgesetzt.

VW und Diesel ist eine speziell konflikthafte Geschichte. Volkswagen hat nämlich zunächst und teilweise bis 2008 eine von anderen Herstellern unterschiedliche Strategie verfolgt. VW setzte lange auf die Pumpe-Düse-Einspritzung statt auf das ursprünglich von Fiat entwickelte und dann an Bosch verkaufte Common-Rail. Zudem stand bei Volkswagen zunächst die innermotorische Optimierung statt des von Peugeot entwickelten Partikelfilters im Vordergrund. VW hat damals auf das langfristig falsche Pferd gesetzt, ohne große negative Folgen, aber auch ohne das Potential voll auszunutzen. Die Pumpe-Düse-Diesel waren nicht laufruhig, die Schadstoffwerte lagen viel höher als mit Partikelfiltern. Dennoch liefen die Verkäufe gut. Doch die Probleme mit stark überhöhten Emissionen dürften bei VW-Dieselmotoren keineswegs auf die Jahre 2009-14 und auf eine Motorenfamilie beschränkt , sondern gerade auch im Jahrzehnt davor weit verbreitet gewesen sein.

Summa summarum: Die deutsche Autoindustrie ist exponiert. Sie hat ein spezifisches Profil, sie ist ein Produzent von Premium-Automobilien mit hohen Preisen und Margen. Die Kunden vertrauen dem Markennamen dreier Großkonzerne und dem ‚Made in Germany’, ohne deren Messwerte zu hinterfragen oder genauer hinzusehen. Hunderte von Zulieferern und Hunderttausende von Beschäftigten hängen direkt und indirekt von diesem Kundenvertrauen ab. Die Fokussierung auf die Diesel-Technologie ist ein zentraler Erfolgsfaktor der deutschen Autoindustrie in Europa. Sie verkörpert die Kombination von Hochleistungsmotoren mit Wirtschaftlichkeit sowie der Propaganda und Wahrnehmung von niedrigen Emissionen. Wie kein anderes Unternehmen repräsentiert Volkswagen diese Exzellenz und Fokussierung. Von daher die außerordentliche Risikoexposition zum ‚Dieselgate’. Die Problematik weit überhöhter Emissionen ist aber nicht auf eine Motorenfamilie von VW und die Jahre 2009 bis 2014 beschränkt, sondern gerade bei Volkswagen bedingt durch die spezifische Dieselstrategie im vorangegangen Jahrzehnt endemisch. Die anderen beiden Premium-Hersteller wie ihre Zulieferer und Beschäftigten sind ebenfalls indirekt von den Zweifeln an der Vertrauenswürdigkeit betroffen. In den USA sind die deutschen Autobauer verglichen mit den japanischen und koreanischen Herstellern unterrepräsentiert, VW seit Jahren in Schwierigkeiten. Der Versuch, auf Clean Diesel zu setzen und sich dort neu zu positionieren, dürfte gescheitert (Volkswagen) beziehungsweise schwierig (BMW, Daimler) sein.


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