Nach der Parlamentswahl in Italien haben die Lega und die Fünf-Sterne-Bewegung Anspruch auf die Regierungsbildung angemeldet. Da aber auch nach Auszählung fast aller Stimmen kein Lager eine eigene Mehrheit errungen hat, dürfte Italien vor einer langwierigen Regierungsbildung stehen. "Wir haben das Recht und die Pflicht zu regieren", sagte Lega-Chef Matteo Salvini am Montag in Rom und erklärte seinen Mitte-Rechts-Block, dem auch die Forza Italia von Ex-Regierungschef Silvio Berlusconi angehört, zum Sieger. Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende der Fünf-Sterne-Bewegung, Luigi Di Maio, dessen Partei mit großem Abstand stärkste Kraft wurde. Er zeigte sich offen für Gespräche mit allen Parteien. Ex-Regierungschef Matteo Renzi kündigte nach dem schlechtesten Ergebnis seiner sozialdemokratischen Demokratischen Partei (PD) seinen Rücktritt und den Gang der PD in die Opposition an.
Bei der Wahl stimmte rund die Hälfte der Berechtigten für EU-kritische Parteien. Italien ist erheblich von der Flüchtlingskrise belastet. In den vergangenen Jahren kamen mehr als 600.000 Migranten nach Italien. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron räumte ein: "Italien hat, das ist unbestreitbar, für Monate und Monate unter der Zuwanderung gelitten."
Nach Auszählung fast aller Wahlkreise wird das Mitte-Rechts-Bündnis nach Angaben des Innenministeriums mit rund 37 Prozent zwar stärkste Kraft im Abgeordnetenhaus. Es verpasst jedoch die nötige Mehrheit zur Regierungsbildung. Die Lega legt kräftig zu auf rund 18 Prozent und überholt noch Berlusconis Forza Italia (knapp 14 Prozent).
"Wir sind in Europa, aber für ein anderes Europa", sagte Salvini. Zugleich bezeichnete er den Euro als eine "grundfalsche Währung". Ein Referendum über die Gemeinschaftswährung nannte er aber undenkbar. Die Märkte hätten nichts zu befürchten, sagte Salvini, der sich im Wahlkampf als EU-kritisch präsentiert und angekündigt hatte, rund 600.000 Migranten zurückzuschicken.
Die Lega, die das "Nord" aus ihrem Namen gestrichen hat und auch in Süditalien, wo viele Flüchtlinge und Migranten stranden, antrat, rief ihren Parteichef Salvini zum Kandidaten für das Amt des Regierungschefs und zum "Führer von Mitte-Rechts" aus. Lega und Forza Italia hatten ausgemacht, dass die stärkste Partei ihres Blocks den Kandidaten benennen soll. Berlusconi hatte vor der Wahl den Präsidenten des Europäischen Parlamentes, Antonio Tajani, vorgeschlagen.
Den Partito Democratico (PD) von Ministerpräsident Paolo Gentiloni und Parteichef Renzi ereilte das Schicksal vieler Sozialdemokraten in Europa: Sie wurden von den Wählern abgestraft und rutschten auf 19 Prozent ab. Das von der PD geführte Mitte-Links-Bündnis kommt auf 22 Prozent. Renzi kündigte am Abend seinen Rücktritt und den Gang der Partei in die Opposition an.
Die mit Abstand größte Einzelpartei wurde die Fünf-Sterne-Bewegung mit 32 Prozent. "Wir sind eine politische Kraft, die die gesamte Nation vertritt, und das führt uns an die Regierung Italiens", sagte Di Maio. Seine Partei nehme die Verantwortung ernst und sei offen für Gespräche mit allen Parteien. Das einst strikte Nein zu Koalitionen hatte Di Maio bereits vor der Wahl aufgeweicht, er war aber vage geblieben und hatte von Bündnissen nach den jeweiligen Politikfeldern gesprochen. Der Vorsitzende der Anti-Establishment-Partei sagte nun, er sei überzeugt, dass Präsident Sergio Mattarella wisse, wie er nach der Wahl mit Feingefühl vorgehe.
Seit dem Sieg Emmanuel Macrons bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich im Mai 2017 dominierte eine Frage die deutsche europapolitische Debatte: Würden Kanzlerin Angela Merkel und die nächste Bundesregierung auf die Reformvorschläge Macrons eingehen oder nicht? Auch im Koalitionsvertrag wird vor allem die deutsch-französische Abstimmung beschworen. Der Ausgang der italienischen Parlamentswahl am Sonntag dürfte die Debatte aber entscheidend ändern: "Spätestens seit gestern muss man sich große Sorgen um den Zustand der EU machen", sagte Gunther Krichbaum, Vorsitzender des Europaausschusses des Bundestages am Montag der Nachrichtenagentur Reuters. Der CDU-Politiker spricht bereits von einer drohenden "Zeitenwende". Denn läuft es schlecht, dürfte von der "Aufbruch"-Stimmung in der EU, die sowohl Macron als auch der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD beschwören, nicht mehr viel übrig bleiben.
"Wenn der drittgrößte Staat der Eurozone auf absehbare Zeit nicht sprechfähig ist, wird dies die EU-Reformdebatte massiv beeinflussen", meint auch Jana Puglierin, Europa-Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). "Die Hängepartie mit der SPD ist durch eine neue Hängepartie mit Italien abgelöst worden." Wie Krichbaum verweist sie darauf, dass bei der Wahl im südlichen Euro-Land mehr als 50 Prozent der Stimmen an europakritische bis europafeindliche Parteien gingen. "Traditionell wird Italien auch in der deutschen Debatte immer übersehen - dabei ist Italien der größte Risikofaktor in der Euro-Zone", sagt sie und verweist sowohl auf den hohen Gesamtschuldenstand als auch eine bisher nicht wirklich abgeschlossene Bankenreform.
Bereits im Eurobarometer im Mai 2017 deutete sich an, dass die Stimmung in Italien kippt. Damals sagten 68 Prozent aller Befragten, dass sie sich als EU-Bürger fühlten. Aber in Italien waren dies erheblich weniger: Nur 54 Prozent sahen sich als EU-Bürger, 46 Prozent aber nicht. Für DGAP-Expertin Puglierin ist dies auch Folge der Euro-Krise und dem von der italienischen Politik genährten Eindruck, das Land leide unter einer von Deutschland und der EU erzwungenen Sparpolitik. "Dazu kommt die Flüchtlingskrise, die in Italien wegen der ankommenden Menschen aus Libyen 2016 und 2017 eben nicht beendet war." Das Gefühl, von den EU-Partnern wegen der fehlenden Weiterverteilung im Stich gelassen zu werden, sitze tief.
"DIE ZEICHEN STEHEN AUF STURM"
Zwar war ein schwieriges Wahlergebnis in Italien seit längerem absehbar, weil die Wirtschaft nicht auf die Füße kommt und Anti-Migrations-Parteien wie die Lega Konjunktur haben. Dennoch werden Deutschland und Frankreich jetzt auf dem falschen Fuß erwischt, meint auch Krichbaum. Denn im Koalitionsvertrag hatten sich CDU, CSU und SPD mit Blick auf eine Antwort an Macron noch auf ein ambitioniertes Europa-Programm geeinigt. Um bei der Integration nach dem Brexit voranmarschieren zu können, bekennt sich die neue Bundesregierung sogar dazu, mehr Geld nach Brüssel zu überweisen.
Allerdings hatte man auch in der Bundesregierung schon vorher darauf verwiesen, dass die mediale Fixierung auf das deutsch-französische Paar zu kurz greife. Denn Macrons Ideen etwa eines Euro-Finanzministers oder eines sehr großen neuen Euro-Budgets waren auch in Nord- und Osteuropa auf Widerstand gestoßen. Das hatte der französische Präsident schon im vergangenen Jahr bei einem Sondertreffen in Tallinn zu spüren bekommen. Und als der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte vergangene Woche in Berlin war, betonte er ebenso wie zuvor Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz, dass er wenig von der deutsch-französischen Bereitschaft halte, mehr Geld nach Brüssel zu überweisen. Seine Regierung wolle das nicht.
Der Macron-Hype dürfte sich deshalb nach der Italien-Wahl dem Ende nähern, vermutet man laut Reuters auch in der Bundesregierung. Aber nun die vereinbarte Europa-Agenda noch vor der Regierungsbildung beiseite zu legen, findet CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer falsch - zumal noch niemand wisse, wer am Ende wirklich die Regierung in Rom stelle und ob die entstehende Koalition nicht doch europafreundlicher auftreten werde als die einzelnen Parteien dies bisher angekündigt haben. "Dennoch stehen die Zeichen auf Sturm", meint Puglierin. Denn die Parteien hätten allesamt im Wahlkampf kaum realisierbare Schritte wie Steuersenkungen versprochen, die das Land sehr schnell auf Kollisionskurs mit der EU bringen könnten.
Zudem herrscht unter EU-Diplomaten Ernüchterung über den kommenden EU-Gipfel am 23. März. Eigentlich sollte dann der Startschuss für EU-Reformen gegeben werden. Nun wird zwar eine Bundeskanzlerin mit Prokura, aber keine handlungsfähige italienische Regierung am Tisch sitzen. Und die EU muss sich gleichzeitig mit dem Austritt Großbritanniens, den Spannungen mit den osteuropäischen Partnern um die Einhaltung der Flüchtlingspolitik und Rechtsstaatsnormen und mit dem möglichen Schwenk Italiens von den Integrationsbefürwortern ins Lager der Integrationsgegner beschäftigen.