Politik

EU-Kommission: Haben kein Mandat zum Abbruch der Türkei-Verhandlungen

Die EU-Kommission sieht derzeit kein Mandat, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen. Ein solches Mandat erfordere einen einstimmigen Beschluss der Mitgliedsstaaten.
05.09.2017 01:30
Lesezeit: 3 min

Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..

Die EU-Kommission sieht aktuell kein Mandat, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beenden. Dies hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel am Sonntag überraschend gefordert.

Merkel hatte sich bisher immer zurückhaltend geäußert, einen Beitritt der Türkei aber nicht derart kategorisch ausgeschlossen wie im TV-Auftritt mit SPD-Chef Martin Schulz (Video am Anfang des Artikels). Merkel sagte noch im Januar 2016 in ihrem wöchentlichen Video-Podcast: "Da ist noch ein sehr langer Weg zu gehen." Auf die Frage, ob die Türkei damit rechnen könne, in zehn Jahren EU-Mitglied zu sein, antwortete Merkel, es sei angesichts des gegenwärtigen Standes "nicht sachgerecht", eine Jahreszahl zu nennen.

Die EU-Kommission ist in den vergangenen Wochen auf Distanz zur Türkei gegangen. Bei der Jahreskonferenz der EU-Botschafter sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, die Frage eines Abbruchs der Beitrittsverhandlungen sei "rein theoretisch, da es im Moment keine Verhandlungen gibt". Juncker sagte, er glaube, der türkische Präsident Erdoğan wolle, dass die EU die Verhandlungen abbricht, "um die Schuld auf die EU und nicht auf die Türkei zu lenken". Juncker: "Ich möchte, dass das türkische Volk versteht, dass es die aktuelle Regierung – das Erdoğan-System – ist, die den Beitritt der Türkei zur EU unmöglich macht, und nicht wir."

Ein Sprecher der EU-Kommission sagte den Deutschen Wirtschafts Nachrichten: "Entscheidender Adressat einer solchen Aussage der Bundeskanzlerin sind die Mitgliedstaaten – die entscheiden darüber, und zwar einstimmig, mit wem über einen Beitritt verhandelt wird. Die Kommission führt die Verhandlungen im Auftrag der Mitgliedstaaten."

Der Sprecher sagte zu den Vorbeitrittshilfen: "Die Vorbeitrittshilfen gehen nicht in den türkischen Staatshaushalt. Da das Geld nicht ,an die Türkei‘ geflossen ist, sondern in konkrete Projekte (oft auch mit nichtstaatlichen Akteuren), müsste das Geld in diesem Fall auch nicht ,von der Türkei‘ zurückgezahlt werden."

EU-Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn hatte in seiner Pressekonferenz Ende Juli erneut darauf hingewiesen, dass er das Instrument der Heranführungshilfe (Instrument for Pre-Accession Assistance (IPA)) für die Türkei nicht einstellen kann, solange die EU-Mitgliedstaaten sich gegen den Abbruch der Beitrittsverhandlungen aussprechen.

An Heranführungshilfe sind für die Türkei für den Zeitraum 2014 – 2020 insgesamt 4,45 Milliarden Euro eingeplant. Bisher wurden jedoch laut EU-Angaben nur 190,2 Millionen Euro ausgezahlt. Das Geld soll der Türkei bei der Anpassung an EU-Standards helfen. Die Hilfen wurden an unterschiedliche Gruppierungen ausgezahlt.

Die EU teilt dazu mit: "Die IPA-Unterstützung fokussiert sich seit der Einschränkung demokratischer Freiheiten in der Türkei auf die Förderung rechtsstaatlicher Projekte und der Zivilgesellschaft. So wird beispielsweise 23,7 Millionen Euro an ein Projekt zur Partizipation der Zivilgesellschaft in demokratischen Prozessen. Überwacht und verwaltet wird die Umsetzung von der EU-Delegation in Ankara."

In der Türkei waren die Reaktionen auf Merkels Aussagen verhalten, wenngleich ablehnend.

Der Sprecher des türkischen Präsidenten, İbrahim Kalın, hat sich am Montag zum Kanzler-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz geäußert. CNN Turk zitiert den Sprecher: "Es ist kein Zufall, dass das Kanzler-Duell von den Themen Türkei und unserem Präsidenten Erdoğan  dominiert wurde. Die Tatsache, dass Deutschland und Europa ihre eigenen und dringlichsten Probleme ignorieren, um die Türkei und Erdoğan zu attackieren, ist eine Reflexion ihres verengten Horizonts. Die Türkei-Gegnerschaft und die Schaffung eines Feindes ist zu einem Instrument der eigenen Erleichterung geworden. Gesellschaften, die sich ausschließlich über die Gegnerschaft gegenüber einem Feind definieren, werden ihre eigene Identität niemals definieren können. Die etablierten Parteien nehmen den Aufstieg des Populismus und der Feindseligkeit gegenüber dem ,Anderen' hin. Dies kann nur die Diskriminierung und den Rassismus beflügeln. Ist sich Deutschland darüber bewusst, dass es durch die Aufnahme von Mitgliedern der PKK und der FETÖ (Anm. d. Red. Gülen-Bewegung) nicht etwa die Demokratie, sondern die Putschisten verteidigt? Es ist völlig unwichtig, welche Partei die Bundestagswahl gewinnt. Denn wir sehen ganz deutlich, welcher Geist in Deutschland gewinnen wird. Merkel und Schulz haben während des gesamten Duells mit keinem Wort den Aufstieg des Rassismus und das Ausmaß der Diskriminierung erwähnt. Das zeigt, an welchem Punkt sich die deutsche Politik mittlerweile befindet. Die türkisch-deutschen Beziehungen werden zugunsten eines verengten Horizonts geopfert. Wir hoffen, dass sich diese Atmosphäre nach der Wahl verändert."

