Der Euro befindet sich seit Monaten im freien Fall. Das lockt Spekulanten an, die nun auf weiter fallende Eurokurse wetten. Zuletzt erreichte das Umtauschverhältnis Euro-Dollar sogar Parität – das hatte es zuletzt vor mehr als zwanzig Jahren, in den Anfangsjahren der europäische Einheitswährung, gegeben. Im Tagesverlauf wurde die Parität sogar zwischenzeitlich mehrfach unterschritten, man bekam also am Devisenmarkt pro Euro weniger als einen Dollar. Heute kaum vorstellbar, aber vor etwas über einem Jahr bekam man noch 1,20 Dollar je Euro.
Finanzexperten sehen düstere Zeiten auf den Euroraum zukommen. In einer aktuellen Umfrage gaben nur 16% der 793 befragten Wall Street Investoren an, dass Europa in den nächsten Monaten wahrscheinlich einem wirtschaftlichen Abschwung entgehen wird, wie Yahoo Finance via Bloomberg berichtet. 69 % der Experten wetten derweil darauf, dass die Gemeinschaftswährung eher auf 0,9 Dollar abrutschen als sich wieder auf 1,1 Dollar erholen wird. Das ist auch die Basisannahme von vielen Währungs-Strategen - etwa bei Citigroup, UBS und BCA Research. Am Markt für Währungs-Futures sind Hedgefonds und andere Marktteilnehmer zum ersten Mal seit Jahresbeginn netto auf fallende Euro-Kurse positioniert.
Etwa 21% der befragten Investoren sind der Meinung, dass der Spread (Zinsdifferenz) zwischen 10-jährigen italienischen und deutschen Anleihen eigentlich auf mehr als 500 Basispunkte ansteigen müsste - den höchsten Stand seit der europäischen Schuldenkrise 2012. Insgesamt rechnen 41 % der Befragten mit einer Schuldenkrise innerhalb der nächsten sechs Monaten – das ist erheblich, bedeutet aber auch, dass die Mehrheit der Analysten zumindest so kurzfristig keine neue Eurokrise kommen sieht.
Die Zentralbank sah sich letzten Monat gezwungen, einen neuen Rettungsanker zu versprechen, nachdem die Rendite für 10-jährige italienische Anleihen auf über 4 % gestiegen war. Mit der zerrütteten Regierungskoalition von Premierminister Mario Draghi wird die Herausforderung für die EZB noch schwieriger. Die Präsidentin der EZB, Christine Lagarde, hat angedeutet, dass das neu geschaffenen Finanz-Instrument zum Einsatz kommen würde, wenn die Kreditkosten für schwächere Länder zu weit oder zu schnell ansteigen. Fast die Hälfte der befragten Investoren geht davon aus, dass die EZB mit Anleihekäufen eingreifen wird, sobald der Renditeaufschlag Italiens gegenüber Deutschland 450 Basispunkte oder mehr erreicht.
In Wirklichkeit könnte das Kriseninstrument auch als ein Art Bluff gedacht sein. Die EZB sendet damit ein Signal an den Markt, dass sie alles tun wird, um die Einheitswährung zu stützen – um dann letztlich gar keine Anleihen kaufen zu müssen, weil der Markt einen Eingriff der Zentralbank bereits eingepreist hat. Auf diese Weise würden die Währungshüter mehr oder weniger passiv einem Zerfall der Eurozone vorbeugen.
Indes kommen die Warnungen aus Investorenkreisen für die EZB zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt. Es sieht so aus, als würde sie diese Woche endlich die Zinsen anheben - und das in einer Zeit, in der die Energiekrise zu eskalieren droht und die Inflation bereits Rekordwerte erreicht hat.
Unterschiedliche Geldpolitik im Euro- und Dollarraum
Wechselkurse werden von Makro-Faktoren dominiert. Für den Wechselkurs Euro-Dollar ist ein solcher entscheidender Faktor das Verhältnis der Zinsen im Dollar- und Euroraum. Der Markt antizipiert zögerliche oder ausbleibende Zinserhöhungen der EZB – der kommende erste Zinsschritt soll auch nur 0,25 Prozent betragen. Im Vergleich dazu die Federal Reserve (Fed) in den USA, die bereits eine erste Zinserhöhung von 75 Basispunkten durchgeführt hat und nach Expertenkonsens die Zinsen bald nochmal um 75 Basispunkte erhöhen wird.
Deshalb ist es derzeit viel attraktiver Geld in Dollar als in Euro zu halten. 10-jährige US-Staatsanleihen bringen aktuell eine Rendite von 3 Prozent, deutsche Schuldtitel mit gleicher Restlaufzeit nur eine Rendite von 1,2 Prozent.
