Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das hört sich beängstigend an.
Arno Luik: Ich kenne Lokomotivführer, die sagen: „Ich fahre S21 nicht an!“ Aber auch verkehrlich und ökologisch ist S21 unverantwortlich: Es provoziert gegenüber dem alten Kopfbahnhof einen Leistungsabbau um gut 30 Prozent. Das wissen die Verantwortlichen seit vielen Jahren. Ist ihnen aber egal. Und jenen, denen es nicht ganz egal ist, treiben nun das Unvernünftige in das schlichtweg Wahnsinnige. Da wird im Sommer 2019 bekannt, dass der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann zusätzlich zu S21 einen sechsgleisigen Kopftiefbahnhof möchte – damit der Bahnverkehr irgendwie bewältigt werden kann. Zur Erinnerung: An der Erdoberfläche steht noch immer der alte Kopfbahnhof, der mühelos den zukünftigen Verkehr bewältigen könnte! Aber egal: Es müssen auch unter grüner Herrschaft die Reisenden in die Tiefe, in den dunklen Untergrund. Da wird im Frühjahr 2020 bekannt, dass für S21 zu den bisherigen 60 Kilometer Tunnel mindestens 40 Kilometer zusätzlich gegraben werden (müssen). Wird Hermanns Wunsch nach einem weiteren Tiefbahnhof realisiert, kommen nochmals x-Tunnelkilometer hinzu – irre. Da wird im Herbst 2020 ein lange unter Verschluss gehaltenes Gutachten des Rechnungshofs bekannt, wonach der babylonische Tiefbau in der schwäbischen Hauptstadt die Bahn in ihrer Existenz als Ganzes bedroht. S21 habe, so der Rechnungshof im O-Ton, „gravierende Folgen für das Bestandsnetz“. Schlimmer noch, eigentlich unfassbar, S21 enthalte „bedeutende finanzielle Risiken für den Bundeshaushalt“.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Insgesamt gilt die Bahn als umweltfreundliche Möglichkeit, Personen und Güter zu befördern. Wie sieht die Umweltbilanz bei der Deutschen Bahn aus? Und wo gibt es Verbesserungsbedarf?
Arno Luik: Die Bahn könnte umweltfreundlich sein, sie ist es aber nicht. Ein Grund: die Hochgeschwindigkeitszüge – vor allem, wenn sie durch Tunnels zischen. Und das tun sie sehr oft. Jenseits von Tempo 200 wird die Ökobilanz der Bahn negativ. Und noch etwas macht die Bahn zum Umweltsünder: Ihr überaus teurer Drang, immer öfter in den Untergrund zu gehen, die Bahn nach und nach zu einer bundesweiten U-Bahn zu machen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ist das Ihr Ernst?
Arno Luik: Allerdings. Allein für S21 und die dazugehörende Neubaustrecke werden weit über 100 Kilometer Tunnelröhren gebaut. Aber beim Bau von einem Kilometer Eisenbahntunnel wird soviel CO2 freigesetzt, wie bei 26 000 Autos, die im Jahr 13.000 Kilometer fahren. S21 ist also nichts anderes als ein staatlich geförderter Klimakiller. Auch beim Zulauf zum Brennerbasistunnel sollen einige Dutzend Kilometer unterirdisch verlaufen, ebenso bei der angedachten Strecke von Prag nach Dresden. Einige Milliarden Euro sollen unter Frankfurt verbuddelt werden – für einen 10 Kilometer langen Tunnel, dazu noch einen Bahnhof tief unter der Stadt. Und, last but not least, ganz zu schweigen von den gigantischen Tunnelbauten in der Ostsee bei der Fehmarnbelt-Unterquerung: Allein in der Bauphase inklusive Produktion der Baumaterialien werden dabei 1,75 Millionen Tonnen an Treibhausgasen