Seit die US-Technologiebörse NASDAQ im Jahre 1983 eine vollwertige elektronische Handelsmöglichkeit einführte, hat sich das computergestützte Trading nach und nach zur vorrangigen Handelsform entwickelt, zunächst im Aktienbereich, später über weitere Assetklassen hinweg. Wobei noch 20 Jahre später lediglich rund zehn Prozent des gesamten Ordervolumens auf die Kategorie „Hochfrequenzhandel“ entfielen - doch heute, da zwei weitere Jahrzehnte ins Land gegangen sind, ist die Algorithmus-gesteuerte, weitestgehend automatisierte Handelsform vollkommen dominant. Schon seit mehr als zehn Jahren gelingt es, Orders im Nanosekundenbereich vom Handelstisch an die Börse und zur Ausführung zu bringen (die entsprechende Technik vorausgesetzt). Eine Entwicklung, die auch am Rohstoffhandel nicht vorbeiging. Der Umstand, dass es dabei jedoch um physische Güter geht, die gefördert, geerntet, gelagert und bewegt werden wollen, spielt eine nicht unwesentliche Rolle dabei, dass - abgesehen von der weitgefassten Marktteilnehmergrupp der Spekulanten - der Handel in diesem Marktsegment auch heute noch zu einem Gutteil „traditionell“ stattfindet, das heißt per Telefon und an den Börsen vorbei.
Heikle Geschäfte
Weltweit existieren derzeit rund 100 Rohstoffbörsen, von denen aber nur etwa 20 tatsächlich von Bedeutung sind. Ursprünglich gedacht als Instrument, um Produzenten und Konsumenten eine größere Planungssicherheit zu geben, reicht ihre Bedeutung heute weit darüber hinaus. Akteure wie Fonds, Investmentbanken, Handelshäuser, Produzenten und Private nutzen sie heute ganz selbstverständlich, um von der Volatilität der Rohstoffmärkte zu profitieren, sei es durch Spekulation, zu Absicherungszwecken oder zur Optimierung ihres physischen Portfolios. Diese Akteure haben allerdings - anders als die Gruppe der sogenannten „Commercials“ (das heißt Produzenten und Verarbeiter) - allesamt keinerlei Interesse am unterliegenden physischen Gut, was jedoch kein Problem darstellt, im Gegenteil: die durch sie zusätzlich gespendete Liquidität bietet Vorteile für alle. Zwar lassen sich sämtliche bedeutende Rohstoffe über standardisierte Kontrakte an den Börsen kaufen und verkaufen, professionelle Trader sowie eben jene Gruppe der Commercials schließen ihre originären Geschäfte jedoch nur zu einem Teil an den Börsen ab. Die bis vor kurzem noch sehr beeindruckenden Bilder des Rohstoffpräsenzhandels an der amerikanischen Chicago Board of Trade (CBOT / älteste Terminbörse der Welt) wirkten selbstverständlich spektakulär, nicht minder beeindruckend stellen sich jedoch oft auch die außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung stattfindenden Deals dar, wenn man ihnen denn einmal gewahr wird. Bedenkt man den nicht selten heiklen Charakter dieser Geschäfte - das Thema „Sanktionen“ ist derzeit brandaktuell - wird auch klar, warum der ein oder andere Marktteilnehmer ungern im Rampenlicht einer transparenten Börse agiert. Fest steht: Rohstoffe finden immer ihren Weg vom Produzenten zum Verbraucher. Das war schon während des iranischen Ölembargos Anfang der 1980er Jahre der Fall und ist heute in Bezug auf Russland nicht anders.
Es geht um Billionen
Anders als bei Aktien und anderen Wertpapieren handelt es sich hier um die „reale Wirtschaft“, um physische Güter, und dabei lässt sich grundsätzlich nicht alles virtuell erledigen. Bei der Preisfindung, Finanzierung und Lieferung von Gold, Kupfer, Erdgas, Rohöl, Kohle und diversem anderen, was in diese Kategorie fällt, treten spezialisierte Rohstoffhandelsunternehmen auf den Plan, deren Namen Branchenfremden in der Regel vollkommen unbekannt sind, von denen jedoch die vier größten allein jährlich rund 700 Milliarden Dollar Gegenwert durch die Welt bewegen. Betrachtet man die gesamte Industrie inklusive der zur physischen Seite noch hinzukommenden Derivate, dann liegt dieser Wert leicht bei einigen Billionen Dollar. Gerade im Handel mit physischen Gütern ist der persönliche Kontakt zu Handelspartnern und Brokern besonders wichtig. Auch, weil Rohstofftrades selten so zu standardisieren sind, wie beispielsweise ein Aktienkauf und Abnehmer oftmals sehr individuelle Bedürfnisse haben, die sich mit einem vereinheitlichten Börsenfuture überhaupt nicht abbilden lassen.
