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Experte: "Nationale Solidarität geht in widerstreitenden Gruppeninteressen unter"

Lesezeit: 7 min
14.03.2021 12:47  Aktualisiert: 14.03.2021 12:47
Der Bio-Psychologe Professor Peter Walschburger erläutert im Interview mit den DWN, wie das Verhalten der Deutschen in der Pandemie einzuschätzen ist.
Experte: "Nationale Solidarität geht in widerstreitenden Gruppeninteressen unter"
Teilnehmer einer Kundgebung von Landwirten in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen (Foto: dpa).

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die Politiker appellieren ständig an unsere Solidarität, um gemeinsam die Pandemie zu bekämpfen. Allerdings zeigen sich nicht wenige nach etwa einem Jahr Krise müde, wenn es um die Einhaltung der Restriktionen geht.

Können wir Deutschen uns denn überhaupt solidarisch verhalten, so wie wir charakterlich sind?

Peter Walschburger: So, wie Sie es formuliert haben, hat Ihre Frage einen negativen moralischen Akzent: Wer sich nicht solidarisch verhält, dem wird ein schlechter Charakter unterstellt. Wenn wir aber versuchen möchten, Verhaltensänderungen herbeizuführen, dann ist es hilfreich, wenn wir uns mit einer moralischen Wertung erst einmal zurückhalten.

Ein Verantwortungsbewusstsein der Bürger für das Ganze ist zwar wichtig, wenn Demokratie funktionieren soll. Wenn ich aber einer Person vorhalte, sie würde sich egoistisch, also unsolidarisch, sprich: moralisch verwerflich verhalten, dann muss ich mit einer Verteidigungshaltung rechnen, die eine Verhaltensänderung behindert oder blockiert. Ein solcher moralischer Apell ist deshalb kein gutes Mittel, wenn man persönlich wichtige Handlungsbereitschaften oder Ziele ändern möchte.

Psychologisch betrachtet geht es den Politikern um kooperatives Handeln, das die Interessen der anderen mitbeachtet. Wir wissen, dass dies unumgänglich ist, wenn wir uns mit einer Pandemie erfolgreich auseinandersetzen möchten. Der Einzelne hat also ebenfalls etwas davon, wenn er seinen individuellen Blickwinkel erweitert zu einem umfassenderen Blick auf das Gemeinwohl seiner Gruppe.

Wenn wir die Wissenschaft befragen, wie kooperatives Verhalten entsteht, dann finden wir einerseits individuell-biographische und gesellschaftlich-kulturelle Lernprozesse; andererseits spielt aber auch unser evolutionäres Erbe bis heute noch eine wichtige Rolle. Es ist wichtig, dabei auf zwei ganz unterschiedliche Grundmotive des Menschen einzugehen:

Menschen streben zum einen nach individueller Freiheit und Autonomie. Die Anthropologen sind sich weitgehend einig darüber, dass wir am liebsten in einer Welt leben wollen, die sich unseren individuellen Wünschen fügt. Andererseits sind wir aber auch von Natur aus soziale Wesen; es ist empirisch belegt, dass wir von früher Kindheit an auf kooperatives und helfendes Verhalten ausgerichtet sind. Auch bei Erwachsenen lässt sich ein ausgeprägtes soziales Geltungsbedürfnis beobachten: Unser Selbstbewusstsein wird durch den Applaus unserer Mitmenschen entscheidend gefördert. Unsere Jahrmillionen alte Evolution als sozial lebende Gruppenwesen bildet dabei die genetisch verankerte Basis unserer kulturell-zivilisatorischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten zehntausend Jahre.

Ein für die Bewältigung der Coronakrise besonders interessanter Effekt unserer sozialen Natur liegt darin, dass bei Not und Gefahr unsere Bereitschaft wächst, eine spontane Notgemeinschaft zu bilden und auch ohne politische Vorgaben „solidarisch“ zu handeln. Dieser Effekt ließ sich zu Beginn des ersten verordneten Lockdowns im März 2020 beobachten, wo sich das Infektionsgeschehen bereits vor der Wirkung der Lockdown-Verordnung abwächte, weil sich die Menschen – offenbar unter dem Eindruck der schrecklichen Bilder aus Norditalien und anderen Regionen - in freiwillige Selbstisolation begaben. Mit dem Andauern der Pandemie trat dieser Solidaritätseffekt unter erlebter existentieller Not zurück, weil man sich zum einen an die Gefahr gewöhnt und gelernt hatte, damit zu leben und weil andererseits die Frustrationen durch unsere eingeschränkten Handlungsziele einzelne Menschen und Menschengruppen in ganz unterschiedlicher Weise trafen.

Tatsächlich ist in dieser Hinsicht unsere heutige deutsche Gesellschaft alles andere als eine homogene Gruppe. Vielmehr sind „die Deutschen“ nicht nur individuell sehr verschieden, sondern sie sind auch Mitglieder ganz unterschiedlicher Gruppen. Wir finden da große Unterschiede in den Zielen, in den materiellen Grundlagen, in den Werten und im Lebensstil. Die Demokratie mit ihrer politischen Willensbildung „von unten“ und mit ihrer Grundordnung schafft zwar für alle einen einheitlichen nationalen Rahmen. Aber durch die Herausforderungen der Pandemie werden die einzelnen Gruppen – wenn Sie etwa das Gesundheitswesen, den Bildungssektor, die Kulturschaffenden, das Hotel-, Gaststätten- und Reisegewerbe oder die Industrie betrachten – auf ganz unterschiedliche Weise belastet. Vergleichbares gilt auch für die Jungen, für die Alten, für Familien, Paare und Singles, für Städter und Menschen auf dem Land, für systemrelevant arbeitende Menschen und Rentner, für Gesunde und gesundheitlich vorbelastete Menschen. Ein Appell an „Nationale Solidarität“ geht unter diesen Bedingungen weitgehend unter in einer Vielfalt widerstreitender Gruppeninteressen.

Den politischen Entscheidern fällt es bei dieser Gemengelage divergierender Interessen außerordentlich schwer, die Pandemie einzudämmen. Sie stehen vor der schwierigen Aufgabe, über ihr politisches Handeln und ihre öffentliche Kommunikation eine Art „Quadratur des Kreises“ zustande zu bringen:

Einerseits müssen sie auf den Willen, das heißt auf die Bereitschaft zur Selbstkontrolle der Bürger in den unterschiedlich belasteten Gruppen vertrauen und diese fördern; denn diese Gruppen sollten ja selbst am besten wissen, was für sie gut und wichtig ist. Andererseits sind aber klare und verbindliche Zielvorgaben, Handlungsanweisungen und Regeln der politischen Entscheider unverzichtbar, weil die Menschen für den gemeinsamen Weg aus der Pandemie eine solche Vorgabe und Strukturierung mit begleitenden Kontrollen erwarten und auch benötigen.

Allerdings korrumpiert diese Fremdkontrolle „von oben“ wiederum die Bereitschaft vieler Menschen zur freiwilligen Selbstkontrolle im Sinne einer gemeinsamen Überwindung der Krise. Die politischen Vorgaben beschneiden ja den Anspruch nach freier Entfaltung des Einzelnen. Sie treffen auch oft nicht genau genug seine Lebenswirklichkeit, werden häufig nicht ausreichend kommuniziert oder unzureichend verstanden und müssen immer wieder an die sich ändernde Problemlage angepasst oder revidiert werden. Mit dem Andauern der Krise treffen die Vorgaben auf immer mehr Bürger, die durch die chronischen und schwer durchschaubaren Belastungen und durch die fortdauernden und immer wieder veränderten Einschränkungen ihres gewohnten Lebens so frustriert sind, dass sie ihren Politikern schließlich das Vertrauen entziehen und nicht mehr kooperieren. Sie verhalten sich apathisch, aggressiv oder querulatorisch oder versuchen gar, sich zu entlasten, indem sie aus einer komplexen, undurchschaubaren und überfordernden Lebenswirklichkeit in eine verschwörungstheoretisch konstruierte einfachere Scheinwelt flüchten. Über die sozialen Medien treffen sie dabei schnell auf den Applaus Gleichgesinnter, was es ihnen erleichtert, ihren besonderen Blick auf die Welt beizubehalten.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was sollte die Bundesregierung bei der Modifizierung der Strategie tun?

Peter Walschburger: Mein Appell muss sich an uns alle richten – an die Bundesregierung, von der wir angemessene Verordnungen zum Infektionsschutz und seinen Folgen erwarten. Und an die Bürger, von denen wir ein kooperatives Verhalten erwarten. Zunächst müssen wir uns klar machen, dass wir nur gemeinsam den Weg aus der Pandemie finden werden. Wir behindern aber diesen gemeinsamen Lösungsweg, wenn wir in den inneren Widerstand gehen und auf widerstreitenden Gruppeninteressen beharren.

Wenn jemand jetzt seiner Wut über die Situation freien Lauf lässt, kann er sich damit zwar kurzfristig entlasten. Er wird aber an der viralen Bedrohung selbst nichts Substantielles ändern, sondern wird die getrübte Stimmung seiner Mitmenschen und ihre Bereitschaft, im Sinne des Gemeinwohls zu handeln, weiter verschlechtern. Dies gilt übrigens auch für die extremen Flügel einer politischen Opposition, die mit einem aggressiven statt konstruktiv-kritischen öffentlichen Kommunikationsstil zwar Aufmerksamkeit erregt, dabei aber auch eine alarmistische, feindselige Stimmung im Land fördert und so gemeinsame Lösungsversuche behindert.

Wir haben inzwischen wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse, wie freiere Lebensformen auch bei fortdauernder Infektionsgefahr möglich gemacht werden können und wie die Pandemie zu Ende geführt werden kann. Es ist unverzichtbar, sich mit diesen Erkenntnissen fortlaufend auseinanderzusetzen und sie als Basis fortlaufender technisch-organisatorischer Verbesserungen der eigenen Lebenssituation zu nutzen.

Es gibt eine begründete Zuversicht, dass wir die Krise mit den Mitteln von Vernunft und Wissen überwinden können. Wir benötigen dafür aber noch einige Geduld und müssen darauf achten, dass die Folgen von Frustration und existentieller Not uns nicht den klaren Blick für den Weg aus der Krise trüben.

