Deutschland

Studie erregt Aufsehen: Liefert das DIW das Konzept für eine De-Industrialisierung Deutschlands?

Lesezeit: 6 min
30.07.2021 16:40  Aktualisiert: 30.07.2021 16:40
Das "Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung" (DIW) sorgt mit einer neuen Studie zur Energiewende für Aufsehen. Würden die Vorschläge der Studie als Grundlage für unsere zukünftige Energiepolitik herangezogen, gingen sämtliche Lichter hierzulande aus. Die De-Industrialisierung eines (einst) starken Deutschlands hat begonnen.

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In einer aktuellen Studie rechnet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vor, wie Deutschland künftig zu 100 Prozent mithilfe alternativer Energieformen versorgt werden könnte. Henrik Paulitz von der Akademie Bergstraße hat die der Studie zugrunde liegenden Annahmen untersucht und kommt zu einem bemerkenswerten Ergebnis. Paulitz zufolge gleichen die Überlegungen und Prognosen zur künftigen Energie- und Stromversorgung eher Wunschdenken. Würden die Vorschläge des DIW auch nur ansatzweise umgesetzt, gingen hierzulande bald sämtliche Lichter aus.

So weist Paulitz in einem Gastbeitrag für das Portal Tichy‘s Einblick unter anderem darauf hin, dass die vom DIW angenommenen Zahlen zum (künftigen) Strom- und Energiebedarf Deutschlands viel zu niedrig angesetzt werden.

Optimistische Szenarien

Dem DIW zufolge lasse sich die gesamte Endenergie-Nachfrage Deutschlands auf 1.209 Terawattstunden (TWh) begrenzen, was ungefähr einer Halbierung gegenüber der heutigen Nachfrage entspricht. Denn im Jahr 2018 belief sich diese auf 2.489 TWh, für alle nachfolgenden Jahre kann mit Werten in ähnlicher Größenordnung gerechnet werden.

Parallel dazu prognostiziert das DIW, dass die durch Windkraft und Solarenergie generierte Stromkapazität in den kommenden Jahren massiv hochgefahren werden könne. In seinem „integrierten Szenario“ gibt das Institut beispielsweise an, dass die Kapazitäten der Photovoltaik von heute 47 Gigawatt (GW) auf rund 300 GW installierter Leistung versechsfacht werden könnte. Der Output der Windenergie an Land könne sich dem DIW zufolge von heute 53 GW auf 218 GW in etwa vervierfachen.

Paulitz hält diese Prognosen für unseriös: „Demgegenüber beziffert allerdings das Umweltbundesamt das ‚realistisch‘ installierbare Windenergie-Potenzial an Land auf lediglich 81 GW, sofern gar kein Abstand zur Wohnbebauung eingehalten wird. Bei 1.000 Meter Abstand (wie sie derzeit gelten - Anmerkung der Redaktion) zur Wohnbebauung wären es laut Umweltbundesamt sogar nur maximal 63 GW. Die Offshore-Windenergie ist in diesem Szenario mit 36 GW angesetzt, um den Bau von teuren Verbundstromtrassen zu begrenzen.“

Diesen viel zu positiven Grundannahmen hinsichtlich einer Halbierung des Strombedarfs einerseits sowie einer Vervielfachung der Windkraft- und Photovoltaikleistung andererseits entspringen Paulitz zufolge schließlich viel zu positive Hochrechnungen. So rechnet das DIW in den Wintermonaten bei der zu Grunde gelegten Windkapazität von 218 GW (sollte diese denn je realisiert werden) mit Untergrenzen bei der Stromproduktion von 35 bis 111 GW. Dass jedoch im Falle von sogenannten „Dunkelflauten“ (es weht kein Wind und die Sonne scheint nicht) so gut wie überhaupt kein Strom durch Windräder und Photovoltaikanlagen produziert werden kann und demnach massive Lücken in der Stromversorgung drohen, wird außen vorgelassen. Paulitz verweist beispielsweise auf die Dunkelflaute am 8. August des vergangenen Jahres, als die in Deutschland fest installierte Windkraftkapazität von 53 GW an Land morgens um 10 Uhr nur 0,1 GW Strom lieferte und von anderen Quellen - vor allem durch Kohlestrom und durch aus dem europäischen Ausland importierten Strom - aufgefangen werden musste.

