Nicht zuletzt die „inneren“ Probleme, die mit einer Abschaffung des Bargelds verbunden wären, sollten zu denken geben. Der Sozialpsychologe Harald Welzer bemerkt: „Konsumismus ist heute totalitär geworden und treibt die Selbstentmündigung dadurch voran, dass er die Verbraucher… zu ihren eigentlichen Produkten macht“ – indem er sie mit immer neuen Wünschen ausstattet[i]. Ausschließlich bargeldloses Zahlen könnte verstärkt dazu verführen, mehr ausgeben, als man besitzt, weil man die Differenz weniger vor Augen hat. Auf indirekten Konsumzwang durch leichter mögliche Geldentwertung zielen Politik und Wirtschaft durchaus ab. Aus alledem resultiert eine Verschiebung traditioneller Werte, was der allzu früh verstorbene Journalist Frank Schirrmacher hat kommen sehen: „Umgeben von einer Welt, in der Informationen nicht nur an Börsen, sondern am Arbeitsplatz, in der Kommunikation und sogar bei Freundschaften von logisch arbeitenden Rechenmaschinen organisiert werden, die nach den Gesetzen der persönlichen Profitmaximierung den menschlichen Charakter kalkulieren, verändern sich gesellschaftliche Wertvorstellungen in staunenswerter Geschwindigkeit.“[ii] Von daher ist wiederum das politische Streben nach der Digitalisierung des Bezahlens kein Wunder: Geht es schon beim Digitalisieren als solchem ums Zählen und Rechnen, so kann es gar nicht anders sein, als dass sich diese „stille Revolution“ zunehmend auch aufs Geld erstreckt.
Findet nicht die digitale Revolution sogar weithin um des Geldes willen statt? Und zwar nicht allein wegen der gesamtwirtschaftlichen Gewinnaussichten auf dem breiten Sektor der Digitalisierung, sondern immer mehr auch wegen algorithmisch betriebener Finanzspekulationen[iii]? „Das Monster Finanzkapitalismus“, bemerkt Alexander Cammann, „verhalf der digitalen Revolution zum Durchbruch – iPhone und Investmentbanking sind insofern zwei Seiten einer Medaille. Erst durch die Möglichkeit, kurzfristig immense Investitionen zu bewegen, waren die gigantischen technologischen Schübe möglich.“[iv] Namentlich der Hochfrequenzhandel mit seinem ultraschnellen Kaufen und Verkaufen von Aktienwerten enthumanisiert die Ökonomie vollends und verführt zu gewollter Unübersichtlichkeit[v]. Digitales Geldmachen – irrsinnig beschleunigt nach der Devise „Zeit ist Geld“ – erweckt nicht nur bei Markus Zydra grundsätzliche Skepsis: „Der Börsenhandel wird dominiert von Naturwissenschaftlern, die Handelssysteme entwerfen, denen es gar nicht darum geht, wie gut die betriebswirtschaftlichen Aussichten eines Konzerns sind oder was der Vorstandschef kann. Es geht darum, Preisbewegungen im Sekundentakt zu antizipieren. Es geht ums Zocken – nicht mehr um langfristiges Investieren.“[vi] Wie vernünftig ist das noch? Ist es noch Ausdruck des homo sapiens oder eher transhumanistischer Ambitionen?
Im Horizont der digitalen Transformation ist es mehr denn je so, dass alle Lebensbereiche „weitgehend unter dem Gesichtspunkt der Ökonomie betrachtet“ werden[vii]. Dabei ist klar, dass dieser Kurs von Regierenden unterstützt wird: „Die Wirtschaft will Geld verdienen und die Politik sich im Glanze des Erfolges eines Wirtschaftszweiges sonnen, so das Gentlemen Agreement.“[viii] Ökonomische „Sachzwänge“ legitimieren die entschlossene Digitalisierung ebenso wie die damit verbundene Erosion humanistischer Werte. Laut Gregor Taxacher „wird nun alles faktische ökonomische Geschehen gerechtfertigt durch seine unumstößliche innere Rationalität, selbst wenn die über Leichen geht.“[ix] Dabei gilt es mit dem Wirtschaftsexperten Tomás Sedlácek zu bedenken: „Ökonomie beruht nicht nur auf Mathematik und Analytik, sondern in hohem Grade auf Glaubensaussagen, Kultur und Normen.“[x] Die durchdigitalisierte Wirtschaft beruht auf dem digital neu angefeuerten Fortschrittsglauben[xi]. Mit Schirrmacher bleibt festzuhalten, dass im Kontext dieser technokratischen Ersatzreligion „jetzt das Immaterielle, die Seele selbst, zum Marktplatz werden sollte.“[xii] In diesem Sinn stellt die Digitalisierung des Bezahlens auch eine seelisch-geistige Herausforderung dar.
