Politik

Schulterschluss mit Russland? Türkei wendet sich immer stärker vom Westen ab

DWN-Experte Moritz Enders analysiert, mit welchen geopolitischen Risiken die Türkei konfrontiert ist - und welche Chancen sich ihr bieten.
16.06.2022 14:47
Lesezeit: 2 min

Durch den Ukraine-Konflikt ergeben sich für die Türkei sowohl Chancen als auch Risiken. Vor allem ihre Beziehungen zu Russland dürften in den nächsten Jahren noch komplexer werden, als sie es ohnehin schon sind. Eine Analyse.

Wie werden wir in einigen Jahren auf den Ukraine-Konflikt zurückblicken? Möglicherweise als ein Ereignis, das den Übergang von einer uni- zu einer multipolaren Weltordnung entscheidend beschleunigt hat. Damit ist gemeint, dass die USA nicht mehr die alleinige Weltmacht sein werden. Länder wie China, Indien und – sollte es den Krieg in der Ukraine gewinnen - auch Russland werden sich dem amerikanischen Willen dann nicht mehr beugen, die Welt wird in ein westliches und ein östliches Lager gespalten sein. In diesem Zusammenhang werden Organisationen wie die „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (SCO) an Bedeutung gewinnen. Für die Türkei bedeutet das einen schwierigen Spagat zwischen West und Ost, die immer weiter auseinanderdriften.

Die Türkei und Russland sind im Schwarzen Meer natürliche Rivalen. Und auch in Syrien prallen ihre Interessen aufeinander. In den aktuellen Konflikten in der Ukraine- und in Syrien geht es aus einer größeren geopolitischen Perspektive darüber hinaus auch um die Frage, ob Russland geschwächt werden wird oder ob es sich als eine vom Westen unabhängige Macht behaupten kann. Die Beantwortung dieser Frage dürfte auch für die Türkei von entscheidender Bedeutung sein. Gelingt es Russland, die Sanktionen des Westens zu überstehen und einen NATO-Beitritt der Ukraine zu verhindern, wird sich Ankara mit Moskau arrangieren müssen. Erweist sich der Wirtschaftskrieg des Westens zudem als Bumerang - das heißt, trifft er die energie- und rohstoffabhängigen Volkswirtschaften der EU härter als Russland selbst -, und beschleunigt sich der Prozess der De-Dollarisierung der Weltwirtschaft, dann dürften sich die Möglichkeiten des Westens, die Geschicke der Welt zu bestimmen, weiter reduzieren. Schon heute hat sich der gesamte globale Süden, was die Russland-Sanktionen anbelangt, den USA nicht angeschlossen.

Das dürfte auch in der Türkei bemerkt worden sein. Jahrzehnte lang hat sich das Land um einen Beitritt zur EU bemüht. Deren Zukunft erscheint allerdings angesichts von Energieknappheit, einer sich abzeichnenden schweren Wirtschaftskrise und sich - seit dem Brexit - verschiebender geopolitischer Koordinaten auf dem Kontinent inzwischen ungewiss. Langfristig dürften daher die wachstumsstarken Länder Asiens für die Türkei mehr Möglichkeiten bieten. Und auch Russland könnte sich für die türkische Exportindustrie als interessanter Markt erweisen, sollten sich westeuropäische Konkurrenten aus dem Riesenreich sanktionsbedingt zurückziehen.

In Syrien hingegen stehen sich die Interessen der Türkei und Russlands diametral gegenüber. Die Lage verkompliziert sich zusätzlich, weil neben der Türkei die USA, Großbritannien und Frankreich dort nach wie vor einen Regimewechsel anstreben, während Russland Präsident Assad an der Macht halten und die Einheit des Landes bewahren will. Allerdings verfolgen auch die Türkei und die USA in Syrien unterschiedliche Ziele. So könnte Erdogan versucht sein, sich im Schatten des Ukraine-Krieges Teile des von Kurden bewohnten syrischen Territoriums einzuverleiben – und würde damit nicht nur Russland, sondern auch die USA verärgern.