Bei solchen extremen Dunkelflauten wie am 8. August 2020 handelt es sich statistisch gesehen zwar um Einzelfälle. Trotzdem muss eine klare Strategie vorhanden sein, was in solchen Fällen geschieht, um weitreichende Stromausfälle zu verhindern. Zudem sind wind- und lichtarme Tage in den Wintermonaten an der Tagesordnung, die Stromausbeute daher niedrig und nicht planbar. Der Ausfall von Wind- und Solarenergie an windstillen und dunklen Tagen ist auch der Grund dafür, warum sowohl im vierten Quartal 2020 als auch im ersten Quartal 2021 die Kohlekraft die wichtigste einzelnen Stromquelle in Deutschland darstellte - jene Kohlekraft, aus der die Bundesregierung derzeit mit Hochdruck aussteigt.

Die Strategie der Bundesregierung scheint derzeit vor allem darauf zu basieren, in Notfällen Strom aus dem europäischen Ausland einzukaufen. Dass das Abschieben der Verantwortung auf französischen Atomstrom oder polnischen Kohlestrom aber keine langfristig tragbare Lösung sein kann, ist klar - zumal auch einige europäische Nachbarn damit begonnen haben, ihre Kapazitäten an planbarer Kohle- und Atomenergie zu reduzieren. Vergessen werden darf nicht, dass es auch im europäischen Verbundsnetz zuletzt immer wieder schwere Komplikationen gegeben hat - beispielsweise Anfang Januar, als große Teile des Kontinents wahrscheinlich haarscharf an einem großflächigen Stromausfall vorbeigeschrammt waren (die DWN berichteten).

Paulitz schreibt weiterhin mit Blick auf die Prognosen zur Photovoltaik-Leistung: „Auch spiegeln die angegebenen Mittagsspitzen der Photovoltaik von bis zu 150 GW bei einer installierten Leistung von 300 GW keinesfalls die ‚geringste Einspeisung‘ an trüben Wintertagen wider. Keinesfalls wird insofern mit dem publizierten Diagramm (in der Studie - die Red.) die ‚Dunkelflaute‘ im Winterhalbjahr auch nur näherungsweise korrekt abgebildet. Allein das deutet darauf hin, dass das DIW-Szenario kein versorgungssicheres Energiesystem modelliert.“

Wenn die Erzeugung niedrig ist, wird die Nachfrage „verschoben“

Besonders pikant ist das Eingeständnis der DIW-Studienautoren, dass künftig die Nachfrage nach Strom in Deutschland zeitweise „verschoben“ werden müsse, weil nicht genug Angebot vorhanden sein werde. Wenig bekannt ist, dass schon heute zahlreichen energieintensiv arbeitenden Unternehmen in Deutschland als Resultat von Engpässen bei der Versorgung kurzerhand der Strom abgestellt wird - etwa der Trimet-Hütte, Deutschlands größtem Aluminiumproduzenten. „Wenn die Winderzeugung niedrig ist, wird die Nachfrage, wenn möglich, verschoben (…)“, zitiert Paulitz aus dem Dokument. Dasselbe gelte für die Versorgungslage im Sommer, wenn nach den Planungen des DIW die Photovoltaik den Großteil des alternativen Stroms generieren soll. Scheint dann nicht genug Sonne, müssen industrielle Verbraucher vom Netz geworfen werden und Elektroautos können nicht mehr geladen werden.

„Im Sommer ändert sich das Schema hin zu einer von PV-Anlagen dominierten Erzeugung. Ähnlich wie im Winter wird durch eine flexible Verschiebung von Stromnachfrage aus der Elektromobilität und der Industrie das tägliche Profil des Einspeiseverhaltens von PV ausgenutzt (…)“, heißt es dazu verklausuliert in der Studie.

Ebenfalls wenig bekannt in der Öffentlichkeit ist, dass derartige Überlegungen bereits von der Bundesregierung konkret durchgerechnet werden. Vor einigen Monaten veröffentlichte das Bundeswirtschaftsministerium sogar einen entsprechenden Expertenbericht, welcher allerdings von Wirtschaftsminister Altmaier zur Überarbeitung an die Fachleute zurückgegeben und von der Homepage des Ministeriums genommen wurde. In Kalifornien ist die „Verschiebung“ der Stromnachfrage hingegen bereits Realität - dort werden Kunden mit höheren Strompreisen faktisch gezwungen, nur noch zu „genehmen Zeiten“ Energie zu verbrauchen.