ausgestoßen – so viel wie aus den Auspuffen von 600.000 Autos pestet. Das sind Berechnungen des Münchner Verkehrsexperten Karlheinz Rößler. Der in Fachkreisen überaus angesehene Verkehrsspezialist sagte zu mir, dass für ihn die Bahn „bloß noch eine Scheinverkehrsfirma“ sei. Für ihn ist der Staatskonzern zu „einem Betrugskonzern mutiert, der sich der Betonindustrie unterworfen hat“. Rößler: „Die Bahn ist eine regierungs- und wirtschaftskriminelle Vereinigung zur Veruntreuung von Steuergeldern“. Ein großer Gewinner bei all den Tunnelbauten: die Firma Herrenknecht. Ihre Bohrmaschinen wühlen sich für sehr viel Geld überall durch die Erde. Ein Kilometer Eisenbahntunnel kostet mindestens 50 Millionen Euro – wenn die geologischen Bedingungen optimal sind. Aber wenn es durch Karst geht, wie etwa beim Bau der Tunnel durch die Schwäbische Alb, kommt man rasch auf 110 Millionen Euro, an manchen Stellen sogar auf 400 Millionen Euro. Zum Vergleich: Ein Kilometer oberirdisch verlaufende Strecke kostet im Normalfall zwischen zwölf und 15 Millionen Euro. So pikant wie unappetitlich in diesem Zusammenhang: Kurz vor Weihnachten 2020 wird bekannt, dass Günther Oettinger beim Tunnelbauer Herrenknecht zum Aufsichtsrat bestellt worden ist. Eine schöne Bescherung. Jener Günther Oettinger, der als baden-württembergischer Ministerpräsident das unendlich teure Tunnelprojekt S21 und die dazugehörige Tunnelstrecke durch die Schwäbische Alb von Wendlingen nach Ulm durchgesetzt hat – übrigens am Rande der Legalität. Dort, bei Tunnelprofiteur Herrenknecht, folgt Tunnelbohrförder Oettinger auf einen anderen S21-Tunnel-Frontkämpfer: Ex-Bahnchef Rüdiger Grube. Und der trifft dort auf jenen Mann, der mal unseligerweise Mehdorn zum Bahnchef gemacht hat: Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: „Die Grünen“ gelten in den Augen vieler als eine Partei, der die Umwelt besonders am Herzen liegt. Was haben die Grünen, bezogen auf den Bahnverkehr, diesbezüglich bewirkt, wenn sie Regierungsverantwortung hatten?
Arno Luik: Egal, wo die Grünen an der Macht sind (und im Herbst wollen sie in die Bundesregierung) – sie konterkarieren und kassieren ihre eigenen verkehrs- und klimapolitischen Grundsätze. In ihrem Ende 2020 präsentiertem Strategiepapier „Für eine starke Bahn“ fordern sie wortreich, was seit Jahrzehnten sämtliche Verkehrspolitiker wortreich fordern: mehr Verkehr auf die Schiene. Dafür wollen die Grünen bis 2030 beispielsweise 3.000 Kilometer Schiene reaktivieren. Hört sich gut an, nur: Als die Grünen gemeinsam mit der SPD die Bundesregierung stellten, legten sie deutlich mehr Trassen still, als sie nun wiederbeleben möchten. Jetzt wollen die Grünen wieder mehr Bahnhöfe, gerade auch auf dem Land, Tausende Stationen sollen saniert werden. Nur: In den vergangenen Jahrzehnten, vor allem während der rotgrünen Regierungszeit, wurden Tausende Bahnhöfe verkauft, verhökert, oft für ein Spottgeld losgeschlagen – sie sind nun einfach weg, ihre Reaktivierung schiere Phantasterei.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Lassen sich die Probleme der Deutschen Bahn überhaupt noch lösen? Und, falls ja, was müsste zunächst und am dringlichsten hierfür getan werden?
