Politik

Jetzt entscheidet das Militär: Wird Bolsonaro abgesetzt?

Die Zustimmungsrate von Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro beträgt nur noch 33 Prozent. Droht ihm die Absetzung?
25.07.2020 08:29
Lesezeit: 4 min
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Jetzt entscheidet das Militär: Wird Bolsonaro abgesetzt?
Rio: Bolsonaro-Anhänger demonstrieren am Strand von Copacabana. (Foto: dpa) Foto: Leo Correa

Nachdem er die Bedeutung von COVID-19 monatelang heruntergespielt hatte, hat sich Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro selbst angesteckt. Seine Symptome sind bisher so mild, dass er weiterhin Interviews gibt und öffentlich auftritt, nicht zuletzt, um ein Bild der Stärke zu projizieren. Doch angesichts der Tatsache, dass Corona außer Kontrolle ist und sich die brasilianische Wirtschaft im freien Fall befindet, bröselt dieses Image rasch, und Rufe nach einer Amtsenthebung werden lauter. Auf dem Spiel stehen derzeit nicht nur Bolsonaros Präsidentschaft, sondern Leben und Lebensgrundlagen von Millionen von Brasilianern – jetzt und in der Zukunft.

Mit Stand 13. Juli hat Brasilien mehr als 1,8 Millionen COVID-19-Fälle und 72.000 Todesfälle gemeldet. Während die USA noch immer den Rekord für die meisten täglichen Neuinfektionen halten und fast jeden Tag einen neuen aufstellen, glauben viele Experten, dass Brasilien deutlich zu niedrige Zahlen meldet. Fakt ist auf jeden Fall, dass die Zahl der Toten mit jedem Tag steigt und dass die Sterberate unter jungen Leuten deutlich höher ist als in den entwickelten Ländern. Experten schätzen, dass die Pandemie 34 Millionen Brasilianer infizieren könnte (was 16 Prozent der Gesamtbevölkerung von 211 Millionen entspricht).

„Der Tod ist unser aller Schicksal“, witzelte Bolsonaro kürzlich. Aber das heißt nicht, dass man ihn nicht verzögern kann. Allein in den letzten Jahrzehnten hat Brasilien dank der wirksamen Zusammenarbeit zwischen seiner Regierung, seinem Gesundheitssystem und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Malaria, Zika, HIV und die Schweinegrippe (H1N1) erfolgreich bekämpft.

Bolsonaro dagegen hat die von COVID-19 ausgehende Bedrohung verworfen, zwei ihm nicht zustimmende qualifizierte Gesundheitsminister aus dem Amt getrieben und verkündet, er erwäge, nach Ende der Pandemie aus der WHO auszutreten. Als Regierungen der Bundesstaaten eigene Ausgangsbeschränkungen erließen – die laut Meinungsumfragen breite öffentliche Unterstützung genießen –, hat er diese kritisiert und sogar sabotiert.

Die wirtschaftliche Lage im Lande ist ebenfalls düster. Bolsonaro gewann 2018 die Wahl mit dem Versprechen, er würde das Land aus der schlimmsten Rezession seiner Geschichte führen und zugleich Kriminalität und Korruption, beide weit verbreitet, bekämpfen. Stattdessen taumelt Lateinamerikas größte Volkswirtschaft einmal mehr. Der „Internationale Währungsfonds“ (IWF) schätzt, dass die brasilianische Wirtschaft in diesem Jahr um 5,3 Prozent schrumpfen wird. Eine Umfrage der brasilianischen Notenbank unter Ökonomen prognostiziert sogar eine siebenprozentige Kontraktion.

Die Anleger befinden sich in wilder Flucht. In der Vergangenheit wurden sie durch höhere Zinsen für Brasiliens turbulente Politik entschädigt, doch in diesem Jahr hat die Notenbank die Zinsen wiederholt gesenkt, und inzwischen hat die Kapitalflucht mit einem Abfluss von dutzenden Milliarden Dollar an internationalem und lokalem Kapital Rekordniveau erreicht. Der brasilianische „Real“ ist die Währung mit der schlechtesten Wertentwicklung im Jahr 2020.

All dies macht die Umsetzung dringend erforderlicher Reformen – einschließlich einer Senkung von Brasiliens riesigem Haushaltsdefizit – weniger wahrscheinlich. Ein 233 Milliarden Dollar schweres Nothilfepaket hat die prognostizierten Einsparungen durch die letztes Jahr durchgeführte Renten-Reform – die sich auf das gesamte kommende Jahrzehnt auswirken sollte – komplett zunichte gemacht. Die Staatsverschuldung soll laut einer Prognose in diesem Jahr 90 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) erreichen. Kann Paulo Guedes – Brasiliens haushaltspolitisch umsichtiger Finanzminister, der in diesem Jahr eine Menge staatseigener Unternehmen privatisieren wollte – in der Regierung verbleiben, wenn seine Reformpläne durch hohe Staatsausgaben vereitelt werden?

