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„Neuer Feudalismus der Tech-Eliten bedroht den Mittelstand“

Lesezeit: 5 min
06.08.2022 11:26  Aktualisiert: 06.08.2022 11:26
Der Mittelstand ist in Gefahr: Stadtforscher und Bestseller-Autor Joel Kotkin erklärt im DWN-Interview, wie ein neuer Feudalismus quasi mittelalterliche Zustände erschafft und wie Eliten zusätzlich die Mittelschicht bedrohen. 
„Neuer Feudalismus der Tech-Eliten bedroht den Mittelstand“
Während es einer kleine Elite gut geht, kämpft der Mittelstand darum, nicht abzusteigen. (Foto: iStock.com/Mindaugas Dulinskas
Foto: Mindaugas Dulinskas

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Kotkin, in Ihrem 2020 veröffentlichten Buch „The Coming of Neo-Feudalism“ warnen Sie vor der Herrschaft oligarchischer Tech-Lehnsherren, die eine neue Art von mittelalterlichem Feudalismus bedeute. Dennoch leben wir ja nach wie vor in einem kapitalistischen System, das die einen eher von staatlichem Interventionismus, die anderen eher von Neoliberalismus geplagt sehen. Ist der Neo-Feudalismus, von dem Sie sprechen, also eine Metapher oder ein tatsächliches Wirtschaftssystem?

Joel Kotkin: Bei dem Begriff handelt es sich nicht unbedingt um einen Feudalismus, wie wir ihn aus der Vergangenheit kennen. Wissen Sie, ich finde es wirklich interessant, dass die Europäer viel eher verstehen, was Feudalismus ist, als viele Amerikaner, weil es in den Vereinigten Staaten, abgesehen von den Südstaaten vor dem Bürgerkrieg, keinen Feudalismus gab. Wir reden hier aber vielmehr über ein System der Hierarchie, eine Periode, in der das Wirtschaftswachstum stagniert, während die Geburtenraten stark zurückgehen – und alles zunehmend zentralisierter Kontrolle obliegt.

Und wenn ich diesbezüglich zum Beispiel vergleiche, was in China passiert und was in den Vereinigten Staaten passiert, dann ist der große Unterschied: In China führt der Staat die Überwachungskultur an, während es in den Vereinigten Staaten die Technologie-Unternehmen sind, welche die Überwachungskultur anführen. Obwohl auch dort die Regierung möchte, dass letztere mit ihr zusammenarbeiten (lacht). Jedenfalls geht es hier um ein System der Hierarchie, in dem die Aufwärtsmobilität, dieser enorme Fortschritt, den wir rund um die Welt gemacht haben, ausklingt.

In Ostasien und Europa, in den Vereinigten Staaten und Kanada konnten sich Millionen von Menschen, die vor dem Zweiten Weltkrieg sehr bescheiden gelebt hatten, danach eine eigene Wohnung kaufen, ein eigenes Auto anschaffen und ihre Kinder aufs College schicken. Diese ganze Gestalt, wenn man so will, ist zu einem Ende gekommen. Jetzt steckt die Arbeiterklasse in ihrer Schicht fest, während der Mittelstand nur noch darum kämpft, nicht abzusteigen – umso mehr in Anbetracht der Energiekrise, die in Deutschland derzeit sicherlich besonders schlimm ist.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was bedeutet das genau für die Mittelschicht? Denn hier in Deutschland wird die Mittelschicht traditionell als das Rückgrat unserer Wirtschaft angesehen. Und Ökonomen schlagen seit Jahren Alarm, dass die Mittelschicht nach und nach wegbröckelt. Inwiefern beschleunigt die neue Feudalherrschaft der Tech-Eliten diesen Prozess?

Joel Kotkin: Ein Teil davon ist, dass es die Aufstiegschancen der Mittelschicht untergräbt, wenn man sehr hohe Kapitalerträge – insbesondere bei großem Kapital – hat, während sich die großen Industrien konsolidieren. Wissen Sie, im Silicon Valley der Achtzigerjahre gab es so viele neue Unternehmen, so viel Wettbewerb und eine Menge Chancen – sogar am unteren Ende der Produktionskette, wie zum Beispiel die Herstellung von Leiterplatten.

Es waren sehr oft Einwanderer, die diese Unternehmen gründeten. Das ist heute nicht mehr der Fall. Heute gibt es fünf oder sechs Unternehmen, die den Markt vollständig und total dominieren, während junge Unternehmen mit der Hoffnung auf eine Übernahme starten. Es fehlt also an diesem Aufschwung. Ich denke, dass dies vor allem in Deutschland eine große Rolle spielen wird. Und ich stimme Ihnen zu, die Mittelschicht ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft und der deutschen Demokratie.

Ich meine, es war – jedenfalls nach meiner Lesart der Geschichte – der Niedergang des deutschen Mittelstandes, der zur Entstehung des dritten Reichs führte. Hätte sich die Mittelschicht wohl gefühlt, hätte sie niemals so einen Verrückten gewählt. Die Quintessenz ist, dass die Möglichkeiten für unternehmerische Aktivitäten viel geringer werden, während wir eine enorme Konsolidierung von Immobilienbesitz durch das Kapital beobachten. Zum Beispiel haben wir hier in den Vereinigten Staaten Investmentbanken, die Einfamilienhäuser aufkaufen und sie vermieten.

