Politik

Brennpunkt Europa: Moskau bereitet sich auf mögliche Blockade von Kaliningrad vor

Lesezeit: 6 min
11.03.2022 18:59  Aktualisiert: 11.03.2022 18:59
Der Krieg in der Ukraine könnte auch Auswirkungen auf andere europäische Regionen haben. Es gibt Hinweise darauf, dass sich Russland auf eine Blockade seiner Exklave Kaliningrad vorbereitet.
Brennpunkt Europa: Moskau bereitet sich auf mögliche Blockade von Kaliningrad vor
Die russische Exklave Kaliningrad. (Grafik: DWN/Google Maps/Cüneyt Yilmaz)

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Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sorgt sich Russland um die Aufrechterhaltung der Verkehrsverbindungen mit seiner nicht zusammenhängenden Exklave Kaliningrad. Diese Sorgen verstärkten sich, als Polen und Litauen der Nato und der EU beitraten.

Als im vergangenen Jahr russische Militärübungen stattfanden, unterstrich der Kreml seine Befürchtung, dass der Westen im Kriegsfall Kaliningrad blockieren und diesen strategisch wichtigen russischen Außenposten sogar vollständig einnehmen könnte. „Die russischen Behörden unternahmen eine Vielzahl von defensiven und offensiven Maßnahmen, um sicherzustellen, dass sie die Versorgung und Kontrolle einer Region aufrechterhalten, die historisch zu Deutschland gehörte, aber am Ende des Zweiten Weltkriegs von der Sowjetunion annektiert wurde“, so der Analyst Paul Goble in einem Beitrag des „Eurasia Daily Monitor“ (Band: 19 Ausgabe: 33).

Moskaus Besorgnis über diese Verbindungen hat in den vergangenen Tagen zugenommen, nachdem die EU ihren Luftraum für russische Flüge gesperrt hatte, berichtet „Moskau FM 92“.

Doch Moskau hat darauf bestanden, dass die Schließung des europäischen Luftraums keine Blockade darstellt, da Russland Kaliningrad weiterhin über den Schienenverkehr und mit LKW durch Litauen versorgen kann, wenn auch mit zunehmenden Verzögerungen. Aber auch auf dem Seeweg ist die Versorgung noch möglich.

Radio Free Europe/Radio Liberty“ führt dazu in einem Artikel mit dem Titel „,Ein wirtschaftliches Ziel‘: Russlands Exklave Kaliningrad sieht sich einem neuen Maß an Isolation gegenüber“ aus: „Flugzeuge von Kaliningrad nach Moskau fliegen seit dem 27. Februar über die Ostsee in die Region Leningrad, bevor sie scharf nach Süden abbiegen. Die neue Route hat die Flugzeit um etwa 40 Minuten verlängert, sodass die Reise zwei Stunden dauert.“

Moskau hat in den vergangenen Wochen die Lieferungen von Lebensmitteln sowie von Komponenten, die für den lokalen Industriesektor benötigt werden, über den Seeweg verstärkt. Dennoch ist die kommerzielle Produktion in Kaliningrad zurückgegangen, was darauf hindeutet, dass diese Lieferungen möglicherweise nicht ausreichen, berichtet „Kaliningrad Today“.

Russland ist offensichtlich auch besorgt über die Möglichkeit sozialer Unruhen in Kaliningrad. Dutzende Einwohner von Kaliningrad wurden festgenommen, weil sie gegen die russische Invasion der Ukraine demonstriert hatten, so „Kgd.ru“.

Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass sich Moskau auf noch schlimmere Entwicklungen vorbereitet, meint Goble. Russland verbessert sowohl seine Kapazität, die Exklave zu beliefern, als auch Litauen und Polen zu bestrafen, wenn sie den russischen Nachschub durch ihr Territorium verzögern sollten. In einem Artikel der Webseite „Vzglyad“ vom 8. März 2022 mit dem Titel „Kaliningrad bereitet sich auf eine Blockade vor“, führt die Journalistin Olga Samofalowa aus, dass „die Frage der Aufrechterhaltung der Verbindungen zwischen dem Gebiet Kaliningrad und dem Rest Russlands wichtiger denn je geworden ist“.

Russische Regierungsbeamte haben Litauen und Polen gewarnt, dass sie sich selbst mehr schaden werden als Kaliningrad, wenn sie den Transport zwischen Russland und seiner baltischen Exklave weiter verlangsamen oder sogar blockieren sollten. Sowohl Russland als auch China leiten den Verkehr bereits heute von den baltischen Häfen zum Nachteil der baltischen Volkswirtschaften um. Russland hat Signale ausgesandt, wonach es in der Lage ist, diesen Ländern zu schaden. Moskau könnte das bewerkstelligen, indem die Transportvorteile, die Polen und Litauen bisher genossen hatten, eingeschränkt werden. So könnte den beiden Ländern die Anmietung von Lagerhäusern und Bahnhöfen auf russischem Territorium verweigert werden, berichtet „Transport-Centre.ru“.