Der Begriff des „Geldes“[xiii] gehörte ursprünglich zur religiös-kultischen Sphäre: Er bezeichnete das, womit man Buße und Opfer erstatten beziehungsweise entrichten konnte. Erst ab dem 14. Jahrhundert nahm er seine aktuelle Bedeutung als „geprägtes Zahlungsmittel” an und stand fortan für ein Wertäquivalent. Geld kann tatsächlich in materieller oder immaterieller Form existieren. Als abstraktes Tauschmittel für Leistung
oder Güter erhöht es für seine Besitzer die Wahlmöglichkeiten. Fast könnte man formelhaft sagen: Geld ist Leben. Aber die bekannte Formel „Geld oder Leben“, die man bei Überfällen oft zu hören pflegt, bringt gerade kein Wertäquivalent zum Ausdruck, sondern macht drastisch deutlich: Das Leben ist mehr wert als aller Geldwert. Und dies gilt wiederum nicht bloß fürs biologische, vergängliche Leben, sondern erst recht im Hinblick auf das unvergängliche Leben der Seele (Mat 16,26)[xiv].
Daran zu denken kann hilfreich sein, um der digitalen Freiheits- und Fortschrittsfalle[xv] zu entkommen. Wer in ihr gefangen ist, bleibt ein Sklave des Geldes, des ökonomischen Sogs und seiner reduktionistischen Logik. Die Konturen einer postmodernen Ersatzreligion zeichnen sich gerade ab in Märkten, die um des Profits willen per digitaler Vernetzung eine „fast göttliche Allwissenheit“ (Frank Schirrmacher) erstreben[xvi]. Dank der digitalen Revolution breitet sich ein regelrechter „Überwachungskapitalismus“ aus[xvii]. Selbstverständlich setzt der auf die Abschaffung des Bargelds. Schirrmacher sprach vom „Informationskapitalismus unserer Tage“, der nicht nur Gedanken lesen, kontrollieren und verkaufen will: Er „stellt zusammenhängende Lebensläufe und Identitäten von einzelnen Menschen infrage, er hat die Realwirtschaft für seine Zwecke eingespannt und ist nun im Begriff, konstitutionelle und völkerrechtliche Ordnungen umzuschreiben. Denn nicht nur der Einzelne verliert seine Souveränität. Die in der gegenwärtigen Eurokrise amputierten Souveränitätsrechte europäischer Staaten und Parlamente sind keine Kunstfehler, sondern Teil seiner operativen Logik.“[xviii]
Insgesamt sind die Probleme der Bargeldabschaffung dermaßen komplex, dass derzeit noch alle im Bundestag vertretenen Parteien erklären, sie hätten nichts gegen das Bargeld. Doch die Anti-Bargeld-Allianz der G20 namens Global Partnership for Financial Inclusion arbeitet intensiv zusammen mit der Better Than Cash Alliance an der globalen Bargeldzurückdrängung – und sucht auch Einfluss auf die Regierungen zu nehmen. Wie bereits bemerkt, bietet die EU für dieses Bestreben einen guten Nährboden[xix]. Demgegenüber bleibt grundsätzlich das enorme Gewicht des Bargelds bestehen: „Alle unbaren Zahlungsmittel müssen sich an seinen Eigenschaften messen lassen. Kein anderes Zahlungsmittel als Bargeld erreicht ein vergleichbar hohes Inklusionsniveau, denn seine Handhabung ist recht einfach und unabhängig von technischen und motorischen Fähigkeiten, weshalb im Grunde jeder Mensch mit Scheinen und Münzen umgehen kann. Für die abstrakteren unbaren Zahlungsmittel gilt dies nicht in gleicher Weise. Zudem ist der Einsatz von Bargeld für Bürgerinnen und Bürger kostenlos und somit seine Existenz eine zentrale Voraussetzung für die Teilnahme finanzschwächerer Menschen am Zahlungsverkehr, wenn diese sich beispielsweise kein aktuelles Smartphone für das mobile Bezahlen und/oder kein Girokonto leisten können oder wollen.“[xx] Im stationären Handel lässt sich prinzipiell überall mit Barem bezahlen, was zur Komplexitätsreduktion beiträgt. Zudem können durch die Nutzung von Bargeld sowohl Negativzinsen als auch eine intensivierte Überwachung vermieden werden. Gründe genug, die Chancen einer Digitalisierung des Geldes nicht überzubewerten und der Versuchung energisch zu widerstehen, das Bargeld als analoge Bezahlalternative immer mehr einzuschränken und am Ende abzuschaffen!