Dabei sollen die Menschen doch eigentlich ihre eigenen Häuser kaufen und sich ihren Nachbarn nachhaltig verbunden fühlen. Deswegen betone ich gegenüber meinen konservativen Freunden immer: Je mehr man es dem großen Kapital erlaubt, es dem kleinen Kapital schwer zu machen, es zu zerquetschen, desto schlechter ist es um die Unterstützung des freien Marktes bestellt. Wenn ich mir zum Beispiel die jungen Leute hier in Kalifornien anschaue, sind ihre Chancen, ein Haus zu besitzen, wenn sie nicht gerade reiche Eltern haben, in der gegenwärtigen Situation wirklich minimal. Diese Leute werden wahrscheinlich dauerhaft zur Miete wohnen und nie Kinder haben.

Warum sollten sie nicht eine sozialistische Partei wählen, die Subventionen und niedrigere Mieten verspricht. Und wenn man diese Mittelschicht nicht hat, dann fehlt auch die Innovation. Ein Beispiel sind E-Autos und die dazugehörigen Komponenten, die überwiegend im Ausland, insbesondere in China, produziert werden und noch längst nicht in selbem Umfange Arbeitsplätze schaffen können wie die traditionell starke deutsche Autoindustrie. Hinzu kommt, dass die hohen Energiepreise und die Inflation dem Mittelstand und den Kleinunternehmern wehtun, weil diese sich höhere Mieten und Energiepreise oft nicht leisten können und zuvor bereits durch die Pandemie unter Druck gesetzt wurden.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ja, über die Pandemie sollten wir auch sprechen. Denn während viele kleine Unternehmen infolge der Lockdowns schließen musste, konnten die Tech-Giganten ihre Monopolstellung festigen. Haben wir mit der Pandemie und den dagegen ergriffenen Maßnahmen gewissermaßen einen Schlüsselmoment des Übergangs hin zum Tech-Feudalismus erlebt?

Joel Kotkin: Nun, die Pandemie hat ihn sicherlich beschleunigt. Ich meine, erstens sind Seuchen und Pandemien natürlich sowieso immer Teil des großen Ganzen gewesen – egal ob in der Spätantike, dem Mittelalter oder heute. Die Corona-Pandemie hat aber vor allem vielen Kleinunternehmern geschadet. Ich habe gerade eine Umfrage gesehen, wonach die Hälfte aller kleinen Unternehmen in den Vereinigten Staaten ihre Miete nicht mehr bezahlen kann. Das heißt, es gibt diesen Druck des Kapitals auf höhere Mietrenditen, insbesondere von Seiten der Unternehmen. Dahingegen ist der einzelne Familienbesitzer eher mitfühlend und sagt vielleicht noch: Hey, ich verstehe, dass die Dinge gerade schwierig sind.

Aber die Leute an der Wall Street sind Algorithmen, die sind im Grunde keine Menschen. Es geht ihnen nur darum, Renditen zu maximieren. Ich verstehe das. Aber unter diesen Umständen wird das zum Problem. Ein Beispiel: Während der Pandemie wurde ein Schuhgeschäft im Osten von L.A. geschlossen, das von einem zugewanderten Unternehmer geführt wurde. Aber Target war offen und Walmart war auch offen. Jemand, der seine Schuhe sonst vielleicht in der Cesar Chavez Avenue bei dem lokalen Händler gekauft hätte, konnte nicht mehr zu dem lokalen Händler gehen. Also ging er zu Target. Offensichtlich wurden im Zuge der Pandemie viele Aufgaben, die früher von kleinen Unternehmen übernommen wurden, automatisiert und kleine Unternehmen haben es darum nun umso schwerer.

Und neben dieser schwierigen wirtschaftlichen Entwicklung sinken auch die Geburtenraten und die Aufstiegsmöglichkeiten werden weniger. Die Leute werden entmutigt. Die Realität ist, dass wir heute in einem Zeitalter der Entmutigung leben. Die Menschen sehen für sich selbst keine Möglichkeit, aufzusteigen. Und wissen Sie, was sie dann tun? Die Reaktionen sind unterschiedlich. Einige Leute, vor allem an den Extremen, gehen in politischem Aktivismus auf, aber ich denke, die meisten Leute sagen einfach: Okay, dann bleibe ich eben in meiner Wohnung und lebe mein Leben. Sie rauchen ihr Gras, gießen ihre Pflanzen, spielen ihre Videospiele und trinken eine Menge Schnaps (lacht).

So führen sie aber letztlich in ihren Dreißigern und Vierzigern einen Lebensstil, aus dem man in seinen Zwanzigern hätte herauswachsen sollen. Ich bin sehr dafür, dass man in seinen Zwanzigern Spaß hat und alle möglichen interessanten Sachen ausprobiert. Aber jetzt sehen wir Menschen in ihren Vierzigern und Fünfzigern, die nie heiraten, nie ein Haus besitzen, nie Kinder haben werden. Ich weiß nicht, wie das auf lange Sicht für eine Gesellschaft tragbar sein soll. Ich frage mich auch, wie das auf lange Sicht mit der Rentenfinanzierung laufen soll: Schließlich werden die Renten von Menschen in meinem Alter von Menschen in Ihrem Alter bezahlt, aber es gibt mehr von uns im fortgeschrittenen als von Ihnen im jungen Alter.

Zur Person: Joel Kotkin ist Direktor des Urban Reform Institute in Houston und Fellow für Stadtforschung Chapman-Universität in Orange, Kalifornien, und veröffentlichte mehrere Bestseller zu wirtschaftlichen, demografischen und sozialen Themen.

Lesen Sie den zweiten Teil des Interviews: „Nur vier bis fünf Unternehmen entscheiden, was Sie lesen können – das ist ein Problem“


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