Politik

KREISS ANALYSIERT: Die USA werden Europa gegen einen russischen Angriff nicht verteidigen

DWN-Autor Christian Kreiß analysiert in einem meinungsstarken Artikel den politischen und wirtschaftlichen Hintergrund, vor dem sich die Ukraine-Krise abspielt.
06.03.2022 11:03
Lesezeit: 5 min

Die weltweiten Schulden sind so hoch wie noch nie. Die führenden Notenbanken der Industrieländer haben so viel frisches Geld gedruckt wie niemals zuvor. Während Corona wurden ungeheuer viele Schecks auf die Zukunft gezogen, die unmöglich jemals eingelöst werden können. In irgendeiner Form muss ein Geld- und Schuldenschnitt kommen. Wäre ein großer Ukraine-Krieg eine Lösung für unsere Finanzprobleme?

Die ökonomische Entwicklung seit 1980: Die Reichen werden reicher

Seit etwa 1980 sehen wir in den USA, aber auch in vielen anderen Industrienationen, eine zunehmende Ungleichverteilung. Die Schere zwischen arm und reich, genauer zwischen den Wohlhabenden auf der einen und der Mittelschicht beziehungsweise den unteren Einkommensschichten auf der anderen Seite, ist weit aufgegangen. Das war auch politisch durchaus so gewollt. Von der „konservativen Revolution“, die 1980 in den USA und Großbritannien begann, ging das Motto aus: Macht die Reichen reicher, entlastet die Unternehmen steuerlich, dann wird mehr investiert und das Wachstum steigt. Das hat auch funktioniert, allerdings unter Inkaufnahme zunehmender Ungleichverteilung - das heißt, ein großer Teil des zunehmenden materiellen Wohlstands ist nach oben geflossen, zu den ohnehin schon Wohlhabenden.[1]

Massenproduktion ist aber nur möglich bei Massennachfrage, und diese setzt wiederum Massenkaufkraft voraus. Aber just die Massenkaufkraft ist nur sehr wenig gewachsen, da die Löhne nur wenig gestiegen sind. Wie war also das starke Wirtschaftswachstum überhaupt möglich? Wer hat mit welchem Geld die ganzen zusätzlichen Produkte und Dienstleistungen gekauft? Nun, das funktionierte nur über zunehmende Schulden.[2] Die weltweiten Schulden sind derzeit mit 296 Billionen Dollar, das entspricht 353 Prozent der globalen Wirtschaftskraft, so hoch wie noch nie[3] und können unmöglich jemals zurückgezahlt werden.

Was ist also von 1980 bis heute geschehen? Das zusätzliche Geld und Kapital haben sich mehr und mehr bei einer kleinen Oberschicht konzentriert. Von dieser wurde es wieder renditemaximierend in neue Investitionen gesteckt, für die jedoch eigentlich die Massenachfrage gefehlt hat. Diese fehlende Massennachfrage hat man dann über Kredite geschaffen. Es hat also ein nicht organisches, nicht gesundes, sondern ein krankes Wachstum stattgefunden.

2007 wurde schließlich ein unhaltbarer Zustand dieser Entwicklungen erreicht. Die Schulden waren zu hoch geworden, insbesondere die Immobilienmärkte (aber nicht nur diese) waren auf vollkommen ungesunde Weise gewachsen. Das führte zu der Finanzkrise von 2007 bis 2009, die die Welt an den Rand eines Zusammenbruchs des Finanzsystems führte. Das Schuldenproblem wurde „gelöst“, indem neue Schulden aufgenommen wurden. Das war möglich, weil die Notenbanken in fast allen Industriestaaten die Zinsen auf oder nahe Null setzten und frisches Geld in noch nie dagewesenem Maße druckten (und weiter drucken) – der Fachausdruck dafür ist quantitative Lockerung (quantitative easing) beziehungsweise Geldmengenausweitung. Die amerikanische Zentralbank Fed hat die Zentralbankgeldmenge seit 2007 grob verelffacht, die EZB hat sie etwa verneunfacht.