Bolsonaros Versprechen, die Korruption zu bekämpfen, bleibt ebenfalls unerfüllt. Im Gegenteil: Im April hat Bolsonaro den Chef der Bundespolizei in Rio de Janeiro entlassen. Dieser Schritt – anscheinend in dem Bemühen, Ermittlungen gegen Familienangehörige Bolsonaros zu behindern – veranlasste Justizminister Sergio Moro, der Brasiliens größter Untersuchung gegen die Korruption vorstand, zum Rücktritt.

Viele von Bolsonaros politischen Gegnern fordern inzwischen seine Amtsenthebung. Doch könnte sich Bolsonaro durchaus bis zum Ende seiner Amtszeit 2022 halten. Ein Amtsenthebungsverfahren würde die Unterstützung sowohl des Verfassungsgerichts als auch von zwei Dritteln des Unterhauses erfordern. Und bisher sind die Stimmen im Senat einfach nicht da. Bolsonaros Zustimmungsrate in der Bevölkerung von 33 Prozent mag nicht beeindruckend erscheinen, doch seine Basis bleibt bisher weitgehend loyal. Präsidentin Dilma Rousseff wurde 2016 erst des Amtes enthoben, nachdem ihre Zustimmungsrate auf unter zehn Prozent gefallen war!

Es hilft zudem, dass die Opposition zerstritten ist. Zwar befeuert Bolsonaros Versagen die Unterstützung für Oppositionsparteien und -kandidaten, doch glauben andererseits auch viele, dass die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens den Weg für noch schlimmere Verhältnisse bereiten könnten. Fakt ist, dass die Brasilianer nach wie vor zutiefst desillusioniert sind über die während der 13-jährigen Herrschaft der Arbeiterpartei (PT) grassierende – und schließlich aufgedeckte – Korruption. Viele Wähler, die 2018 Bolsonaros „Sozialliberale Partei“ wählten, werden erneut für Bolsonaro stimmen, wenn die einzige Alternative die PT ist.

Trotzdem könnte die Opposition bessere Chancen haben, einen geschwächten Bolsonaro zu schlagen als den derzeitigen Vizepräsidenten Hamilton Mourão, einen pensionierten Armeegeneral, der eine größere Zustimmungsrate aufweist als Bolsonaro. Viele Analysten sorgen sich, ein Präsident Mourão könnte Brasiliens demokratische Institutionen sogar noch stärker beschädigen als Bolsonaro. Schon jetzt besteht Anlass zur Sorge, dass die aktuelle Krise die zunehmende Beteiligung des Militärs an der Regierung und innerhalb der Wirtschaft legitimiert. Aktive und frühere Militärvertreter haben derzeit neun Kabinettsposten und zahllose untergeordnete Kabinettsämter inne. Das Militär könnte, so warnen einige, sogar eingreifen, um Bolsonaros Präsidentschaft zu stützen – oder um sie zu beenden.

Bolsonaro, ein früherer Hauptmann der Armee, scheint zuversichtlich, dass eine eventuelle Militärintervention zu seinen Gunsten ablaufen würde. Im April nahm er sogar an gegen die Ausgangssperre gerichteten Protesten seiner rechten Unterstützer teil, die einen Militärputsch in seinem Namen forderten. Er erklärte kürzlich, das Militär würde einem „absurden oder politischen Urteil“ wie etwa einem Amtsenthebungsversuch keine Beachtung schenken.

Für den Augenblick scheint das Militär hin und her gerissen zwischen den beiden Möglichkeiten, den Kurs der Bolsonaro-Regierung zu lenken oder aber sich herauszuhalten. Obwohl Militärvertreter 21 Schlüsselpositionen im Gesundheitsministerium besetzen, hatte bis vor kurzem ein Zivilist den wichtigen Posten des Leiters des Bereichs Öffentlichkeitsarbeit inne. Kurzum: Die Nuancen von Bolsonaros Beziehung zum Militär bleiben unklar (der derzeitige amtierende Gesundheitsminister ist ein Militär), die ganze Sache ist komplizierter, als es den Anschein haben könnte.

Um ein kurzes Fazit zu ziehen: Selbst wenn Bolsonaro bis 2022 im Amt bleibt, wird seine Reformagenda beträchtlich leiden. Einmal mehr hat Brasilien eine wichtige Chance verpasst, ein höheres Wachstum, mehr Wohlstand und größeren internationalen Einfluss zu erreichen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Peter Schechter ist Gründungsdirektor des Lateinamerika-Zentrums des „Atlantic Council“ und Gastgeber und ausführender Produzent von „Altamar“, einem Podcast zu globalen Themen.



Copyright: Project Syndicate, 2020.

www.project-syndicate.org

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