Denken Sie beispielsweise nur einmal an Rohöl: wenn über das Thema Erdöl gesprochen wird, sind in aller Regel die Sorten Brent oder WTI gemeint. Dabei handelt es sich lediglich um zwei Beispiele für Blends, also Mischungen verschiedener Ölsorten. Ihre Preise bezeichnet man als Referenzölpreise, an denen sich Marktteilnehmer besonders gut orientieren können, die als Basis zur Preisfindung für andere Sorten diesen und die an den internationalen Futuresbörsen sehr liquide handelbar sind. Dabei besteht Brent aus einer Mischung der Nordseeölsorten Brent, Forties, Osberg und Ekofisk. WTI (West Texas Intermediate) beinhaltet Erdöl, welches aus Texas, Louisiana und North Dakota stammt. Und wie bei Naturprodukten üblich, ist auch Erdöl sehr viel vielfältiger - allein im US-Bundesstaat Texas unterscheidet man 36 Sorten nach Dichte und Schwefelgehalt. Die Preisspanne reicht aktuell von 94 Dollar pro Barrel (Sorte „Upper Texas Gulf Coast“) bis 108 Dollar pro Barrel (Sorte „West Central Texas“). Zum Vergleich: der gemischte Benchmark WTI handelt zur gleichen Zeit bei knapp 107 Dollar. Betrachtet man die gesamten USA, kommt man schon auf gut 140 Ölsorten, die sich auch preislich enorm unterscheiden. Die Vielzahl der weltweiten Förderstellen bringen nahezu unzählige Qualitäten zu Tage, mit ebenso großer Preisvielfalt. Klar, dass zwei Futures hier nicht weiterhelfen.
Keine Regeln
Besonders während Perioden kräftiger Preisbewegungen wird immer wieder der Ruf nach mehr Regulierung laut, auch, um den Einfluss der reinen Finanzakteure einzuschränken. Insbesondere Agrar– und Energiemärkte, als gesellschaftlich wie politisch besonders bedeutsam, stehen hier regelmäßig im Fokus. Dabei geht es nicht nur um die Vermeidung und Ahndung möglicher Marktmanipulationen und anderer Regelverstöße einzelner Akteure, sondern auch um die Prävention gesamtwirtschaftlicher Risiken. Bedenken Sie, dass Rohstoffdeals weitestgehend kreditfinanziert sind. Wankt ein nur mittelgroßes Handelshaus, stehen die Chancen gut, dass auch die Bank dahinter in schweres Fahrwasser gerät. Der ein oder andere wird sich noch an eine bis zuletzt gut beleumundete Institution Namens „Lehman“ erinnern, ihr wurden platzende Kredite zum Verhängnis. Das so eine Vorstellung keinesfalls nur bloße Theorie ist, zeigen die Verwerfungen des Nickel-Marktes der Londoner Metallbörse (LME) von Anfang März dieses Jahres. „Chaos“ ist fast ein beschönigender Ausdruck für die Vorgänge um den 8. März herum, und der ein oder andere, den sogenannten „gut unterrichteten Kreisen“ angehörige, weiß von einer wohlbekannten und ähnlich honorigen Investmentbank ohne erkennbare Rohstoff-Aktivitäten zu berichten, die ohne das sehr unkonventionelle Vorgehen der LME (auch leicht beschönigend formuliert) mit hoher Wahrscheinlichkeit den Lehman-Weg beschritten hätte. Dabei ist es für Börsen und deren Abwicklungsstellen relativ leicht, Kontroll- und Steuerungsmechanismen einzurichten, im physischen, außerbörslichen Handel gestaltet sich dies jedoch ungleich schwieriger. Ergänzend kommt hinzu, dass Rohstoffunternehmen auf Grund der globalen Ressourcenverteilung nicht selten in Gebieten operieren, die lupenreine Geschäfte eher zur Ausnahme werden lassen. Politisch unsichere Jurisdiktionen, korrupte Behörden, politische Umstürze, gelegentliche Enteignungen dort operierender Unternehmen, und so weiter: Das ist die Welt der Rohstoffhandelshäuser.
LESEN SIE NÄCHSTEN MITTWOCH:
Erfahren Sie in der kommenden Woche mehr über die „grauen Eminenzen“ des Rohstoffhandels. Über die großen Akteure im Hintergrund, die von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt (und ungestört) das Räderwerk der globalen Wirtschaft schmieren und die Getreidesäcke der Welt füllen - aber auch ihre eigenen Taschen.