Fast auf den Tag genau vor 75 Jahren kapitulierte die Wehrmacht, vier Jahre später wurde die Bundesrepublik gegründet. In den folgenden Jahrzehnten übte der neu geschaffene Staat außenpolitische Zurückhaltung. In den ersten Jahren seiner Existenz verfügte er kaum über die notwendigen Kapazitäten, um sich zwischenstaatlich zu betätigen, war stattdessen primär mit seinem Wiederaufbau beschäftigt. Und später, als die notwendigen Kapazitäten vorhanden waren, standen die Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten einem stärkeren Engagement außerhalb der eigenen Grenzen im Weg – vor allem aber war die Bereitschaft zu einem solchen Engagement sowohl auf Seiten der Politik als auch der Bevölkerung schwach ausgeprägt. Lieber verließ man sich auf den (atomaren) Schutzschild der Nato, investierte einen vergleichsweise geringen Anteil seines Bruttosozialprodukts in die Landesverteidigung und konzentrierte sich darauf, eine ökonomische Wiederauferstehung im Rekordtempo zu meistern. Zur Veranschaulichung dieser Leistung: 1970 war die Bundesrepublik die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt – gerade einmal 25 Jahre nach der Stunde Null.
Spätestens 1990, nach Wiedervereinigung und Rückerlangung der vollständigen Souveränität, wurde klar, dass es mit den Zeiten der außenpolitischen Zurückhaltung vorbei war. Das Motto „militärisch ein Zwerg, politisch eine Mittelmacht, wirtschaftlich ein Gigant“, taugte nicht mehr länger zum Leitmotiv. Und tatsächlich: Sowohl die (außenpolitischen) Eliten als auch die Bürger erkannten und akzeptierten, zumindest bis zu einem gewissen Grad, die neuen Realitäten und Notwendigkeiten. Der 80-Millionen-Einwohner-Staat billigte sich selbst eine neue, eine führende Rolle innerhalb der EU, innerhalb Europas zu. Er trat – zumindest teilweise – selbstbewusster gegenüber dem „großen Bruder“ USA auf. Er bemühte sich um einen neuen Dialog mit Russland. Und er schickte sogar – vor der Wiedervereinigung völlig undenkbar – Soldaten zu Einsätzen in Europa, Asien und Afrika. Bundeskanzlerin Angela Merkel – wiewohl im eigenen Land umstritten – erwarb sich im Ausland hohes Ansehen; sowohl bei Regierungen und Staatenlenkern, aber auch der internationalen Presse (unter anderem zeichnete Forbes sie zehn Jahre hintereinander als „mächtigste Frau“ und zweimal als „zweitmächtigster Mensch der Welt“ aus).
Und was heißt das nun? Das alles gut ist? Im Gegenteil: Nichts ist gut. Deutschlands Gewicht in der Welt steht in keinem Verhältnis zu seiner tatsächlichen Bedeutung. Die viertgrößte Volkswirtschaft und in etwa fünfzehntgrößte Militärmacht sieht sich seit einigen Jahren Problemen gegenüber, auf die sie keine Antwort weiß. Wie mit der neuen Weltmacht China umgehen? Wie mit Putins Russland? Wie auf den Bedeutungsverlust und den schrittweisen Rückzug der USA aus ihrer internationalen Verantwortung? Und wie mit der fragilen Lage der EU und der ungeklärten Euro-Krise? Kurzum: Das Land im Herzen Europas, das potenteste EU-Mitglied, ist mit Herausforderungen konfrontiert, auf das es äußerst schlecht vorbereitet ist.
Eine neue Strategie
Ich fordere daher nicht weniger als dies: Die Bundesrepublik braucht eine neue Außenpolitik. Das Land muss internationaler werden. Im Denken, im Können, im Handeln. Deutschlands muss seinen Fokus neu ausrichten. Dieser ist immer noch in viel zu hohem Maße auf Süd-Niedersachsen, auf die Lausitz, auf den Schwarzwald gerichtet. Auch Dänemark, Frankreich und Österreich stehen zu sehr im Blickpunkt. Stattdessen muss von nun an global gedacht werden. Ein Land, das über keinerlei nennenswerte Rohstoffe verfügt, das seine Bevölkerung kaum selbstständig ernähren kann, das einen (verglichen mit China und den USA) vergleichsweise kleinen Binnenmarkt sein Eigen nennt, dessen Exportquote fast die Hälfte des Bruttoinlandprodukts beträgt: Solch ein Land muss überall dort, wo es Interessen hat, Präsenz zeigen – mit anderen Worten: Global.
Ich muss und ich will an dieser Stelle eines betonen: Ich kann und ich möchte in diesem Artikel keine ausdifferenzierte Blaupause für eine zukünftige deutsche Außenpolitik vorlegen. Das wäre ein herkulinische Aufgabe, die eine riesige Zahl von Bänden und Ordnern füllen könnte. Zumal derzeit nicht abzusehen ist, wie die Welt nach Corona aussehen wird.
Ich möchte allerdings eine grobe Strategie entwerfen, schließlich ist der Zeitpunkt dafür sehr gut geeignet. Zum einen, weil Corona einen Wendepunkt in den internationalen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen markieren könnte. Zum anderen, weil nächstes Jahr Bundestagswahlen sind – die Ära von Angela Merkel ist dann vorbei, ein neuer Kanzler wird Deutschlands Geschicke lenken. Es ist davon auszugehen, dass es jemand sein wird, der aus der Innenpolitik kommt und daher über wenig oder gar keine Erfahrung auf dem internationalen Parkett verfügt. Warum nicht jetzt schon damit beginnen, Grundzüge einer möglichen Strategie für diesen Kanzler zu entwerfen?
Deutschlands neue "Internationalität"
Wichtig wird zunächst sein, das neue Prinzip der „Internationalität“ in den Köpfen der Menschen zu verankern. „Internationalität“ muss ein Schlagwort werden, so wie beispielsweise „Digitalisierung“. Die Lehrpläne, vor allem die der Universitäten, müssen der neuen Aufgabe gerecht werden. Anders als in nahezu allen wichtigen Akteuren auf der internationalen Bühne (USA, China, Russland, Großbritannien, Frankreich) gibt es in Deutschland kaum praxisorientierte Studiengänge „Internationale Beziehungen“. Diese müssen eingeführt werden – genauso, wie mehr Länder- und Regional-Studiengänge. Bereits bestehende Studiengänge müssen entstaubt werden, der reine Literatur-Anteil verringert. Dafür müssen mehr praxisnahe Kenntnisse wie Wirtschaft, Alltagssprache und Recht in die Lehrpläne integriert werden.
Die Studenten sollten diese Änderungen als Chance begreifen. Wie viele Philosophen, Soziologen, Linguisten und Absolventen von Gender-Studiengängen braucht Deutschland? Politologen mit internationalem Schwerpunkt, Sinologen, Indiologen sowie Spezialisten für Russland, Osteuropa, den Nahen Osten, Latein Amerika, etc. mit soliden Sprach- sowie wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnissen werden in einer zunehmend globalisierten Welt dagegen immer mehr benötigt.
Darüber hinaus müssen junge Menschen wieder dahin gebracht werden, dass sie eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst, für den Staat, wieder als attraktiv ansehen – und zwar nicht nur deshalb, weil sie dort ein Anfangsgehalt der Besoldungsstufe A13 erwartet, die 38,5-Stunden-Woche und eine hübsche Pension. Sondern, weil in den jeweiligen Diensten, die sich internationalen Aufgaben widmen, nur die Besten tätig sein können, die sich dann – zu Recht – einer Elite zurechnen dürfen, wiewohl einer der Gesellschaft und ihrem Land dienenden Elite. Ich möchte an den Kalten Krieg erinnern, an KGB und CIA – dort dienten die Absolventen der besten Hochschulen.
Apropos Geheimdienste. Dienste wie der Bundesnachrichtendienst, weitere bereits existente und unter Umständen noch zu gründende Dienste: Sie müssen sich grundlegend ändern. Den Begriff „Dienst“ anstatt „Behörde“ gebrauche ich dabei bewusst: Das Miefig-Spießig-Piefige der derzeit existierenden deutschen Behörden, die sich mit internationalen Angelegenheiten befassen, muss der Vergangenheit angehören, die Dienste müssen über mehr Strahlkraft verfügen, mehr Flair ausstrahlen (dürfen).
Weiterhin müssen Denkfabriken eingerichtet werden, wobei diese ihre Erkenntnisse der breiten Bevölkerung zugänglich, überhaupt ihre Existenz den Menschen bewusst machen sollten (wer kennt heute schon die in der Bundesrepublik bestehenden Institutionen, die sich mit internationaler Politik befassen)? Begrüßenswert wäre es, wenn diese Einrichtungen nicht nur Ideen und Strategien entwickeln würden, sondern der Wirtschaft als Ansprechpartner zur Verfügung stünden.
Was die Wirtschaft anbelangt: Sie sollte sich an der Finanzierung der „Internationalisierung“ Deutschlands beteiligen – sie profitiert schließlich von ihr, und zwar in hohem Maße. Wäre es nicht möglich und angebracht, eine dementsprechende Abgabe oder Steuer einzuführen? Würden die Unternehmen nur ein Zehntausendstel, also 0,01 Prozent ihres Umsatzes zahlen (für VW beispielsweise wären das im Jahr 2019 rund 25 Millionen Euro gewesen), käme eine erkleckliche Summe zusammen.
Eine offene Diskussion
Den konkreten strategischen Grundlagen der zukünftigen deutschen Außenpolitik können wir uns, wie weiter oben bereits erläutert, in diesem Artikel nur sehr bedingt widmen. Aber wir sollten uns ein Lied ins Gedächtnis rufen, das der Dichter des Deutschlandliedes, der große Germanist Hoffmann von Fallersleben, in seine im Jahr 1842 publizierte Sammlung „Schlesische Volkslieder“ aufnahm und so vor dem Vergessen bewahrte. Es lautet „Die Gedanken sind frei“.
Die Gedanken sollten frei sein, wenn es zur Diskussion über eine zukünftige, eine neue deutsche Außenpolitik kommt. Die Überlegungen stehen ganz am Anfang – da ist es notwendig, dass neue, unter Umständen unkonventionelle Ideen geäußert werden dürfen. Und das alles Bestehende auf den Prüfstand kommt. Wer meint, in dieser Diskussion könne unbotmäßig an seinem Weltbild gerüttelt werden, möge sich einer Beschäftigung widmen, die seinem zarten Gemüt besser entspricht.
Als politisches und wirtschaftliches Kraftzentrum im Zentrum Europas, das vom freien Fluss der globalen Warenströmen abhängig ist wie kaum ein anderes Land, wird sich Deutschland außenpolitisch engagieren müssen – ob es will oder nicht. Für Europa ist es als Einzelstaat selbstverständlich groß genug – einige sagen, zu groß, – für die Welt jedoch zu klein. Das heißt: Es müssen Verbündete her. Welche das sein werden – darüber werden in naher Zukunft ausführliche, harte, ergebnisoffene Diskussionen geführt werden müssen. Wichtig wird sein, dass sich die Teilnehmer gegenseitig zuhören – beispielsweise die Transatlantiker denjenigen, denen eine Orientierung nach Russland vorschwebt, und umgekehrt. Auch die Zukunft Europas, die Zukunft der EU sowie Deutschlands Stellung in diesen beiden Gefügen bedarf der Debatte, genauso natürlich das Verhältnis zur aufstrebenden (globale Dominanz anstrebenden?) Weltmacht China.