So stehen wir heute nicht nur vor einem unlösbaren Schuldenproblem, sondern auch vor einer riesigen Geldblase, die beide das finanzielle Spiegelbild des eigentlich zu Grunde liegenden ökonomischen Problems sind: Die Massennachfrage ist zu gering, die Produktionskapazitäten sind, gemessen an den Einkommen, viel zu hoch, weil die Ungleichverteilung ständig gestiegen ist. Ein großer Teil des Wirtschaftswachstums der letzten 40 Jahre war ungesundes, schuldenfinanziertes und daher nicht nachhaltiges Wachstum.

Krieg als Lösung der ökonomischen Probleme? Welche Interessen haben die USA?

Von „der“ einen Lösung "der" Finanzmarkt- oder Überkapazitätsprobleme zu sprechen, ist zu allgemein. Ich möchte daher auf ganz bestimmte, konkrete Interessenlagen eingehen. Wie stellt sich die polit-ökonomische Lage aus Sicht der USA dar? Nun, aus ihrer Perspektive ist Mitteleuropa, insbesondere Deutschland, ein beachtlicher ökonomischer Rivale. Die Bundesrepublik ist die viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt. Technik, Produktion, Produktivität, Effizienz sind im internationalen Vergleich ausgezeichnet. Dazu kommt, dass Deutschland seit der Wiedervereinigung von der Einwohnerzahl her deutlich größer als Frankreich, Großbritannien und Italien ist und daher zumindest das Potenzial hat, sich politisch stärker geltend zu machen. Ich fürchte, weder ein starkes Europa noch ein starkes Deutschland sind unter machtpolitischen Aspekten im Interesse der USA. Im Gegenteil, sie sind unangenehme Konkurrenten.

Von daher könnte die Schwächung Europas, insbesondere Mitteleuropas, ein mögliches wichtiges Ziel der USA im Ukraine-Konflikt sein. Spinnt man diesen Gedanken fort, könnten Truppenbewegungen und das Austragen militärischer Konflikte auf mitteleuropäischem Boden, möglicherweise auch über den Rhein hinweg in französische, holländische und belgische Industriezentren hinein, aus US-Sicht vorteilhaft sein: Das würde nämlich europäische Industriekapazitäten zerstören, auf diese Weise Konkurrenz ausschalten und die problematischen weltweiten Überkapazitäten reduzieren – auf fremdem Boden und daher zu Gunsten der US-Industriebasis.

Ich sehe daher unter rein hegemonialpolitischen Gesichtspunkten keinen triftigen Grund für die USA, bei einem möglichen Vormarsch russischer Truppen nach Westen Polen oder Deutschland militärisch ernsthaft zu unterstützen. Im Gegenteil: Aus machtpolitischer Sicht könnte ein solcher militärischer Vorstoß nach Mitteleuropa den USA durchaus willkommen sein. Ich rechne daher für den nicht unwahrscheinlichen Fall russischer Truppenbewegungen nach Westen mit vergleichsweise geringem, lediglich gesichtswahrendem militärischen NATO-Beistand für Polen und Deutschland. Von daher könnte ein Vorstoß russischer Truppen bis tief nach Mitteleuropa hinein recht schnell gehen.

Unter Hegemonialgesichtspunkten wären für die USA eine echte, tiefe Völkerverständigung und Kooperation zwischen Russland und Deutschland geradezu ein Alptraum. Das riesige russische Land in einer Allianz mit Mitteleuropa, das technische, geistige, ökonomische Know-how, die Effizienz Mitteleuropas kombiniert mit der gewaltigen Landmasse Russlands und dessen vielen Menschen: eine solche Allianz wäre eine gewaltige machtpolitische Bedrohung für die Hegemonialinteressen der USA. Daher ist meines Wissens seit über 100 Jahren ein zentraler Eckpunkt angelsächsischer Außenpolitik, zwischen Russland und Deutschland einen Keil zu treiben, Misstrauen und Feindschaft zu erzeugen. Durch den Ukraine-Konflikt bietet sich den USA eine neue hervorragende Chance, die beiden Länder zu entzweien.

