Finanzen

„Wir sind Zeugen der Zerstörung der Altersvorsorge in Europa“

Eine groß angelegte Studie deckt die desolate Verfassung der Altersvorsorgesysteme in Europa auf. Die Rentner des Kontinents sind von den Politikern geopfert worden, um den überschuldeten Staaten noch eine letzte Verschnaufpause zu gewähren, schreiben die Autoren.
16.10.2020 11:30
Aktualisiert: 16.10.2020 11:30
Lesezeit: 3 min
„Wir sind Zeugen der Zerstörung der Altersvorsorge in Europa“
Ein Mann beobachtet eine Seifenblase im Sonnenschein. (Foto: dpa) Foto: Oliver Berg

Die Altersvorsorgesysteme in Europa können den Einzahlern keine finanzielle Sicherheit im Alter garantieren – vielmehr steuern Millionen zukünftiger Rentner auf die Armut zu. Dies ist das zentrale Ergebnis einer großangelegten Studie von Better Finance, einer europäischen Vereinigung für Kunden von Finanzdienstleistungen.

Der aktuelle Bericht mit dem Titel „Long Term and Pension Savings – The Real Return“ zeichnet dabei ein düsteres Bild praktisch aller der über einen Zeitraum von 20 Jahren untersuchten Vorsorgesysteme in insgesamt 18 europäischen Ländern.

Das Grundproblem stellt sich vereinfacht ausgedrückt folgendermaßen dar: Die seit der letzten Finanzkrise vor über zehn Jahren von allen Zentralbanken der Welt verfolgte Nullzinspolitik hat dazu geführt, dass Pensionsfonds und Rentenversicherungen keine nennenswerten Renditen mehr am Finanzmarkt erwirtschaften können. Zugleich erhalten die Bürger von den Geschäftsbanken auch keine Zinsen mehr für ihre Ersparnisse auf den Konten. Infolge der Corona-Pandemie sind nun die Schulden der Staaten nicht nur enorm gestiegen, sondern die Zentralbanken haben ihre extrem expansive Geldpolitik noch einmal zu Lasten der Sparer verschärft – Better Finance zufolge handelt es sich dabei um einen Systembruch, dessen negative Auswirkungen nicht mehr rückgängig gemacht werden können.

„Europas Rentner wurden für die Schuldenstaaten geopfert“

Die durch die Pandemiebekämpfung von den Regierungen verursachte Wirtschaftskrise in Verbindung mit der von den Zentralbanken zementierten Null- und Negativzinspolitik repräsentieren „den perfekten Mix, um den langfristigen Wert der Rentenersparnisse zu zerstören“, wird der Geschäftsführer von Better Finance, Guillaume Prache, von der Financial Times zitiert.

Und Prache weiter. „Die Regierungen haben sich bewusst dazu entschieden, den Schutz der Rentner und Sparer für eine künstliche Reduzierung der Schuldenlast der Euro-Staaten zu opfern, indem sie diesen präzedenzlose Subventionen in Form von Negativzinsen und massiven Wertpapierkäufen eingeräumt haben.“

Die breit angelegte Untersuchung zeigt, dass die verschiedenen Altersvorsorgeeinrichtungen wie private Pensionsfonds und staatliche Versicherungen in Europa in den vergangenen 10 Jahren pro Jahr durchschnittliche, inflationsbereinigte, Renditen zwischen 1,3 und 5,5 Prozent generieren konnten. In Deutschland sollen es rund 2 Prozent gewesen sein. An der Berechnungsmethode der Inflationszahlen in Europa bestehen jedoch erhebliche berechtigte Zweifel, weshalb die wahre Teuerung in der Vergangenheit deutlich höher ausgefallen sein und die realen Renditezuwächse in den Alterssystemen weitgehend aufgefressen haben dürfte.

