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Die Impfpflicht: Demütigung einer Minderheit

Lesezeit: 10 min
14.01.2022 19:31  Aktualisiert: 14.01.2022 19:31
DWN-Kolumnist Prof. Dr. Werner Thiede wägt die Für und Wider einer Impfpflicht ab.
Die Impfpflicht: Demütigung einer Minderheit
Eine Impfung. (Foto: dpa)

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Ist sich die Politik eigentlich über die inneren Bedrängnisse bei Impfgegnern klar? Bedenkt sie hinreichend die bei ihnen seelisch und bis ins Körperliche hinein wirkenden Effekte im Falle einer gesetzlichen Impfpflicht?

Langsam beginnt sich das Blatt zu wenden: „Es zeichnet sich ab, dass die Impfpflicht ein Irrweg ist“, bemerkte die Journalistin Kaja Klapsa in der ZDF-Sendung Lanz am 11. Januar. Auch in Österreich steht die angesagte Impfpflicht auf der Kippe. Und Spanien stuft die Pandemie bereits zu einer gewöhnlichen Grippe herunter. Gleich­wohl haben noch etliche maßgebliche Politiker in Deutschland kaum bemerkt, dass der Wind sich gedreht hat. So viel für eine indirekte Impfpflicht spricht, so sehr zerbröseln derzeit die Argumente zugunsten einer direkten Vorschrift, die ja vor dem Bundesver­fassungs­gericht bestehen können und praktikabel sein müsste. Zu tief wäre der Eingriff in zen­trale Grundrechte, zu problematisch die damit provozierte Vertiefung der gesell­schaft­lichen Spaltung. Denn eine allgemeine oder auf bestimmte Altersgruppen zielende Impf­pflicht ließe den Respekt vor der individuellen Entscheidung über den eigenen Kör­per vermis­sen; sie würde kränken und demütigen. Dass sich Bundeskanzler Scholz und die Regie­rungs-Chefs der Länder kürzlich noch für eine generelle Impfpflicht ausge­sprochen haben, zeugt vom gemeinsamen Willen zur politischen Agitation – aber auch von Weis­heit und Weit­blick?

Die spaltende Kraft des Impfpflicht-Ansinnens zu bestreiten, ist entweder naiv oder raffinierte Propaganda. Hält sich doch selbst unter Geimpften und impfenden Ärzten so manche Skepsis gegenüber den Corona-Vakzinen! Der Streit um die politisch geplante Demütigung von Impf-Skeptikern zerreißt Freundschaften, Fami­lien, Teams, Par­teien und Gemeinden. Das aber be­deutet zuneh­mende Verletzungen und Kränkungs­gefühle, die ihrerseits krank machen, indem sie das Immun­system schwä­chen.

Da ist zunächst die große Mehrheit der Geimpften, die von der Imp­fung weithin überzeugt ist und für ihre sachliche und moralische Richtigkeit eintritt: Sie ist gekränkt durch die Min­der­heit der Unge­impften – genauer gesagt dadurch, dass die sich kaum überzeugen lassen will. „Und bist du

nicht willig, so brauch ich Gewalt“: Wenn man mit Geduld und Zuckerbrot die angepeilte, prozentual ja immer noch weiter hoch geschraubte Ziel­marke von annä­hernd 90 Prozent der Gesamtbevölkerung nicht bald errei­chen könne, dann müsse eben die Peitsche her: In diesem Sinne forderten der Weltärzte-Präsident Frank Ulrich Montgomery und andere eine staatlich ver­ordnete und sanktionierte generelle Impfpflicht. Für deren Einführung sind inzwischen alle Länder-Regierungs-Chefs.

Das aber kränkt die zu „Peitschenden“, deren Vorbehalte gegen eine Impfung sehr unter­schiedliche Gründe haben können. Da sind neben diversen Verschwörungstheorien[1] durchaus auch rationale Argumente im Spiel. Deren ebenso pauschale wie intolerante Verwerfung im Zuge des Strebens nach einer hart sank­tio­nierten Impfpflicht wirkt wiederum kränkend und verletzend. Empö­rung und Protest­kund­ge­bungen sind die aktuelle Folge – zum kleineren Teil mit leider radikalen Auswüchsen. Aus gutem Grund zweifelt der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, am Instrument der Impfpflicht: „Dies würde zu einer noch stärkeren Polarisierung führen, und viele Menschen würden mit großer Intensität versuchen, dieser Pflicht zu entge­hen.“[2]