Die türkische Oppositions-Zeitung Yeni Çag kritisiert, dass sich Merkel und Schulz während des Kanzler-Duells in einem "Wettrennen der Türkei-Feindlichkeit" befanden.

Die türkischsprachige Website von BBC titelt: "Kalın wirft deutschen Politikern ,Horizont-Verengung' vor".

Die türkische Zeitung Hürriyet titelt: "İbrahim Kalıns Reaktion gegen Deutschland."

Die regierungsnahe Zeitung Takvim titelt: "Harte Reaktion gegen Deutschland."

Die Oppositions-Zeitung Aydinlik, die sich bisher für gute Beziehungen zwischen Deutschland, der Türkei und Russland eingesetzt hatte, berichtet, dass Merkel sich im Verlauf des Kanzler-Duells für Sanktionen gegen die Türkei eingesetzt hat. Das Blatt hat mittlerweile eine kritische Haltung gegenüber der Kanzlerin eingenommen.

Das nachrichtliche Analyse-Portal OdaTV, das regierungskritisch ist, hebt in einem Artikel hervor, dass Schulz sich für einen Abbruch der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei einsetzt.

Die türkischsprachige Ausgabe des russischen staatlichen Nachrichtensenders Sputnik titelt: "Reaktion von İbrahim Kalın auf Deutschland: Wir wissen, welcher Geist die Wahl gewinnen wird."

Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Experten-Webinar: Ist Bitcoin das neue Gold? – Chancen, Risiken und Perspektiven

Inflation, Staatsverschuldung, geopolitische Unsicherheiten: Viele Anleger fragen sich, wie sie ihr Vermögen in Zeiten wachsender...

X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Finanzen
Finanzen Hensoldt-Aktie auf Rekordjagd: Was Anleger jetzt wissen sollten
02.06.2025

Die Hensoldt-Aktie überrascht mit einem historischen Kursfeuerwerk – doch ist der Höhenflug gerechtfertigt? Anleger sollten genauer...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft KfW-Analyse: Mittelstand zieht sich aus dem Ausland zurück
02.06.2025

Eine aktuelle KfW-Analyse zeigt: Immer mehr Mittelständler ziehen sich aus dem Auslandsgeschäft zurück. Was steckt hinter dem Rückzug...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Personalstrategie: Warum Top-Kandidaten oft scheitern – und was das über unser System verrät
02.06.2025

Ein Blick hinter die Kulissen zeigt: Bei der Personalauswahl geht es immer weniger um Kompetenz – und immer mehr um Bauchgefühl,...

DWN
Finanzen
Finanzen Silber kaufen: Was Sie über Silber als Geldanlage wissen sollten
02.06.2025

Als Sachwert ist Silber nicht beliebig vermehrbar, kann nicht entwertet werden und verfügt über einen realen Gegenwert. Warum Silber als...

DWN
Politik
Politik Ukraine: Drohnenoffensive gegen Putins Luftwaffe – bringt der Verlust strategischer Bomber Russland zu Zugeständnissen?
02.06.2025

Mitten in den Vorbereitungen für neue Friedensverhandlungen in Istanbul verpasst die Ukraine dem Kreml einen historischen Schlag: Mit...

DWN
Technologie
Technologie „KI wird Menschen nicht ersetzen – aber Menschen, die sie nutzen, werden jene verdrängen, die es nicht tun.“
02.06.2025

Was kommt nach dem digitalen Wandel? Die dänische Futuristin Anne Lise Kjaer über multipolare Macht, echte Nachhaltigkeit und warum die...

DWN
Politik
Politik Polen-Wahl: Rechtskonservativer Karol Nawrocki gewinnt Stichwahl in Polen
02.06.2025

Der rechtskonservative Bewerber Karol Nawrocki hat die Polen-Wahl knapp gewonnen. Führende Medien des Landes erklärten ihn am frühen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Litauer übernehmen das Kommando im deutschen Windkraftsektor
02.06.2025

Während Deutschland plant und diskutiert, baut INIKTI längst: Der litauische Mittelständler treibt die Energiewende voran – dort, wo...