Mit Blick auf die steigende Arbeitslosigkeit sorgen sich Beobachter zudem davor, dass entlassene ältere Arbeiter gezwungen sein könnten, Teile ihrer Altersvorsorge frühzeitig aufzubrauchen. „Ersparnisse jetzt aufzubrauchen bedeutet, dass sie später nicht mehr zur Verfügung stehen werden – was Folgen für die Renten haben wird. Die Leute müssen auf mögliche Beitragslücken in ihren Rentenplänen und deren Konsequenzen für die Finanzlage im Alter achten“, zitiert die FT einen Altersvorsorgeanalysten des riesigen Vermögensverwalters State Street Global Advisors.

Versicherungen senken wegen Zinsflaute Beitragsgarantien

Die Schieflage in den Systemen zur Altersvorsorge äußert sich in vielfältiger Weise. Dazu gehört beispielsweise die Absenkung der sogenannten Beitragsgarantien in der Versicherungsbranche. Die Beitragsgarantie schreibt vor, dass alle vom Sparer eingezahlten Beiträge am Ende der Laufzeit eines Vertrages auf jeden Fall vorhanden und somit zur Auszahlung bereitgestellt sein müssen.

Der große Vorteil für den Versicherten besteht darin, dass er keine Verluste erleiden kann. Selbst wenn keine Rendite auf die eingezahlten Beträge anfällt, so bekommt der Versicherte also wenigstens das eingezahlte Geld wieder heraus. Der Nachteil ist, dass die Versicherung bei einer Beitragsgarantie von 100 Prozent kaum noch Rendite erwirtschaften kann, weil sie größere Teile des eingezahlten Kapitals in einem zinslosen Deckungsfonds verwahren muss.

Nun verabschiedet sich der Marktführer bei der privaten Altersvorsorge in Deutschland, die Allianz Leben, weitgehend von der Beitragsgarantie von 100 Prozent. Ab Anfang 2021 will der Lebensversicherer bei Neuverträgen seines zentralen Vorsorgeprodukts „Perspektive“ standardmäßig eine Garantie von mindestens 90 Prozent der eingezahlten Beiträge anbieten, statt bislang von 100 Prozent, wie das Unternehmen am Dienstag in Stuttgart mitteilte. Dafür sollen Versicherte auf eine höhere Rendite hoffen können. Bei anderen Produkten gibt es bereits unterschiedlich hohe Beitragsgarantien. Die Kunden sollen künftig zwischen einem Garantieniveau von 90, 80 und 60 Prozent wählen können.

„Zwei Drittel der Kunden sind bereit, in der Niedrigzinsphase für höhere Renditen auf einen Teil der Garantien zu verzichten“, sagte Allianz-Leben-Vorstandschef Andreas Wimmer der Deutschen Presse-Agentur. Das hätten kürzlich in zwei Wellen durchgeführte Befragungen von etwa 1700 beziehungsweise 1000 Kunden gezeigt. „Viele Kunden sehen den Zusammenhang von Rendite und Garantie differenzierter in Zeiten, in denen sie für ihr Erspartes kaum noch Zinsen oder teilweise Negativzinsen bekommen.“ Dem Unternehmen zufolge haben Angebote mit neuen Garantien und Risikoprodukte mittlerweile einen Anteil von 93 Prozent am Neugeschäft. Eine Beitragsgarantie von 100 Prozent bietet die Allianz weiterhin bei Altersvorsorge-Konzepten an, bei denen dies gesetzlich vorgeschrieben ist, zum Beispiel bei Riester-Verträgen.

Die anhaltende Zinsflaute macht der Lebensversicherungsbranche seit Jahren schwer zu schaffen. Es fällt den Unternehmen dadurch immer schwerer, die hohen Zusagen der Vergangenheit zu erwirtschaften. „In einer Welt ohne positiven Nominalzins muss die Altersvorsorge neu gedacht werden - das gilt auch für Riester und die betriebliche Altersversorgung“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft, Jörg Asmussen. Um Chancen am Kapitalmarkt nutzen zu können, brauche es flexiblere gesetzliche Garantieanforderungen. Die Branche drängt seit geraumer Zeit auf eine Neuregelung unter anderem bei der Riester-Rente. Derzeit müssen dort 100 Prozent der Bruttobeiträge garantiert werden.

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