Impf-Spätfolgen doch nicht ausgeschlossen

Der Gruppe der Impfverweigerer kommt bei alledem eine gewisse Sündenbock-Funktion zu: Montgomery und andere sprachen bekanntlich von der „Tyrannei der Ungeimpften“ – ein deutlicher Ausdruck von Kränkungsgefühlen mit Blick auf all jene, die es ohne hin­reichenden Respekt vor dem Gemeinwohl wagten, ihr Selbstbestimmungsrecht über den eige­nen Kör­per zu behaupten. Doch dieser international zum Schlagwort gewordenen Formulie­rung wider­sprach bekanntlich der Virologe Christian Drosten ganz ent­schie­den: „Wir haben keine Pan­de­mie der Ungeimpften, wir haben eine Pande­mie.“ Schließlich wird ja das Virus auch von Ge­impf­ten übertragen – eine bittere Wahrheit, deren oft geübte Überspielung wiederum krän­kend wirkt. Sollte der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki psychologisch nicht doch et­was Richtiges sehen, wenn er Befürwortern einer Impfpflicht in­tentional „Ra­che“ an den Umgeimpften unterstellt – nämlich Wut wegen deren Sturheit und Neid auf ihre bewahrte körperliche Unversehrtheit?

Würden nicht viele Bürge­rin­nen und Bürger, ob geimpft oder nicht, eine Impf-Pflicht als sub­tile Nötigung empfinden, ja als Attacke auf ihre Würde[3], als orga­nisierte Re­spektlosigkeit? Die gesetzliche Forderung einer unfreiwil­ligen Preisgabe körperlicher Selbstbestimmung sollte nur für den allerex­trem­sten Notfall zum In­strumentarium einer freiheitlichen Politik zählen – und würde dann übrigens auch kaum als un­ge­mes­sen oder verletzend aufgefasst. Dermaßen extrem aber ist die Lage in Deutsch­land nicht; der Virologe Klaus Stöhr etwa sieht vielmehr mit „Omikron“ ein Ende der Coro­na-Pandemie in Sicht kommen – und für eine zeitnahe Impfpflicht keinen Anlass[4]! Und so war denn auch am 11. Januar im heute-Journal davon die Rede, dass sich eine Impfpflicht bald er­ledigt haben könnte. Selbst der Ethikrat hat sich dieser Tage mit Blick auf seine im Dezember ziemlich klar geäußerte Befürwortung einer Impfpflicht „revisionsoffen“ gezeigt[5]!

Doch die Debatte hält an. Wenn sich dabei Befürworter einer Impfpflicht in ihrer rationalen Haltung gekränkt und gar ge­fähr­det fühlen durch Impf-Verweigerer, so sind umgekehrt Impf-Skeptiker gekränkt, wenn sie pauschalisierend und herablassend als irrational karikiert werden und vernünftig vorgebrachte Argumente einfach ausge­blendet oder in einen Topf mit ver­schwörungsmythi­schen Behauptungen geworfen werden. Tatsächlich reicht die Impf­pflicht-Kritik – so die Demokratie-For­sche­rin Ulrike Guérot – „bis weit ins bürgerliche Lager, und zwar partei­übergreifend: Es gibt zahl­reiche Aufrufe von Ärz­ten oder Rechtsan­wäl­ten, nicht nur auf dubi­osen Telegram-Kanä­len, sondern auf Web­seiten im gesamten poli­ti­schen Spektrum von kon­servativ bis links… All diese viel­fältigen Gruppen als radikalen Rand oder nicht ernst zu neh­mende Minderheit zu be­zeichnen, ist Un­sinn.“[6]