Wechselnde Allianzen, auch unter Beteiligung verschiedener arabischer Staaten und des Iran, erscheinen in Syrien wie ein zunehmend undurchsichtiges Geflecht. Reduziert man das Geschehen dort allerdings auf eine Auseinandersetzung zwischen größeren Machtblöcken und lässt die rein regional bedingten Aspekte des Konfliktes beiseite, ergibt sich folgendes Bild: Die USA wollen Russland über die Stellvertreter-Kriege in Syrien und der Ukraine schwächen, um das Riesenreich als geostrategischen Rivalen aus dem Weg zu räumen und nach einem möglichen Regime-Wechsel Zugriff auf die russischen Rohstoffreserven zu erhalten. Der Syrien- und der Ukraine-Konflikt hängen also insofern zusammen, als dass sie beide nach amerikanischer Vorstellung russische Ressourcen binden und die russische Macht überdehnen sollen. Daran aber kann die Türkei kein ernsthaftes Interesse haben. Denn das Land dürfte vor dem Hintergrund der zwar langsam, doch stetig schwindenden Macht der USA im Nahen Osten und eines sich beschleunigenden wirtschaftlichen Verfalls der EU, der von der Energiekrise (mit)ausgelöst wird, seine Zukunft eher im östlichen, im asiatischen Lager sehen. Dort aber spielt Russland eine bedeutende Rolle. Die Umrisse neuer Allianzen auf dem Globus beginnen sich, wenn im Falle der Türkei auch zunächst nur in zarten Linien, abzuzeichnen. Gleichwohl dürfte es auf dem Weg dahin noch einige Reibereien zwischen Ankara und Moskau geben.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Machtspiele um die Raumfahrt: Wie Trump und Musk staatliche Aufträge steuern
06.04.2025

Elon Musk, CEO von SpaceX, hat als „Sonderberater“ im Bereich der Effizienzsteigerung der US-Regierung (Department of Government...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Europas Albtraum ist wahr geworden: Welche Branchen unter den neuen Handelsbarrieren leiden
06.04.2025

Die neuen Zölle von US-Präsident Trump setzen ganze Branchen unter Druck – die Auswirkungen sind spürbar. Ein Überblick über die...

DWN
Finanzen
Finanzen Nach Kupferpreis-Rekordhoch: Wie US-Zölle den Kupfermarkt beeinflussen - und was das für Anleger bedeutet
06.04.2025

Inmitten eines von Unsicherheit geprägten globalen Marktes, in dem geopolitische Spannungen und Handelskriege den Ton angeben, zeigt sich...

DWN
Technologie
Technologie Lithium-Boom in Sachsen: entdecktes Vorkommen reicht für 800.000 E-Autos
06.04.2025

Nicht nur Milliarden-Investitionen und Hunderte neue Jobs: Fällt der Goldrausch im Erzgebirge noch größer aus als gedacht? In Zinnwald...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Autozulieferer Webasto baut 650 Stellen in Deutschland ab
06.04.2025

Der angeschlagene Autozulieferer Webasto will im Zuge seiner Sanierung rund 650 Stellen in Deutschland abbauen. Der Stellenabbau soll schon...

DWN
Politik
Politik AfD löst die FDP im Bundestag ab: AfD hat die meisten Unternehmer in ihrer Fraktion
06.04.2025

Wirtschaftskompetenz in der Politik? Fehlanzeige: Immer weniger Unternehmer im Bundestag vertreten: nur noch 37 Abgeordnete mit...

DWN
Immobilien
Immobilien Drastischer Mietkostenanstieg voraus: Der Gebäude-TÜV soll kommen
06.04.2025

Das Deutsche Institut für Normung (DIN) hat Mitte Februar 2025 einen Entwurf mit Vorgaben für „Verfahren zur Überprüfung der...

DWN
Politik
Politik Russischer Angriff auf Nato-Staaten? Deutsche Sicherheitsexperten warnen vor Panikmache
05.04.2025

Ukraine-Krieg: Zahlreiche Sicherheitsexperten kritisieren Alarmismus wegen eines potenziellen russischen Angriffs. Ihre Kritik: Diplomatie...