Chinas Interessen

Unter machtpolitischen Gesichtspunkten wäre für China ein großer Konflikt zwischen der NATO und Russland auf europäischem Territorium vorteilhaft. Als lachender Dritter könnte man die kriegführenden Parteien mit allen Arten von zivilem und gegebenenfalls auch mit Kriegsmaterial beliefern. Das Reich der Mitte hat daher großes Interesse daran, den Konflikt zu schüren und zum Krieg aufzurufen. Peking hat sich bislang eher auf die Seite Russlands gestellt[4], was eine mögliche Eskalation des Krieges umso wahrscheinlicher macht, da Moskau auf diese Weise nicht mit einem Zweifrontenkrieg rechnen muss.

Die Lösung des Schuldendilemmas?

Schon heute zeichnet sich ab, dass man durch den Ukraine-Konflikt sehr gut von eigenen Problemen ablenken und Putin leicht zum Sündenbock für viele Arten von ökonomischen Schwierigkeiten und Finanzproblemen in der Weltwirtschaft machen kann. Ihm wird schon heute die Schuld an einer kommenden Inflation oder Stagflation gegeben[5] - und nicht etwa dem Gelddrucken der Notenbanken oder den für die Finanzbranche lukrativen Schuldenexzessen der letzten Jahrzehnte oder den explosionsartig wachsenden Vermögen der Milliardäre zu Ungunsten der Einkommen des Rests der Bevölkerung.

In Kriegszeiten kann über Notstandsgesetze in die Märkte und in die Preise administrativ relativ einfach und ohne nennenswerte Widerstände der Bevölkerung eingegriffen werden, so dass beispielsweise tatsächlich vergleichsweise einfach über Inflationsprozesse ein Schuldenschnitt herbeigeführt werden könnte. Die Toleranz der Menschen gegenüber gravierenden Staatseingriffen, Inflation oder Vermögenseingriffen ist in Kriegszeiten und angesichts täglicher schauerlicher Kriegsbilder ungleich höher als in Friedenzeiten. Falls größere Teile der Produktionsanlagen in Mittel- und Osteuropa durch einen Krieg zerstört werden sollten, würde sogar das ursprünglich zu Grunde liegende Problem der Überkapazitäten gelöst – zu Gunsten der Länder, auf deren Territorien keine Kampfhandlungen stattfinden. Man kann danach am Wiederaufbau gleich mitverdienen.

Was kommt auf uns zu?

Bereits vor dem Ukraine-Konflikt gab es reichlich Grund zur Sorge um das Wohl und Wehe der Weltwirtschaft: Die hohen Schulden, die Geldblase, überbewertete Aktien- und Immobilienmärkte, starke Armut und Hunger in Entwicklungsländern usw. – was durch die Corona-Maßnahmen noch zusätzlich verschlimmert wurde.[6] Durch die Kriegshandlungen schnellen derzeit (Stand 4. März) die Energie- und Lebensmittelpreise sowie die Preise einiger Rohstoffe in die Höhe. Das dürfte für sehr viele Unternehmen, Länder und zahllose Menschen eine große, vielleicht nicht mehr tragbare Belastung darstellen. Die Börsen sind seit den Kampfhandlungen abgestürzt und schwanken dramatisch. Wenn der Konflikt weiter anhält, womit ich rechne, dürften die Weltkapitalmärkte vor großen Turbulenzen und schlimmstenfalls einem Crash stehen. Soziales Chaos wäre dann vorprogrammiert. Ich fürchte, die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm.

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Christian Kreiß

                                                                            ***

Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD), Gewerkschaftsmitglied bei ver.di. Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Homepage www.menschengerechtewirtschaft.de

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