[i] Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt a.M. 2013, 16.
[ii] Frank Schirrmacher: EGO. Das Spiel des Lebens, München 2013, 12.
[iii] Längst „dringt auch in das wirtschaftliche Leben diejenige Technik ein, welche an die Stelle der Ordnung die bloße Verrechnung setzt“ (Michael Kirn: Der Computer und das Menschenbild der Philosophie, Stuttgart 1985, 146).
[iv] Alexander Cammann: Und er triumphiert doch! in: DIE ZEIT Nr. 9/2013, 45.
[v] Vgl. Frank Matthias Drost: Mehr Transparenz, in: Handelsblatt Nr. 149 vom 3.8.2012, 12. Siehe auch Holger Strohm: Bankenmafia, Elbingen 2012.
[vi] Markus Zydra: Zocken in Millisekunden, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 183 vom 9.8.2012, 15.
[vii] Vgl. Wolfgang Koch/Jürgen Wegmann: Tugend lohnt sich, Frankfurt a.M. 2007, 10; Werner Thiede: Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen, München 20212, 57ff.
[viii] Markus Beckedahl/Falk Lüke: Die digitalisierte Gesellschaft. Netzpolitik, Bürgerrecht und die Machtfrage, München 2012, 207.
[ix] Gregor Taxacher: Apokalypse ist jetzt. Vom Schweigen der Theologie im Angesicht der Endzeit, Gütersloh 2012, 49.
[x] Tomás Sedlácek: Der Kapitalismus darf uns nicht beherrschen, in: idea Spektrum 46/2012, 20-22, 20.
[xi] Vgl. Werner Thiede: Problematischer Glaube an unendlichen Fortschritt, in: Deutsches Pfarrerblatt 9/2019, 507-515; Alexander Rüstow: Die Religion der Marktwirtschaft, Berlin 20094; Gertrud Höhler: Götzendämmerung. Die Geldreligion frisst ihre Kinder, München 2010.
[xii] Schirrmacher: EGO, a.a.O. 216.
[xiii] Hierzu sehr lesenswert der Aufsatz von Dieter Petschow: „fiat money“. Der Mythos vom Geld, in: Deutsches Pfarrerblatt 2/2010, 86f: Geld „ist soziale Energie, im konstruktiven wie kriminellen Sinne“ (87).
[xiv] Vgl. Werner Thiede: Unsterblichkeit der Seele? Interdisziplinäre Annäherungen an eine Menschheitsfrage, Berlin 20222.
[xv] Vgl. Werner Thiede: Die digitale Fortschrittsfalle, Bergkamen 20192; ders.: Die digitalisierte Freiheit. Morgenröte einer technokratischen Ersatzreligion; Berlin 20142.
[xvi] Pfarrer Walter Schmidt bemerkt: „Die Beschäftigung mit Geld ist wie kaum ein anderes wirtschaftliches Tun ideologisch und emotional vorbelastet“ (Götze Geld und Mythos Markt, in: Evangelische Aspekte 15 [2005], 36-39, hier 39).
[xvii] Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt a.M. 2018.
[xviii] Schirrmacher, a.a.O. 10 und 12.
[xix] „Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu EU-weiten Bargeldrestriktionen kommen wird, ist groß, weil sehr mächtige Lobbygruppen in Brüssel einen solchen Schritt fordern“ (Michael Brückner: Achtung! Bargeldverbot! Auf dem Weg zum gläsernen Kontosklaven, Rottenburg 2015, 200).
[xx] Zitatbeleg: Siehe Anm. 6.
LESEN SIE AUCH DEN ERSTEN TEIL DER GROSSEN BARGELD-ANALYSE VON WERNER THIEDE: