Zum Schulanfang im Kriegsgebiet Ostukraine schweigen erstmals seit sechs Monaten wieder die Waffen. So hatten es die Konfliktparteien - das Militär und die Rebellen im Donbass - in der vergangenen Woche vereinbart. Doch wie lange der Frieden angesichts der zuletzt immer wieder brüchigen Waffenruhe diesmal hält, da will sich niemand festlegen.
Für Präsident Petro Poroschenko ist die Feuerpause im Donbass der einzige Lichtblick angesichts der zugespitzten Lage in Kiew. Er hatte zuletzt versucht, mit der ukrainischen Armee im Osten Terrain zu gewinnen, scheiterte jedoch am Widerstand von Frankreich und Deutschland. Die EU, die die Regierung Poroschenko unterstützt, konnte auch die mahnenden Worte von Russlands Präsident Putin nicht ignorieren. Die Russen haben sich nach Ansicht der meisten Beobachter in den vergangenen Wochen bewusst zurückgehalten. Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger sagte, Putin habe nie einen Krieg in der Ukraine gewollt und sei vom Westen in eine Rolle gedrängt worden, die er gar nicht spielen will.
Nun droht der Allianz aus EU und den USA jedoch das totale Chaos bei ihren eigenen Verbündeten: Zum ersten Mal gehen der Regierung wichtige Gefolgsleute scharenweise von der Fahne. Nach der blutigen Gewalt mit Schüssen und einer Explosion im Zentrum von Kiew ist das Land wie in einer Schockstarre. Die von Poroschenko im Parlament eingebrachte Verfassungsreform, die dem Kriegsgebiet die Tür zu Sonderrechten öffnen soll, hat die Politik in dem krisengeschüttelten Land noch tiefer gespalten. Die nur der Form halber gebildete Regierungskoalition droht zu zerbrechen.
Nicht nur die rechtsextreme Radikale Partei mit ihren 21 Abgeordneten schmeißt die Arbeit in dem Zweckbündnis komplett hin. Auch andere Mandatsträger verlassen die Koalition. Keiner in Kiew will glauben, dass Poroschenko unter diesen Umständen seine auch auf Druck der USA und der EU angestrebte Verfassungsreform noch in der Obersten Rada durchbekommen kann. Die dafür nötigen 300 Stimmen sind nicht in Sicht. Auch Julia Timoschenko, die mächtige und von Angela Merkel zeitweise hofierte Oligarchin, verweigert Poroschenko die Gefolgschaft.
Angesichts der Regierungskrise versuchte der Staatschef, wenigstens der Lage im Donbass etwas Gutes abzugewinnen. „Bereits den fünften Tag wird an der Front nicht aus Artillerie und Mörsern geschossen. Den fünften Tag sterben keine ukrainischen Soldaten mehr“, sagte er erleichtert. Doch die Zeit für eine vollständige Umsetzung des im Februar in Minsk (Weißrussland) vereinbarten Friedensplanes läuft ihm davon. Dass Poroschenko die Toten unter den Rebellen und vor allem in der Zivilbevölkerung im Donbass nicht erwähnt, gehört zum schlechten Stil des Oligarchen.
Militärisch hat Poroschenko nichts erreicht. Die Rebellen, die sich mit Sicherheit auf russische Hilfe stützen konnten, haben ihre Bastionen gehalten. Die ukrainische Armee hat keine Kampfmoral mehr. Die Rechtsextremen pfeifen auf die Regierung. Sie agieren nach eigenem Gutdünken. Der Versuch, den Extremisten Dimitri Jarosch in die Armee zu integrieren, ist gescheitert. Mit der Ernennung des ehemaligen georgischen Präsidenten Saakaschwili zum Gouverneur von Odessa hat sich Poroschenko einen weiteren Unruheherd geschaffen. Die Lage in Odessa kann jederzeit wieder explodieren. Der von den USA unterstützte Saakaschwili hat mit den Russen noch eine Rechnung offen und wird gewiss nicht als Friedensengel in die Geschichte eingehen.
Offiziell, so lautet die Frist, bleiben nur noch vier Monate. Experten bezweifeln aber, dass in dieser Zeit der Frieden zu schaffen ist. Die Liste der bisher nicht erfüllten Minsker Beschlüsse ist lang: Es geht um den Austausch von Gefangenen, den Abzug von Waffen und darum, wie überhaupt die Zukunft des Donbass aussehen soll. Dazu fordern vor allem die Russen immer wieder einen direkten Dialog zwischen Poroschenko und den Aufständischen sowie ein rasches Ende der finanziellen und wirtschaftlichen Blockade durch Kiew.
Nach den gewaltsamen Protesten von Ultranationalisten gegen seinen Kurs dürfte Poroschenko nun vor Gesprächen mit Vertretern des Donbass noch mehr als ohnehin schon zurückschrecken. Und neuer Zündstoff ist in Sicht.
Gegen den Widerstand der ukrainischen Regierung organisieren die Rebellen ihre eigenen Wahlen im Oktober. Demonstrativ führten die Aufständischen in Luhansk zudem nun den russischen Rubel als offizielles Zahlungsmittel ein. Mehr denn je dürfte Poroschenko keine Fehler mehr leisten, sagte der Politologe Taras Beresowez in Kiew der dpa. Die Regierung müsse sich weiter formal an die Verpflichtungen von Minsk fügen, um den Westen weiter in den Verhandlungen zu halten. Von einem Spiel auf Zeit für Poroschenko sprechen mehrere Abgeordnete. Doch auch die Fraktion der Befürworter eines Krieges im Donbass bleibt groß.
Ein Einlenken der von Moskau unterstützten Führer der abtrünnigen Gebiete Donezk und Luhansk ist nicht absehbar. Der Politologe Wladimir Gorbatsch glaubt nicht an eine Umsetzung der Minsker Beschlüsse. Er vertritt im dpa-Interview die westliche Lesart, dass die Separatisten mit ihren eigenen Wahlen das in der Ukraine ohnehin umstrittene Sondergesetz für den Donbass überflüssig machen würden. Die Schuld für das Scheitern einer friedlichen Lösung der Krise könnte Poroschenko dann - wie bisher schon - Russland und den Rebellen zuschieben. Im Dezember könnte Poroschenko dann die Verfassung ohne den umstrittenen Passus dem Parlament vorlegen und doch noch durchkriegen.
Bis dahin versinkt das Land weiter im Chaos. Trotz des Schuldenschnitts mit den internationalen Gläubigern kann Russland im Dezember einen weiteren Trumpf aus dem Ärmel ziehen: Moskau hat sich nicht am Schuldenschnitt beteiligt, die Ukraine muss eine Anleihe bedienen. Vermutlich wird dies nur mit europäischen Steuergeldern möglich sein. Die sind jetzt schon in Milliarden-Höhe nach Kiew geflossen. Bezahlt wurden Kredite und der IWF. Dem Land wirtschaftlich geholfen haben die Kredite nicht. Der Economist hat das Fiasko beschrieben. Die Zahlen lassen keinen Zweifel daran, dass der Ukraine das Schlimmste erst bevorsteht.