Hinter solch kleinen Schritten lauert die von westlichen Analysten seit langem erwogene Warnung, dass Moskau im Falle einer Blockade Kaliningrads versuchen könnte, den „Suwałki-Korridor“ zwischen Belarus und Kaliningrad einzunehmen.

Der „Suwałki-Korridor“

Die Region Kaliningrad ist etwa so groß wie Nordirland mit fast einer Million Einwohnern und vom Rest Russlands getrennt. In der Sowjetzeit war sie eine geschlossene Militärzone. Die russische Exklave befindet sich zwischen Polen und Litauen. Kaliningrad war Teil Deutschlands, bis es nach dem Zweiten Weltkrieg von Russland annektiert wurde.

Im Zusammenhang mit Kaliningrad spielt der Suwałki-Korridor eine sehr kritische Rolle. Er trennt das Territorium der russischen Exklave von Belarus und bildet das polnische Grenzgebiet zu Litauen. Die US-Denkfabrik „CEPA“ führt aus: „Der Suwałki-Korridor, ein 65 Kilometer breiter Landstreifen, der Polen mit Litauen verbindet, ist der anfälligste Engpasspunkt der Nato entlang seiner Ostflanke. Im Falle eines Konflikts zwischen Russland und der Nato könnte das russische Militär, das von der Exklave in Kaliningrad und von Belarus aus operiert, versuchen, den Suwałki-Korridor zu schließen und die Nato als Sicherheitsdienst für ihre drei baltischen Mitglieder außer Gefecht zu setzen (...) Die drei baltischen Länder - Litauen, Lettland und Estland - teilen eine 1.400 Kilometer lange Landgrenze zu Russland und Belarus, sind aber durch einen schmalen Landkorridor mit Polen auch mit dem Rest der Allianz verbunden. Dieser Landstreifen hat nur zwei Straßen und eine Eisenbahnlinie. Wenn russische Streitkräfte die Kontrolle über den Suwałki-Korridor erringen würden, würde das die baltischen Staaten vom Rest der Nato abschneiden und ihre Verstärkung auf dem Landweg in ein schwieriges Unterfangen verwandeln. Die Verteidigung von Suwałki ist daher wichtig für die Glaubwürdigkeit der Nato und für den Zusammenhalt des Westens.“

Da es keine Landbrücke zwischen Kaliningrad und dem russischen Verbündeten Belarus gibt, sprechen russische Geopolitiker oftmals von einer „unglücklichen“ Situation, da die Exklave über den Luft- oder Seeweg versorgt werden muss. Russland hat ein Interesse daran, eine Landbrücke zwischen Kaliningrad und Belarus zu schaffen, wodurch sich Polen und die baltischen Staaten bedroht fühlen. Dieser russische Ansatz ist nicht neu. Im Jahr 1996 kam es zu enormen Spannungen zwischen Polen und Russland, da Moskau die Errichtung eines Transportkorridors zwischen Kaliningrad und Belarus vorschlug. Warschau will die Schaffung einer Landbrücke zwischen Belarus und Kaliningrad verhindern, da dieser Vorstoß nicht nur zwangsläufig die Souveränität Polens einschränken, sondern auch Polens Landverbindung zum Baltikum kappen würde.

Radiodienst.pl“ wörtlich: „Die meisten Fachleute gehen davon aus, dass ein Krieg Russlands gegen die baltischen Staaten mit Provokationen seitens der russischen Minderheiten in Estland (30 Prozent der Bevölkerung) und Lettland (26 Prozent) beginnen würde. Ein Aufruhr in diesen Staaten könnte Moskau als Vorwand dienen, unmittelbar einzugreifen. Wahrscheinlich kämen am Anfang, als ortsansässige ,Partisanen’ getarnt, ,grüne Männchen’, kleine russische Spezialeinheiten ohne Abzeichen, zum Einsatz. Danach reguläre Truppen. Der Angriff auf Litauen, wo keine nennenswerte russische Minderheit lebt, könnte der schnellen Errichtung eines Landkorridors zwischen Weiβrussland und dem Kaliningrader Gebiet dienen. Generell würde Russland schnell vollendete Tatsachen schaffen wollen, und die Nato durch die Androhung eines Atomwaffeneinsatzes vom Handeln abzuhalten versuchen. Deswegen ist in den russischen Plänen ein völliges Abschneiden des Baltikums von der Auβenwelt vorgesehen: durch den ,Riegel’ zwischen Kaliningrad und Weiβrussland, die Seeblockade und die volle Kontrolle über den Luftraum, wozu sich die mobilen S-300 und S-400 Luftabwehrraketen sehr gut eignen.“