Be­zeich­nen­der­weise gab es im Herbst in zentralen Nachrichtensendungen wie­der­holt Inter­views und Kom­­mentare, die in fast propagandistischer Manier Langzeitwirkun­gen der Impf­stoffe garan­tiert aus­schlos­sen. Wäre dieses Narrativ mit seinen Folgerungen zutreffend, dann hätten Impf­pflicht-Gegner keine guten Kar­ten und müss­ten – wie Fußballstar Joshua Kim­mich – am Ende beschämt um­den­ken. Aber so eindeutig und „zwingend“ ist die Sache kei­nes­wegs. Der inter­na­tional re­nom­mierte Viro­loge und Bioethi­ker Alexander Kekulé etwa unter­streicht, kein seri­ö­ser Wis­sen­schaftler kön­ne aus­schließen, dass in Zukunft Impf-Neben­ef­fek­te ent­deckt wer­den, die mit den heuti­gen Kennt­nissen über das menschliche Immun­system nicht vor­her­seh­bar waren; wer Angst vor der Imp­fung mit mRNA-Wirkstoffen habe, dürfe nicht dazu „ver­pflich­tet“ werden[7]. Auch der Medi­zinethi­ker Axel Bauer von der Univer­sität Mannheim äußer­te ähn­liche Vorbe­halte gegen­­über einer gene­rellen Impfpflicht[8]. In England sprachen sich Wissen­schaftler, Ärzte und Angehörige von Gesund­heitsberufen in einem Arti­kel des British Medical Journal gegen eine Impfpflicht aus, weil es erhebliche Un­sicherheiten hin­sichtlich der Wirk­samkeit der Covid-Impfstoffe und einen Mangel an Daten über langfris­tige Schäden gebe[9]. Neueste Verlautbarungen des britischen Gesundheitsministe­riums deuten eventuell sogar darauf hin, dass das Omikron-Ansteckungsrisiko für Geimpfte höher liegen könnte als für Ungeimpfte; rund drei Viertel der Infektionen im Dezember traten bei Geimpf­ten auf, fast zwei Drittel bei doppelt oder dreifach Geimpften, aber lediglich 22 Prozent bei Nichtge­impften[10]. Diese Daten vom 6. Januar sind freilich insofern zu relativieren, als sie nicht um einzukalkulierende „Störfaktoren“ bereinigt sind, doch geben sie jedenfalls zu den­ken.

Unbedingt gilt es, einer reduk­tionistischen Sichtweise der Impf-Problematik zu wehren – nach allen Seiten, versteht sich! Die derzeitigen Plädoyers für eine generelle Impfpflicht impli­zie­ren ebenso wie gegenläufige Argumentationen oft insofern einen Anteil an Desinformation, als sie Verkür­zungen oder Ausblendungen enthalten. So wäre bei­spielsweise bei einer Bezug­nahme auf die erwähnten Dezember-Daten aus England auch zu berücksichtigen, dass Ge­impfte einen zwar derzeit leicht abneh­menden, aber doch ziemlich hohen Schutz vor Hos­pitali­sierung und Tod genießen. Faire, kundige und differenzierte Sach­information muss trans­portiert und in den öffentlichen Me­dien ohne mani­pulative Tendenzen dargeboten und diskutiert werden. Alles andere würde nach der einen oder anderen Richtung zu Krän­kun­gen führen und das Debattenklima weiter vergiften. Dabei geht es darum, dass am Ende im Bun­destag die Weichen demnächst nicht falsch gestellt werden.

Verpflichtende Impfung wäre „Gift“

Fakt ist, dass die aktuell gegen Covid-19 zur Verfügung stehenden Impfstoffe lediglich einer bedingten Zulassung unterliegen. Das aber bedeutet, dass sie ohne die diagnostizierte Notsi­tua­tion so gar nicht zugelassen worden wären – und dass eine verpflichtend gemachte Imp­fung unter diesen Um­ständen eine unwürdige Zumutung bedeuten würde, von einer juristi­schen Prüfung noch ganz abgesehen. Sollten Impfgegner im Falle einer Impf­pflicht gezwun­gen werden, einen Aufklärungsbogen zu unterschreiben, dessen Inhalten sie argu­mentativ sehr kritisch gegenüberstehen? Wer haftet, falls sie früher oder auch später zu Scha­den kommen würden?

