Deutschland feiert sich wegen der Fußballweltmeisterschaft zurecht. Jedoch ist kein Übermut am Platze. Anders als unser Weltmeisterteam, das sich als „die Mannschaft“ bewundern lässt, ist das Land und seine Sozialstruktur durchaus keine Mannschaft, sondern eher das Gegenteil davon.
Die Risse in der sozialen Landschaft sind unübersehbar geworden. Die Kraft, dieses Übel an der Wurzel zu kurieren, fehlt. Der Mindestlohn kommt auf einem viel zu niedrigen Niveau, mit zu vielen Ausnahmen und darf erst ab 2017 an die Preisentwicklung angepasst werden, wobei nicht einmal klar ist, wie dies mangels stimmberechtigter unabhängiger Mitglieder der dafür eingesetzten Kommission geschehen soll. Die diskriminierende Leiharbeit, ein Kernstück des wuchernden Niedriglohnsektors, soll nur mit einigen schon fast lächerlichen Schrittchen eingedämmt werden. So will die Bundesregierung den maximalen Zeitraum, den ein Unternehmen einen Leiharbeiter einsetzen darf, von bisher 24 Monaten auf 18 Monate beschränken und den Unternehmen vorschreiben, ihren Leiharbeitern schon ab neun Monaten Einsatz im selben Betrieb den gleichen Lohn wie der Stammbelegschaft zu zahlen. Doch nur jeder vierte Leiharbeiter ist länger als neun Monate im selben Unternehmen beschäftigt.
An die schlimmen mit Hartz IV geschaffenen Ungerechtigkeiten traut sich erst recht nicht einmal die SPD heran, die immer noch das unselige Schrödersche Erbe pflegt. Die auch wegen der demographischen Probleme dringend nötige Überholung des deutschen Bildungssystems fällt der Sparwut der Regierung zum Opfer.
Die Weltmeisterschaftstrikots zieren eine multikulturelle Mannschaft. Doch dieses Bild täuscht ebenfalls, denn bei der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund sieht es in Deutschland eher schlecht aus. Es ist zu befürchten, dass Ausländer, die mit gutem Bildungshintergrund jetzt aus den Eurokrisenländern zu uns kommen, zurückkehren werden, sobald die Krise in deren Heimatländern überstanden ist. Bei uns bleiben werden dann vor allem Menschen, die überwiegend ein für den Arbeitsmarkt unzureichendes Bildungsniveau haben. Dieses seit einiger Zeit entstehende Subproletariat wird nicht imstande sein, die dramatischen Lücken zu füllen, die die miese demographische Entwicklung der deutschstämmigen Bevölkerung in das Arbeitskräftepotenzial schon reißt und vor allem noch reißen wird, zumal wenn die Arbeitnehmer nun abschlagsfrei früher in Rente gehen können.
Der derzeitige Wirtschaftserfolg steht auf tönernen Füßen. Erstens sieht auch eine kleine Zuwachsrate noch gewaltig aus, wenn sie durchaus künstlich immer wieder mit den Krisenwirtschaften der Euroländer genüsslich verglichen wird. Zweitens rüstet Deutschland schon seit Jahren mit seinem Export von Maschinen und Anlagen seinen am Ende schärfsten Konkurrenten, nämlich China, auf, der in wenigen Jahren wichtige deutsche Absatzmärkte übernehmen und erst recht von Einfuhren aus Deutschland unabhängiger sein wird.
Der Pferdefuß der derzeit besseren deutschen Wirtschaftslage im Vergleich zu den Europartnern hat viele Facetten. Die Krisenländer und Frankreich lassen mit ihrer Mehrheit in der EZB die deutschen Sparer bluten und haben die Vergemeinschaftung der horrenden Schulden ihrer Banken gegen anfänglichen deutschen Widerstand durchgesetzt. Auf deutsche Interessen wird nur noch wenig Rücksicht genommen, zumal Deutschland bei vielen seiner Nachbarn als Musterschüler inzwischen denkbar unbeliebt geworden ist.
Der durchaus deutschfreundliche Kommentator der Financial Times, Gideon Rachman, weist in diesem Zusammenhang unter der Überschrift „Ein goldener Augenblick für Deutschland, der nicht dauern könnte“ und einem netten Cartoon auf eine Meinungsumfrage von vor einigen Tagen hin, welches Land man als Fußballweltmeister sehen möchte. In Spanien, Griechenland, den Niederlanden und Großbritannien wurde Deutschland als eines der zwei am wenigsten gewünschten Ländern ausgewählt.
Solange es uns wirtschaftlich einigermaßen gut geht, muss uns diese Stimmung nicht kratzen. Aber wehe, wenn auch in Deutschland eines möglicherweise nicht fernen Tages diese oder eine andere Krise Einzug hält.