Damit geht ein grundlegender Paradigmenwechsel im Stromsystem einher: Bislang herrschte zu jeder Zeit eine gewisse Nachfrage, die vom Angebot gedeckt werden musste. In Zukunft, wenn die schwankungsanfälligen Stromquellen Windkraft und Solarenergie wegen des Atom- und Kohleausstiegs immer größere Teile der Stromversorgung garantieren sollen, wird es andersherum sein - die Nachfrage muss sich dann dem verfügbaren Angebot anpassen.

Paulitz zufolge herrschen dann in Deutschland Zustände, wie man sie heute nur aus Schwellenländern wie Indien oder Mexiko kenne - die Stromversorgung kann jederzeit verschwinden - ob für einige Sekunden oder gar Stunden.

Energiespeicher sind heute noch nicht verfügbar

Noch ein anderer in der DIW-Studie angesprochener Aspekt erregt Skepsis. So geht das Institut bei seinen Berechnungen davon aus, dass in Zukunft in großem Umfang leistungsfähige Stromspeichertechnologien in Deutschland zur Verfügung stehen werden. Ob diese aber je gebaut werden, sei mehr als fraglich, so Paulitz: „Zur kurzzeitigen bzw. saisonalen Speicherung von Energie sollen Batteriespeicher mit einer gewaltigen Größenordnung von 27 GW und 83 GW Elektrolyseure zur Wasserstofferzeugung installiert und betrieben werden. Die Speichergase sollen mit Hilfe von ‚Wasserstoffturbinen‘ (Gaskraftwerke) wiederverstromt werden. Das ist eine gewagte Wette auf die Zukunft. Elektrolyseure befinden sich derzeit erst noch im Pilotprojekt-Stadium mit Leistungen von 0,01 GW. Die Skalierbarkeit ist bislang fraglich. Für die Weiterentwicklung und eine eventuelle landesweite Implementierung wären nach Einschätzung der Technischen Universität Dresden mehrere Jahrzehnte erforderlich.“

De-Industrialisierung in Deutschland?

Spannend sind Paulitz‘ Beobachtungen, wie sich das DIW die künftige Stromversorgung der deutschen Industrie vorstellt - immerhin ist Deutschland gemessen an der Wirtschaftskraft das weltweit viertgrößte Land und die Industrie sowie der Mittelstand Garanten des Wohlstandes hierzulande.

Der gegenwärtige Endenergiebedarf der Industrie liegt bei 722 TWh (Zahlen aus dem Jahr 2018). Bei zeitlich gleichmäßiger Verteilung würde das einem Leistungsbedarf von gut 80 GW entsprechen. Das DIW setzt aber für die Zukunft nur noch einen Energiebedarf von 456 TWh an, was in etwa 50 GW Leistung entspricht. Es ist schleierhaft, warum die deutsche Wirtschaft in Zukunft fast die Hälfte weniger Energie als heute benötigen sollte - Effizienzmaßnahmen alleine dürften nicht zur Erreichung dieses Ziels ausreichen.

„Im Winter kann das DIW-Szenario aber nur zwischen 14 und 93 GW zur Verfügung stellen. Das bedeutet, dass die Industrie ihre Produktion regelmäßig unterbrechen müsste. Hinzu kommt aber, dass – wie oben dargestellt – diese Zahlen überhaupt nicht die Dunkelflaute abbilden. Tatsächlich müsste man bei diesem Stromversorgungssystem zeitweise mit einer deutlich niedrigeren Stromerzeugung gerade auch im Winterhalbjahr ausgehen, so dass man feststellen muss, dass für die Industrie keine zuverlässige Energieversorgung mehr gewährleistet wäre, würde dieses DIW-Szenario Realität werden. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob die Wirtschaftsforscher des DIW von einer Deindustrialisierung Deutschlands im Zuge der Energiewende ausgehen“, schreibt Paulitz.

Wie sich der Endenergieverbrauch der deutschen Unternehmen in Zukunft exakt entwicklen wird, ist unklar. Klar ist aber, dass das Wirtschaftsministerium mit Blick auf die kommenden Jahre von einem Anstieg der Gesamtnachfrage nach Strom in Deutschland ausgeht.

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier rechnet bis 2030 mit einem deutlich höheren Stromverbrauch in Deutschland als bisher angenommen. Einem vor Kurzem vorgestellten Bericht zufolge steigt der Stromverbrauch bis 2030 auf 645 bis 665 Terawattstunden. Dies sei ein Zuwachs von 15 Prozent gegenüber den bisherigen Annahmen, so Altmaier. Als Grund für den höheren Strombedarf nannte Altmaier etwa den vom Bund mit Steuer-Milliarden subventionierten Markthochlauf von Elektroautos.


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