Sofern die Regierenden und das Parlament mehrheitlich davon ausgehen, dass die epidemio­logische Lage sowie der Stand „der“ Wis­senschaft eine Impfpflicht in der einen oder anderen Variante als unausweichliche Not­wen­digkeit er­scheinen lassen, was folgt daraus für den Um­gang mit den nach wie vor „Unein­sichtigen“? Die von Politikern gern geäußerte tak­ti­sche Be­hauptung, sie würden nach erfolgter Impfung sel­ber sehen, dass nichts Schlimmes passierte, ja die Spaltung der Gesellschaft kön­ne gerade auf diese Weise überwunden werden, ist auf geradezu kränkende Weise fahr­lässig. Ein Beispiel mag das verdeut­lichen: Es gibt ein Buch, das mit esoterischer Begründung behauptet, eine Corona-Impfung werde sogar noch nach dem Tod Folgen haben[11] – was nicht nur allgemein als irrationale Auffassung gebrand­markt werden muss, sondern auch theologisch unmöglich gut­zuheißen ist. Gleich­wohl gilt es in einem freiheitlichen Rechtsstaat die Glaubens- und Mei­nungs­freiheit zu respektieren. Mit einer verpflichtend ge­machten Impfung werden wie auch immer argumen­tierende Impfgegner nicht nur gekränkt, sondern mitunter in größte psychi­sche Bedrängnis (bis hin zu suizidalen Gedanken) gebracht – vom Eingriff in die kör­per­liche Integrität ganz abgesehen. Im Falle des exemplarisch erwähnten Glaubens an eine dro­hende postmortale Nachwirkung der Imp­fung sticht nicht einmal das Argument, die Be­trof­fenen würden ja bald einsehen, dass ihnen die Impfung nicht geschadet habe; vielmehr wären diese für den Rest ihres Lebens in höchster Angst gefangen. Aber auch bei denen, die mit Spät­folgen in einigen Jahren rechnen, wäre eine staatliche Impfpflicht ge­wissermaßen eine see­lische Vergewaltigung mit mög­lichen Lang­zeitschäden. Denn psychisch erzeugt eine Impf­pflicht bei vielen, gegen deren in­nere Überzeu­gung sie sich ja respektlos richtet, einen sogenannten Nocebo-Effekt – näm­lich analog zur positiven, durchaus oft heilsamen Suggestiv-Wir­kung des bekannten Placebo-Effekts hier nun eine negative, real krankmachende Wirkung in­folge der wie auch immer be­grün­deten Über­zeugung, geschädigt zu werden.

Die protestantische Erfurter Regionalbischöfin Friederike Spengler betont: „Ein sensibler Umgang mit der Hoheit über die geistige und körperliche Unversehrtheit des Einzelnen ist ein hohes Gut. Diese durch eine Verpflichtung zur Impfung einzuschränken, erscheint mir sehr bedenklich.“ Auch der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm lehnt eine allge­meine Impf­pflicht mit der Begründung ab, derlei „Zwangsmaßnahmen“ könnten ungeimpfte Menschen dauerhaft vom Staat und einem Großteil der Gesellschaft entfremden. Tatsächlich sollte die Debatte um eine Impfpflicht nicht vertuschen, dass es kei­neswegs allein um die dro­hende Einschränkung von Freiheitsrechten geht, sondern um von der Politik mit zu ver­ant­wor­tenden gesundheitlichen Nocebo-Schaden an wohl einigen Mil­lionen Mitbürgerin­nen und Mit­bürgern. Ob sich die staatliche Schutzpflicht hinsichtlich des drohenden Corona-Scha­dens in der Gesellschaft einfach gegen diesen von ihm selbst womöglich mit­ verschuldeten Schad-Faktor ausspielen lässt, dürfte zu bezweifeln sein.

Zweifel gibt es im Übrigen auch hinsichtlich der vielfach durch Geimpfte argumentativ ins Spiel gebrachten gesellschaftlichen Solidarität, die von den Ungeimpften in der Pandemie zu erwarten sei. Dabei ist „Solidarität“ eigentlich keine Forderung, die eine Mehrheit an eine Minderheit richtet, sondern umgekehrt! Mit Recht erklärt dazu Ulrike Guérot: „Es geht um den eigenen Körper als Gren­ze der Solidarität. Das wird vielfach als Egoismus oder als unzu­lässige Freiheitsliebe ge­wertet. Man kann es aber auch als Ausdruck un­veräußerlicher Menschenwürde werten, dass der Körper tabu ist und nicht für einen gesell­schaftlichen Zweck instrumentalisiert werden darf. Zumal inzwischen erhärtet ist, dass durch eine Impfpflicht weder eine sterile Immunität noch Herdenimmunität erreicht wird, der Zweck also nicht ein­mal erzielt wird.“ Artikel 2 des Grundgesetzes, der ja das Recht auf körperliche Unver­sehrt­heit fixiert, sei zumindest in histo­rischer Gene­se als Abwehrrecht gegen einen übergrif­figen Staat zu lesen. Jetzt aber werde daraus „ein Recht auf Gesundheit oder Nicht-An­steckung kon­struiert. Man könnte umgekehrt diese Auslegung auch als Egoismus begreifen: Weil ich mich trotz Impfung immer noch nicht sicher fühle, musst du dich auch impfen lassen.“ Doch nie­mand könne zur Solidarität ge­zwun­gen werden. Es sei Gift, so Guérot, gegen Ungeimpfte zu moralisieren und sie zu drangsa­lie­ren.

