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Der Satiriker Jan Böhmermann hat in einer Sendung ein Gedicht verlesen, in dem der türkische Präsident einer „Schmähkritik“ unterzogen wurde. Mehrmals sagte Böhmermann, dass man genau da, was er jetzt sagen werde, in Deutschland nicht machen dürfe. Augenzwinkernd sagte er, dass das Video seiner Schmähkritik nicht im Internet verbreitet werden dürfe. Natürlich wurde es verbreitet – in voller Länge allerdings nur hier. Die Bild-Zeitung hat das Video auch verbreitet, allerdings seltsamerweise ohne die Einwürfe Böhmermanns („Das darf man jetzt nicht machen!“).
Zwar berichtet die Bild auch über den Kontext, doch die meisten Leute wollen sich nur das Video ansehen – und werden daher den Fall Böhmermann nicht erkennen. Damit war die Erregung der Zuseher programmiert. Einen Tag nach der Erstausstrahlung hat das ZDF den Beitrag aus seiner Mediathek gelöscht. Die Begründung laut ZDF-Mitteilung: „Die Parodie im ,Neo Magazin Royale‘ vom 31. März zum Umgang des türkischen Ministerpräsidenten mit Satire entspricht nicht den Ansprüchen, die das ZDF an die Qualität von Satiresendungen. Aus diesem Grund wurde die Passage aus der Sendung entfernt.“
Es ist völlig unklar, warum das ZDF nicht vor der Ausstrahlung erkannt hat, dass die Satire, die vor allem aus schweren Beleidigungen und Schmähungen bestand, nicht seinen „Ansprüchen“ genügt. Das künstlerische Niveau ging nicht über die Qualität einschlägiger Beschimpfungen auf deutsch-türkischen Foren hinaus, welche gemeinhin nicht zum Weltkulturerbe gezählt werden. Offenbar genügen die Ansprüche des ZDF auf eine verantwortungsbewusste Sendungsgestaltung nicht dem Standard von normalen Redaktionen: In jedem anderen Medium hätte ein Redakteur rechtzeitig darauf hingewiesen, dass es nicht möglich ist, jemandem Kinderschänderei und Sodomie zu unterstellen. Ganz abgesehen, dass es jedem durchschnittlichen Redakteur aufgefallen wäre, dass es in höchstem Maße geschmacklos ist, Schwule im Vorübergehen zu diskriminieren. Dafür braucht man keinen Zensor, wenn die redaktionellen Abläufe funktionieren. In jeder „normalen“ Redaktion gibt es einen Chef vom Dienst, einen Textchef, einen Chefredakteur und einen Justitiar, der so etwas vorher prüft. Einer von diesen hätte erkennen müssen, dass es hier um die sogenannte „Verbreiterhaftung“ geht, ein allgemeines Rechtsinstitut im deutschen Presserecht.
Schon in den Tagen davor hatte sich die deutsche Medien-Öffentlichkeit tagelang mit einem anderen Satire-Video beschäftigt.
Als Gebührenzahler muss man fragen: Warum missbrauchen die Sender die Milliarden, die sie mit Zwang von jedem Haushalt einstreifen, für derartige Ablenkungen und berichten nicht mit voller Kraft von dem, was wirklich wichtig ist? Die Pressefreiheit der öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland ist das geringste Problem, mit dem sich Europa heute beschäftigen muss. Warum werden die Ressourcen nicht eingesetzt, um über den Krieg der Regierung Erdogans gegen die Kurden ausführlich und investigativ zu berichten? Wo waren die Undercover-Journalisten der Sender, die die Botschafter zu den Prozessen gegen die kritischen Journalisten begleitet haben? Wo ist die investigative Arbeit der Sender, die den Anschuldigungen des jordanischen Königs nachgeht, der gesagt hatte, die türkische Regierung schicke gezielt Terroristen nach Europa?
Warum werden nicht die Kräfte gebündelt, um den Vorwürfen von Amnesty International nachzugehen, wonach die Türkei seit Wochen Flüchtlinge nach Syrien zurückschickt? Warum wird das Augenmerk der deutschen Öffentlichkeit nicht mit Beharrlichkeit auf die Menschenrechte der Flüchtlinge und Einwanderer in der Türkei gelenkt? Wo sind die Sondersendungen, die den Verstrickungen der Türkei in die Finanzierung und Bewaffnung der Terror-Miliz IS nachgehen? Genau dafür stehen die Cumhuriyet-Journalisten nämlich vor Gericht. Man würde sie wirklich unterstützen, indem man ihre Recherchen fortführt. Sie haben nämlich nicht einfach ein Schmähgedicht vorgelesen, sondern riskierten Kopf und Kragen mit investigativem Journalismus.
Stattdessen entfesselt das ZDF eine Debatte über den begabten Anarchisten Jan Böhmermann - und liefert Erdogan einen willkommenen Vorwand, den Blick weg von den wirklich gefährlichen Entwicklungen in seinem Land zu lenken. Karl Kraus schrieb 1919 in der „Fackel“: „Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten.“
Knapp hundert Jahre später kann man ergänzen: „Wo wir starren, zwinkert die Moral.“ (Karl Kraus, ebda.)