Die polnische Zeitung „Rzeczpospolita“ berichtet: „Dies ist keine imaginäre Bedrohung. Estland, Lettland und Litauen sind ständig dem russischem Informations-Einfluss ausgesetzt und werden zum Ziel von Propaganda-Operationen, die darauf abzielen, das Vertrauen in staatliche Institutionen und die Nato zu untergraben und Hass zwischen verschiedenen sozialen und nationalen Gruppen zu schüren.“

Die Fokussierung der Nato und der „US Army Europe“ auf das Baltikum hängt direkt mit dem Suwałki-Korridor zusammen. „Auf dem Suwałki-Korridor laufen die vielen Schwächen der Nato-Strategie (...) zusammen“, führt der ehemalige Oberbefehlshaber der US Army Europe, Ben Hodges, gemeinsam mit Janus Bugajski und Peter B. Doran in einem Bericht aus.

Die russische Onlinezeitung „Utro“ bestätigt, dass der Suwałki-Korridor einer der am stärksten gefährdeten Orte der Nato ist. „Daher ist der Westen sehr daran interessiert, dass die Polen so bald wie möglich sowjetische Ausrüstung und Waffen durch Ausrüstung und Waffen westlicher Hersteller ersetzen. Und Warschau erfüllt diese Wünsche (...) Die Nato betrachtet Polen zu Recht als das Hauptglied bei der Verteidigung Osteuropas, und Warschau versteht dies gut. Die Behörden des Landes haben bereits einer US-Militärbasis in Polen - für die sie selbst die Kosten sparen - zugestimmt und sich auch für F-35-Kampfjets entschieden“, so das Blatt. Ukro zufolge hätte die Nato schlechte Karten bei der Rückeroberung des Suwałki-Korridors und des Baltikums, falls Russland im Rahmen eines Szenarios eine erfolgreiche Offensive durchführen sollte. Polens Armee räumt das Blatt wenig Chancen ein, weshalb Utro Polen als „europäisches Selbstmordattentats-Land“ umschreibt.

Eine ähnliche Situation wie im Jahr 2014 auf der Krim muss nicht eintreten, zumal die USA und Russland kein Interesse an einer Eskalation haben. Doch die Spannungen um Kaliningrad herum werden fortbestehen.

Finanzspritzen für Kaliningrad

Kaliningrad hatte am 1. April 2016 den Status der Sonderwirtschaftszone (SEZ) verloren und gezeigt, dass es nicht in der Lage ist, die wachsenden wirtschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. Unterdessen zwangen Überschwemmungen und widrige Wetterbedingungen gegen Ende des Jahres 2017 die lokalen Behörden, den Kreml um zusätzliche finanzielle Unterstützung zu bitten.

Am 5. Dezember 2017 unterzeichnete Präsident Wladimir Putin ein Dekret, mit dem die SEZ Kaliningrad wieder eingesetzt wurde. Die anfänglichen Erwartungen, dass diese zwischen Polen und Litauen eingeklemmte russische baltisch-Küstenexklave bald zu einem Gebiet mit vorrangiger Entwicklung („Territoria Operezhayushego Razvitiya“) werden würde, wurden jedoch schnell zerstört, als die Einzelheiten der neuen Gesetzgebung veröffentlicht wurden. Anstatt neue Subventionen und einen privilegierten Status (einschließlich visumfreier Einreise für Ausländer) anzukündigen, verschlechterte das neue Gesetz die Bedingungen der Wirtschaft Kaliningrads.

Infolgedessen wird das SEZ-Regime in Kaliningrad anstelle von 2095 nur bis 2045 in Kraft bleiben, wodurch langfristige Investitionen für externe Investoren praktisch sinnlos werden. Zweitens führte das neue Gesetz eine Änderung ein, die die Zusammenarbeit zwischen lokalen Einzelhändlern und Produzenten landwirtschaftlicher Produkte und Waren erheblich erschwert. Dies hatte die Einheimischen angesichts der aktuellen Wirtschaftslage am meisten bestürzt. Die Preise für Grundnahrungsmittel waren in den folgenden Monaten um 18 bis 24 Prozent gestiegen, berichtet „New Kaliningrad“.

Doch sogenannte kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sind nicht die einzigen Verlierer des neuen Gesetzes. Auch große Unternehmen leiden darunter. „BaltAgroKorm“, ein Unternehmen der Agro-Industrie, das früher wie eine Erfolgsgeschichte für „ländlichen Wohlstand“ in Kaliningrad aussah, ist bankrott gegangen. Das Scheitern von „BaltAgroKorm“ zeigte auf, dass das lokale Wirtschaftsmodell weitgehend ineffizient ist, solange es keine weiteren Subventionen und Finanzspritzen aus Moskau erhält.

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Cüneyt Yilmaz ist Absolvent der oberfränkischen Universität Bayreuth. Er lebt und arbeitet in Berlin.


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