Der Markt preist zudem das Bestreben der EZB ein, die Spreads zwischen Staatsanleihen der stabilen Länder und der immer wieder unter Druck stehenden Schuldpapieren der Südländer, allen voran Italien, auf einem niedrigen Level zu halten. Um das zu erreichen, kann die EZB mit dem Leitzins kaum über zwei bis drei Prozent gehen – andernfalls wird der Staatshaushalt der instabilen Südländer zu stark belastet. Zugleich wird die europäische Zentralbank weiter Staatsanleihen von Italien und Co. aufkaufen, sodass trotz allgemein restriktiverer Geldpolitik immer noch mehr Euro in Umlauf gelangen und auf den Wechselkurs drücken. In den USA geht dagegen die Geldmenge schon heute leicht zurück, die Fed meint es wirklich ernst mit der Straffung.
Das ist aber nicht alles. Pessimistisch betrachtet reflektiert der kollabierende Euro die Markterwartungen einer heftigen Rezession inklusive wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands und Europas, nicht zuletzt durch die aktuelle Energiekrise (was nicht bedeutet, dass in den USA keine Rezession drohen würde, wie Sie in dieser Analyse nachlesen können). Die deutsche Handelsbilanz ist im Mai erstmals seit 2008 negativ gewesen. Der oben erwähnten Umfrage ist auch zu entnehmen, dass das Vertrauen der Investoren in die deutsche Wirtschaft auf den niedrigsten Stand seit 2011 gesunken ist.
"Die Frage ist nicht so sehr, ob es zu einer Rezession kommen wird, sondern wie stark sie ausfallen wird", wird Antoine Bouvet, Kapitalmarkt-Analyst bei der ING-Bank, von der Financial Times zitiert.
Euro massiv unterbewertet?
Der Trendverlauf im Euro-Dollar-Chart der letzten 20 Jahre stimmt nicht gerade positiv für die Zukunftsaussichten der krisengebeutelten europäischen Gemeinschaftswährung. Man muss es aber nicht ganz so negativ sehen. Wie alle Bewertungen an den Finanzmärkten überschießen auch Wechselkurse konstant in die eine oder andere Richtung. Daraus ergeben sich Über- und Unterbewertungen. In diesem Fall könnte man unterstellen, dass der Euro irrational stark abverkauft wurde und demnach vor einer Stabilisierung stehen müsste.
OECD-Daten zeigen, dass der Eurokurs nach Kaufkraftparität 0,3 Dollar höher notieren müsste. Kaufkraftparität ist der hypothetische Wechselkurs, der sich ergeben würde, wenn identische Güter in zwei Währungsräumen umgerechnet exakt gleich viel kosten. Weil die Inflation in den USA und Europa ähnlich hoch ist, ist der Euro laut dieser Metrik viel zu stark abgestraft worden.
Schwächere Zinserhöhungen als im Dollarraum und die Folgen eines möglichen Gasstopps aus Russland sind weitestgehend schon im Wechselkurs eingepreist. Der Euro ist aktuell stark „überverkauft“, wie man in Finanzkreisen sagen würde. Ein Absinken des Euro auf 0,9 Dollar würde außerdem ziemlich robuste Bandbreiten im Währungs-Chart verletzen. Eine erste Zinserhöhung der EZB müsste den Euro vorerst stabilisieren. Alleine die Erwartung dieser Zinsentscheidung hat dem Kurs in den letzten Tagen etwas Auftrieb gegeben.
Zudem ist weniger eine allgemeine Euro-Schwäche, sondern vielmehr auch eine Dollar-Stärke, die aktuell zum Ausdruck kommt. Der Dollar-Index (Wechselkurs des Dollars gegenüber einen repräsentativen Währungskorb) hatte zuletzt ein 20-Jahreshoch erreicht. Gegenüber dem zuletzt ebenfalls schwächelnden britischen Pfund hat der Euro zum Beispiel nicht abgewertet. Umso mehr dafür gegenüber dem Schweizer Franken, der aber seit jeher in Krisenzeiten als sicherer Hafen gilt – was man vom Euro absolut nicht behaupten kann.
Es wäre aktuell verfrüht, den Euro zur Weichwährung zu erklären. Aber Vorsicht: Wenn die EZB eine allzu lockere Zinswende verfolgen und zugleich die Notenpresse wie in besten Coronazeiten laufen lässt, dann ist ein solches Szenario durchaus möglich. Zumal es zeitgleich zu einer schweren Energiekrise und damit Rezession kommen könnte - bei einer Inflation, die dann sehr wahrscheinlich völlig außer Kontrolle geraten dürfte. Die mit der Euroschwäche importierte Inflation wird schon jetzt zum Problem für Europa.