Politik

Tsipras nach Unglück in der Ägäis: „Ich schäme mich für Europa“

In der Ägäis sind am Freitag erneut zahlreiche Flüchtlinge ertrunken. Die Zusammenarbeit der EU-Staaten funktioniert nicht mehr. Die EU-Kommission veröffentliche Zahlen, die belegen: Die EU-Staaten zahlen nicht einmal ihre Beiträge an das UNHCR für die Hilfe in den Krisengebieten.
30.10.2015 17:06
Lesezeit: 2 min

Die Ägäis wird zum Grab für immer mehr Flüchtlinge. Allein in der Nacht zum Freitag kamen vor den griechischen Inseln mindestens 22 Menschen bei einem Bootsunglück ums Leben, darunter zehn Kinder. In der türkischen Ägäis starben vier Kinder bei einer weiteren Flüchtlingstragödie. Damit sind in den ersten zehn Monaten 2015 bereits 3329 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken, mehr als im gesamten Jahr 2014 (3279 Tote), wie die Internationale Organisation für Migration mitteilte. Viele Flüchtlinge kommen aus Syrien, wo seit viereinhalb Jahren ein Bürgerkrieg tobt. Die meisten wollen nach Deutschland.

Der griechische Regierungschef Alexis Tsipras zeigte sich im Parlament am Morgen tief betroffen von den wiederholten Bootsunglücken. «Als Mitglied der Führung Europas schäme ich mich.» Das eine Land schiebe das Problem dem anderen zu, die Wellen spülten nicht nur tote Migranten, sondern auch die europäische Kultur an Land. Doch Griechenland kann das Problem offenbar auch nicht lösen: Tsipras schlug nämlich vor, die Registrierungszentren (Hotspots) von den griechischen Inseln in die Türkei zu verlagern, damit die Menschen nicht die gefährliche Seereise auf sich nehmen müssen.

Die Route von der türkischen Westküste nach Lesbos wird derzeit immer noch von vielen Flüchtlingen genutzt, obwohl sich das Wetter verschlechtert hat. Für das Wochenende sagt der staatliche griechische Wetterdienst Sturm und starken Seegang voraus. Helfer auf Lesbos befürchten, dass die Zahl der Toten weiter steigt.

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen teilte mit, ihre Teams unterstützten Überlebende auf den Inseln Leros und Kalymnos. Pro Asyl forderte ein rasches Eingreifen der Europäer. Die Situation auf Lesbos und anderen griechischen Inseln sei katastrophal, teilte die Organisation mit. «Die Helfer sind am Limit und mit dem Massensterben überfordert.» Auch Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt zeigte sich bei einem Besuch auf Lesbos tief erschüttert.

«Nachts ist es besonders schlimm, dann wird der Wind noch stärker», sagt der Brite Faruk Divelli, der mit anderen Privatleuten auf Lesbos hilft. «Wir entzünden Feuer am Strand, damit die Flüchtlinge sehen, wo sie hinsteuern müssen.» Wenn die Menschen das rettende Ufer erreichen, spielen sich dramatische Szenen ab, berichtet der 48-jährige. «Sie sind durchnässt, unterkühlt und traumatisiert, wir haben halbtote Kinder von den Booten geholt, mit Wasser in der Lunge. Und wir haben nicht einmal genug Rettungsdecken, Wasser und Medikamente für sie.»

Divelli und seine Mitstreiter kommen aus Bolton bei Manchester. Innerhalb einer Stunde hat die Gruppe am Vormittag bereits drei überfüllte Boote mit jeweils rund 40 Flüchtlingen geborgen und die Menschen notdürftig versorgt. Die Gemeinde in der Heimat unterstützt die Initiative, aus Bolton sollen in den nächsten Tagen 22 Paletten mit Hilfsmitteln geliefert werden. Fassungslos ist Divelli über die Tatsache, dass auf Lesbos hauptsächlich Privatleute und Nichtregierungsorganisationen helfen. «Man sieht keine staatlichen Helfer, nur Freiwillige aus aller Herren Länder.»