Arno Luik: Der Verfall der Bahn-Infrastruktur ist inzwischen zu einem Risiko für den Industrie-Standort Deutschland geworden. Deswegen muss sie gerettet werden, und sie ist auch zu retten. Nur: Mit diesem Personal an der Bahnspitze wird das nicht klappen können. Es gibt kaum mehr Bahnexperten im oberen Management und an der Spitze der Bahn. Es fehlt überall an Bahn-Wissen. Mehdorn und Co haben die Fachleute entsorgt und durch fachfremde, bahnunkundige Berater, oft McKinsey-Leute, ersetzt. Überdies: Der kaputtgesparten Bahn fehlt es an allem: an Gleisen, an Land für Gleisen, an Lokomotiven, an Zügen, an Personal, vor allem aber, wie gesagt, an Knowhow. Was meist übersehen wird: Die Deutsche Bahn ist keine Deutsche Bahn mehr. Sie ist bloß noch ein lästiges Anhängsel in einem global agierenden Konzern. In 140 Ländern, ein Reich, über dem die Sonne nie untergeht, ist die Bahn unterwegs – zu Luft, zu Wasser und auf dem Land. Zum Beispiel in Ländern wie Aserbeidschan, Usbekistan, Mongolei, Sri Lanka, Trinidad-Tobago, Aruba oder Madagaskar – mit Hunderten von Firmen, Subunternehmen, Beteiligungen. Deutsche Steuergelder, weit über zehn Milliarden Euro, wurden investiert, um die Deutsche Bahn zu einem weltweit operierenden Logistik-Konzern zu transformieren. Ein finanzieller Großeinsatz, der sich nie amortisieren wird. Der Steuerzahler zahlt und zahlt für diese Auslandseinsätze und bekommt dafür hierzulande: Zerfall. Zudem ist diese Bahn ein Bürokratiemonster der ganz besonderen Art: Die Bahn AG selbst besteht aus acht großen Unternehmen, etwa DB Fernverkehr, DB Regio, DB Cargo, meist sind es Aktiengesellschaften, die gegeneinander konkurrieren. Und gelähmt werden durch unproduktive, aber kostenintensive Wasserköpfe. Diese Organisationsstruktur lässt vernünftiges Zugfahren strukturell nicht zu. Noch etwas: Die Bahn ist zu 100 Prozent im Staatsbesitz, sie gehört also uns, sie ist ein Volkseigener Betrieb (VEB). Leider ist dieser VEB in die Hände gieriger Manager gefallen, geführt von Politikern, die sich nicht wirklich für diese Bahn und ihre Möglichkeiten interessieren. Und so lange das so ist, wird es auf unabsehbare Zeit so weitergehen wie bisher, also: Statt die Bahn in der Fläche auszubauen, sie auf dem Land wirklich attraktiv zu machen, sich von den teuren Prestige-Hochgeschwindigkeitsstrecken zu verabschieden, wird das viele Geld, das wir Bürger Jahr für Jahr für die Bahn ausgeben, in ökonomisch irrwitzigen, ökologisch verwerflichen, den Bahnverkehr faktisch schädigenden Großprojekten verschwinden – etwa in den Ausbau der Münchner Stammstrecke 2, etwa in das über 20 Milliarden neue, unnötige, technisch fragwürdige Zugleitsystem ETCS, unabsehbar viele Milliarden in das wohl absurdeste Projekt der deutschen Industriegeschichte: Stuttgart 21.
Lesen Sie hier Teil 1 des Interviews.
***Info zur Person: Arno Luik, geb. 1955, war Reporter für Geo und den Berliner Tagesspiegel, Chefredakteur der taz, Vize-Chef der Münchner Abendzeitung und langjähriger Autor des Stern. Für seine Berichterstattung in Sachen Stuttgart 21 erhielt er 2010 den »Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen« der Journalistenvereinigung „Netzwerk Recherche“. 2015, bei der Anhörung des Deutschen Bundestags zum Thema »Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 aufklären«, war Luik als Sachverständiger geladen. Sein Buch „Schaden in der Oberleitung – das geplante Desaster der Deutschen Bahn“ ist im Westend Verlag erschienen.