Zu den zielführenden Maßnahmen und neuen Erkenntnisse gehören neben den gewohnten Abstands- und Hygieneregeln vor allem auch maßgeschneiderte Regeln für unterschiedliche Risikogruppen und eine genauere Beurteilung der Infektionsrisiken in unterschiedlichen Situationen, ferner die Impfungen, die Tests und Selbsttests zur schnelleren und genaueren Infektions-Kontrolle und Kontaktverfolgung sowie eine Reihe weiterer technisch-organisatorischer Maßnahmen, bei denen es auch nötig werden dürfte, den etablierten Datenschutz und das Bedürfnis nach Verbesserungen im Infektionsschutz und bei der Kontaktverfolgung neu abzugleichen.

Die Politik könnte ihre kommunikativen Möglichkeiten noch besser nutzen und optimieren, um das Selbstvertrauen und den Optimismus der Bürger zu stärken, ohne dabei unrealistische Hoffnungen zu wecken, die womöglich bald wieder zurückgenommen werden müssten.

Auf gemeinsame verbindliche Corona-Schutz-Regeln können wir Menschen in der Pandemie nicht verzichten, auch wenn sie dem Einzelnen nicht immer sinnvoll und zweckmäßig erscheinen und der Wunsch übermächtig wird, endlich wieder tun und lassen zu können, was man möchte. Wer nach einem einfachen Beispiel für den Regelbedarf des Menschen sucht, der findet ihn im Straßenverkehr. Dass solche Regeln unsere Freiheit nicht mehr und nicht länger einschränken als unbedingt nötig, muss aber Gegenstand konstruktiver gesamtgesellschaftlicher Diskussionen und Anstrengungen bleiben.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie sollte die Politik auf die einzelnen Gruppen eingehen?

Peter Walschburger: Die politischen Entscheidungsträger müssen ihre Maßnahmen immer wieder begründen und über eine parlamentarischen und zivilgesellschaftliche Diskussion fortlaufend sozial abgleichen, um eine möglichst breite Zustimmung trotz unterschiedlichster Gruppeninteressen zu erreichen. Inzwischen dauert die Corona-Pandemie mehr als hundert Tage. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass viele Bürger massive Frustrationen erleben und äußern, die außerdem von ganz unterschiedlicher und widersprüchlicher Art sind. Die einen sind finanziell stark betroffen, die anderen wollen einfach nicht mehr allein sein. Viele möchten gerne wieder reisen. Andere sind wiederum in der Familie oder mit den neuen Entwicklungen in der Organisation von Arbeit und Freizeit überfordert, während sich andere einfach nur vor einer Infektion schützen möchten.

Die politischen Entscheider stehen vor der äußerst schwierigen Aufgabe, ihr politisches Handeln und ihre Kommunikation so auszurichten, dass ihre Fremdkontrolle der bürgerlichen Lebenswirklichkeit von den Bürgern auch akzeptiert werden kann und deren Bereitschaft zur Selbstkontrolle ihres Infektions-Vermeidungs-Verhaltens nicht zu sehr schwächt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Doch was soll jemand machen, der beispielsweise im Einzelhandel und im Gaststätten-Gewerbe aktiv ist, die stark von den Schließungen durch die Restriktionen betroffen sind? Ein solches Unternehmen muss doch wieder seinen Laden aufmachen, weil es sonst existenzielle Probleme bekommt.

Wie bewerten Sie dieses Problem?

Peter Walschburger: Das ist ein Problem, das lösbar erscheint, aber konkret in vielen Fällen leider noch ungelöst ist. Wir haben in Deutschland eine sehr solide Grundlage in unserem Wirtschaftssystem und in unserer Infrastruktur. Das hat sich etwa im Verlauf der Arbeitslosigkeit, in der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung, bei den Insolvenzen und in den Umfragen zum Regierungshandeln gezeigt. Leider gibt es inzwischen zu viele Unternehmen, die nun existenzielle Probleme bekommen. Die Politik wird auch nicht allen helfen können. Doch zeichnet diejenigen, die Firmen gründen, grundsätzlich ein großer unternehmerischer Mut aus. Solche Menschen werden versuchen, auf andere Unternehmungen umzusatteln, selbst wenn sie jetzt scheitern. Wir leben in Deutschland in einem Staat, wo das Ende einer Firma nicht automatisch den individuellen Untergang bedeutet.

Die Bundesregierung hat mit der sogenannten Bazooka und mit den Corona-Hilfen die richtigen und breit akzeptierten Schritte unternommen, um den Unternehmern unter die Arme zu greifen. Viele Unterstützungsleistungen sind allerdings bis heute nicht bei den Firmen angekommen. Doch wurden in der ersten Phase der Pandemie auch Millionen von Betrügereien nach einer ersten unbürokratischen Mittelvergabe bekannt. Kontrollen für die Hilfen sind also unverzichtbar und schaffen zugleich die beklagenswerten bürokratischen Verzögerungen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Professor Walschburger, herzlichen Dank für das Gespräch.


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