Die EU-Kommission listete am Freitag erfüllte und ausstehende Zusagen aller 28 EU-Staaten bei der Bereitstellung von Personal und Geld zur Bewältigung der Einwanderungsströme auf. Demnach fehlen rund die Hälfte der zugesagten 5,6 Milliarden Euro, mit denen die EU afrikanische Länder, Anrainerstaaten Syriens sowie das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR unterstützen will. Während Großbritannien mit 137 Millionen Euro bisher den größten Beitrag geleistet hat, steuern Zypern mit 20.000 Euro und Kroatien mit 40.000 Euro die wenigsten Mittel bei. Deutschland hat den Angaben zufolge 123 Millionen Euro zugesichert und Österreich 36 Millionen Euro.

Auch bei der Bereitstellung von Personal für die EU-Grenzschutzagentur Frontex und die EU-Asylbehörde Easo hinken viele EU-Staaten hinterher. Von den rund 750 Frontex-Grenzschützern sind bisher nur rund 350 zugesagt, bei Easo sind es weniger als die Hälfte der angepeilten 374 Mitarbeiter.

Zeit lassen sich die Mitgliedsländer zudem bei der vereinbarten Verteilung von 160.000 Flüchtlingen - bisher haben 14 EU-Staaten insgesamt 1375 verfügbare Plätze gemeldet, davon vier in Litauen und zehn in Deutschland. Die Bundesrepublik kämpft allerdings schon jetzt mit dem Zustrom Hunderttausender Migranten, die sich bereits in der EU befinden und nicht vom Verteilungsschlüssel erfasst sind. Auf Grundlage des Systems wurden bisher lediglich 86 Flüchtlinge aus Italien Richtung Schweden und Finnland gebracht.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Politik
Politik Militär statt Frieden? Was das EU-Weißbuch 2030 wirklich bedeutet
19.07.2025

Mit dem Weißbuch „Bereitschaft 2030“ gibt die EU ihrer Sicherheitspolitik eine neue Richtung. Doch Kritiker warnen: Statt...

DWN
Politik
Politik Nordkoreas Kronprinzessin: Kim Ju-Ae rückt ins Zentrum der Macht
18.07.2025

Kim Jong-Un präsentiert die Zukunft Nordkoreas – und sie trägt Handtasche. Seine Tochter Kim Ju-Ae tritt als neue Machtfigur auf. Was...

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Birkenstock: Von der Orthopädie-Sandale zur globalen Luxusmarke
18.07.2025

Birkenstock hat sich vom Hersteller orthopädischer Sandalen zum weltweit gefragten Lifestyle-Unternehmen gewandelt. Basis dieses Wandels...

DWN
Politik
Politik 18. Sanktionspaket verabschiedet: EU verschärft Sanktionsdruck mit neuen Preisobergrenzen für russisches Öl
18.07.2025

Die EU verschärft ihren wirtschaftlichen Druck auf Russland: Mit einem neuen Sanktionspaket und einer Preisobergrenze für Öl trifft...

DWN
Politik
Politik China investiert Milliarden – Trump isoliert die USA
18.07.2025

China bricht alle Investitionsrekorde – und gewinnt Freunde in aller Welt. Trump setzt derweil auf Isolation durch Zölle. Wer dominiert...

DWN
Finanzen
Finanzen Energie wird unbezahlbar: Hohe Strom- und Gaskosten überfordern deutsche Haushalte
18.07.2025

Trotz sinkender Großhandelspreise für Energie bleiben die Kosten für Menschen in Deutschland hoch: Strom, Gas und Benzin reißen tiefe...

DWN
Finanzen
Finanzen Finanzen: Deutsche haben Angst um finanzielle Zukunft - Leben in Deutschland immer teurer
18.07.2025

Die Sorgen um die eigenen Finanzen sind einer Umfrage zufolge im europäischen Vergleich in Deutschland besonders hoch: Acht von zehn...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Kursgewinne oder Verluste: Anleger hoffen auf drei entscheidende Auslöser für Börsenrally
18.07.2025

Zölle, Zinsen, Gewinne: Neue Daten zeigen, welche drei Faktoren jetzt über Kursgewinne oder Verluste entscheiden. Und warum viele...