Dynamik der dialektischen Vernunft

Aktuell ist noch auf vier weitere gewichtige Aspekte hinzuweisen, die den Gedanken an eine allgemeine oder etwa „ab 50“ gestufte Corona-Impfpflicht als unangebrachte Maßnahme er­scheinen lassen. Erstens sind inzwischen Medikamente gegen schwere Verläufe von Covid-19 zugelassen. Zweitens werden in den nächsten Monaten alternative Impfstoffe verfügbar, die es etlichen Impf-Skeptikern ohnehin leichter machen dürften, gewisse Vorbehalte aufzugeben. Drittens wäre eine Impfpflicht schwerlich ohne nationales Impfregister durch­zu­setzen, was datenschutzrechtliche Bedenken auf­werfen und bei vie­len Menschen ein kränkendes Gefühl verstärkter staatlicher Gängelung erzeugen würde. Und viertens ist die jetzt in Deutschland vorherrschende Omi­kron-Variante bekanntlich zwar nicht als harmlos zu bewerten, aber doch als ge­kenn­zeichnet durch einen „mil­deren Ver­lauf“ bzw. „verringerte Patho­genität“– so kürzlich der schon erwähnte Virologe Klaus Stöhr. All diese neueren Gründe rücken eine all­gemeine Impfpflicht deutlich in die Kate­gorie der Un­ver­hält­nismäßig­keit. Trotzdem durchge­setzt, müsste sie schikanös wirken – und damit krän­kend, wenn nicht krank machend.

Im Übrigen sollte der Gesetzgeber berücksichtigen, dass Spätfolgen einer solchen Impfung seriös eben doch nicht auszuschließen sind, was einige Experten – wie dargelegt – gegen den kol­legialen Mainstream mitunter offen ein­räumen. Auch würde eine Impfpflicht fürs laufende Halbjahr nichts mehr bringen. Der für das Impfpflicht-Projekt in der SPD-Fraktion zuständige stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dirk Wiese erklärte denn auch vor Kurzem in Überein­stimmung mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, eine Impf­pflicht sei „perspek­tivisch eine Vorsorge für den kommenden Herbst und Winter“[12]. Doch darf ein derart starker Eingriff in zentrale Grundrechte „vorsorglich“, also gleichsam spekulativ erfolgen? Das ist kaum vorstell­bar! Hinzu kommt ja noch, dass die Vakzine offenbar nur wenige Monate wir­ken und eine Impfpflicht womöglich auf eine „Abonnement-Impfung“ hinausliefe – Grund genug für Andreas Gassen, den Vorstandsvorsitzenden der Kassenärztlichen Bundes­vereini­gung, sich gegen eine allgemeine Impfpflicht auszusprechen.

Folglich rechtfertigt das Gesamt-Sze­nario eine Impfpflicht keineswegs als jenes „abso­lut letzte Mittel“, als das die Weltge­sund­heits­orga­nisation (WHO)[13] sie in Europa ansieht. Von dem Pro­jekt ihrer Einführung sollte die Politik deshalb endgültig ablassen – wo­mit ver­lore­n gegan­genes politisches Vertrauen wiederhergestellt würde und drohende Krän­kun­gen, ja Krankma­chun­gen vermie­den werden könnten.

In diese Richtung weist zudem eine statistische Betrachtung. Nimmt man nämlich aus der Statistik Kinder unter fünf Jahren sowie Menschen heraus, die aus medizinischen Gründen ohnehin nicht geimpft werden dürfen, so ergibt sich, dass jetzt vier Fünftel der infrage kommenden Bevölkerung einmal ge­impft sind – und etwa 78 Prozent vollständig. In den nächsten Monaten werden die Prozent­zahlen ja immer noch weiter steigen, weshalb sich schon von daher die so problematische Ein­füh­rung einer Impf­pflicht für den kleinen Rest der infrage kommenden Bevölkerung nahezu er­übrigt. An­stelle einer solch schwierigen Maßnah­me wäre es sinnvoller, die trotz aller Auf­klä­rungs­maßnahmen skeptisch Bleibenden vor Noce­bo-Schä­den und Strafandro­hungen zu ver­schonen – und damit das Hei­len der gesell­schaft­lichen Spaltung zu fördern.