Geklärt werden muss auch, wie Deutschland sich militärisch aufstellen will: Inwiefern ist es notwendig, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen (vor allem in Hinblick auf eine mögliche Verringerung des amerikanischen Engagements in Europa), und könnte dies sogar einen Stimulus der Wirtschaft bedeuten (hier sind Ökonomen gefragt; wie überhaupt das Konzept der „Internationalisierung“ von Interdependenz geprägt sein sollte)? Und schließlich: Soll Deutschland atomwaffenfrei werden, wie die SPD in ihrem 2007 veröffentlichten Grundsatzprogramm gefordert hat, soll es weiterhin auf die „nukleare Teilhabe“ setzen oder möglicherweise sogar den Besitz eigener Atomwaffen anstreben?
Erörtert werden muss auch unbedingt, welche Rolle die deutschen Auslandsdienste spielen sollen: Eine analytisch-kooperativ-passive, wie es gegenwärtig der Fall ist, oder eine handlungsorientiert-eigennützig-aktive, so wie von anderen großen Mächten praktiziert. In diesem Zusammenhang lässt sich die Frage diskutieren, ob die Bundesrepublik die gegen sie gerichteten Spionage-Aktionen (auch seitens verbündeter Staaten) nicht mit gleichgearteten Aktivitäten beantworten sollte. Auch was davon zu halten ist, dass kein deutscher Dienst eine Rolle spielt bei notwendigen Unternehmungen wie der gegenwärtigen Untersuchung von Chinas Corona-Verschleierungstaktik durch die „Five Eyes“, bedarf der Diskussion.
Das "Nationale Interesse"
Abschließend möchte ich noch betonen, dass eine umfassende außenpolitische Strategie einer theoretischen Grundlage bedarf. Diese darf nicht zum Selbstzweck ausarten; sprich, darf nicht als notwendig erkannten konkreten Schritten und Maßnahmen im Wege stehen. Aber sie sollte den Wegweiser darstellen, mit Hilfe dessen sich die Verantwortlichen auf dem schwierigen außenpolitischen Terrain bewegen. Ein solcher Wegweiser bietet meines Erachtens das Werk des deutsch-amerikanischen Vordenkers auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen, Hans Morgenthau.
Der 1904 in Coburg geborene, in den 30er Jahren vor den Nationalsozialisten in die USA geflohene Völkerrechtler und Politikwissenschaftler jüdischen Glaubens entwirft eine Theorie der Außenpolitik, die auf den jeweiligen „nationalen Interessen“ ihrer Akteure, das heißt der einzelnen Staaten, basiert. In gewisser Weise ähnelt diese Theorie der des großen Urvaters der klassischen Nationalökonomie, Adam Smith. Ähnlich wie Smith im Wirken der „unsichtbaren Hand“ die Optimierung der Verteilungsgerechtigkeit erkannte, so sieht Morgenthau in der Verfolgung nationalstaatlicher Interessen einen Ausgleich zwischen den Staaten entstehen. Wer jetzt glaubt, Morgenthau würde dem rücksichtslosen Durchsetzen von Interessen, unter Umständen auch durch kriegerische Mittel, das Wort reden, der irrt: Krieg war für ihn primär das Ergebnis einer fehlgeleiteten Außenpolitik, welche die Interessen und Absichten des Gegenübers weder in intellektueller noch im gefühlsmäßiger Hinsicht nachzuvollziehen in der Lage ist.
Morgenthaus Ideen verdienen es, aufmerksam gelesen zu werden. Von außenpolitischen Falken und Tauben sowie von denjenigen, die einen Mittelweg suchen. Sprich, von allen, denen die Gestaltung einer neuen deutschen Außenpolitik am Herzen liegt. Möge die Diskussion beginnen.
Dieser Artikel erschien bereits am 17. Mai 2020. Wir veröffentlichen ihn aus Aktualitätsgründen erneut.