Gewiss wäre eine allgemeine Impfpflicht begrüßenswert und auch kaum demütigend, wenn die entsprechenden Vernunftgründe klar und allgemein einleuchtend wären. Das ist aber schlicht nicht der Fall. Weiterhelfen kann in dieser Frage nur ein Sieg der dialektischen Ver­nunft. Standpunkt A bildete die selbst­verständliche Versicherung der Politik, es werde in der Corona-Pandemie keine Impfpflicht geben. Standpunkt B machte umschwenkend ins prompte Gegenteil die These stark, eine Impfpflicht sei staatlich anzuordnen. Erst der Stand­­punkt C aber erbringt die wirklich ver­nünftig zu nennende Synthese, in der A und B einerseits durch­gestrichen und andererseits mit ihren Teil­wahrheiten bewahrt sind: Demnach kann eine Corona-Impfung staatlich sehr wohl drin­gend empfohlen, durch eine allenfalls indi­rekte Impfpflicht (2G) nahegelegt und durch Informations­kam­pagnen, „Aufklärungszwang“ oder An­reize gefördert, aber nicht zur schlechthinnigen Pflicht erhoben wer­den – auch nicht für be­stimmte Alters­gruppen. Es darf eben nicht nur strategisch von oben herab gedacht und ge­plant werden, sondern es muss die grundrechtlich garantierte Würde des Individuums bei alledem gewahrt bleiben. Nach der politischen Stimmungs­wende von A zu B im Herbst sollte in den kom­menden Wochen und Monaten aufgrund einer Ge­samtabwägung der Argu­mente eine Wende hin zu Position C als der eigent­lich ver­nünftigen, tragfähigen Einsicht im Parla­ment, bei den Regie­rungs-Chefs der Länder und in der Bevölkerung erfolgen. Dass sich solche Ab­kehr von der fixen Idee einer Impfpflicht immer mehr abzu­zeichnen beginnt, wie Kaja Klapsa und andere beobachten, macht Hoffnung auf eine Ent­spannung der Gesamtlage.

[1] Ein Beispiel findet sich auf www.bitchute.com/video/bsumRCk3dDKC/: Hier kündigte Ricardo Delgado als Gründer der Quinta Columna Ende Dezember 2021 an, infolge der angeblich gra­phenoxid-haltigen Nanotechnologien in den Vakzinen werde in Verbindung mit 4G- und 5G-Mobilfunk binnen „weniger Monate“ die Menschheit, so wie wir sie ken­nen, zu Gunsten von übrigbleibenden roboterartigen Wesen ohne eigenes Denken und freien Wil­len verschwinden

[6] www.welt.de/vermischtes/plus235908648/Ulrike-Guerot-De-facto-ist-eine-gesamte-Gesellschaft-entmuendigt-worden.html. Siehe auch Werner Thiede: Impfpflicht als Demütigung einer Bevölkerungsminderheit, in: Deutsche Wirtschaftsnachrichten vom 16.1.2022.

[7] www.focus.de/gesundheit/news/focus-online-kolumne-von-alexander-kekule-warum-impfen-zum-ziel-fuehrt-aber-eine-pflicht-jetzt-das-falsche-mittel-ist_id_24479545.html. Ob Kekulés vorläufige Dienstenthebung kurz vor Weihnachten mit solchen politisch unwillkomme­nen Äußerungen zu tun hat? Er selbst spricht von einem „politischen Verfahren“ (www.welt.de/wissenschaft/article235806900/Alexander-Kekule-Virologe-wird-von-Uni-Halle-rausgeworfen.html).

[8] www.idea.de/artikel/impfpflicht-gegen-das-coronavirus-einfuehren. Siehe auch den Offenen Brief von rund 400 Medizinerinnen und Medizinern gegen eine generelle Impfpflicht: www.frisches-flensburg.de/aerzte-stehen-auf-offener-brief-an-die-regierung/

[11] Thomas Mayer: Corona-Impfungen aus spiritueller Sicht. Auswirkung auf Seele und Geist und das nachtodliche Leben, Saarbrücken 2021. Vgl. hingegen Werner Thiede: Impfpflicht – eine pastorale Herausforderung, in: Der Sonntag Nr. 2/2022, S. 4.

Dr. theol. habil. Werner Thiede ist außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie an der Universität Er­lan­gen-Nürnberg, Pfarrer i.R. und Publizist (www.werner-thiede.de). Zuletzt erschien von ihm „Unsterblichkeit der Seele? Interdisziplinäre Annäherungen an eine Menschheitsfrage“ (2. Auflage, Berlin 2022); im Druck befindet sich das Büchlein „Himmlisch wohnen. Auferstanden zu neuem Leben“ (Leipzig 2023).


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