Technologie

„Nur vier bis fünf Unternehmen entscheiden, was Sie lesen können – das ist ein Problem“

Lesezeit: 6 min
20.08.2022 09:29
Der Bestseller-Autor Joel Kotkin warnt im DWN-Interview vor der Macht der Tech-Konzerne und zeichnet dabei ein düsteres Zukunftsbild.
„Nur vier bis fünf Unternehmen entscheiden, was Sie lesen können –  das ist ein Problem“
Die zunehmenden Oligopolisierung der Technologieunternehmen sorgt dafür, dass nur wenige Unternehmen vorauswählen, was wir lesen werden. (Foto: dpa)

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Joel Kotkin ist Stadtforscher, Bestseller-Autor und Professor an der Chapman University in Orange, Kalifornien. Die DWN sprachen mit ihm über die Macht der Tech-Konzerne und deren gefährliche Zukunftsvorstellungen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Kotkin, das sogenannte Zeitalter der Entmutigung, wie Sie es nennen, wird auf verschiedenste Weise kritisiert. Die einen mögen es für eine normale Funktion des Kapitalismus halten, der vom World Economic Forum ((WEF) einen grünen Anstrich bekommt. Andere sehen in diesem vermeintlichen Anstrich eine Bedrohung für Freiheit und Wohlstand oder stricken Verschwörungstheorien um den WEF-Gründer Klaus Schwab. Liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Was denken Sie darüber?

Joel Kotkin: Nun, ich erinnere mich, dass ein japanischer Sensei (respektable Person mit einem hohen Grad an Fertigkeit) einmal sagte: Eine Gesellschaft besteht aus vielen Bildern und jedes Bild ist wahr. Und natürlich hat all diese Kritik irgendwo einen Bezug zur Realität. Die ESG-Bewegung (Environmental, social, and corporate governance) verpflichtet Unternehmen zu wirtschaftlicher und ökologischer Nachhaltigkeit] hat sicherlich allerlei Probleme geschaffen. Aber ich glaube nicht, dass es Verschwörungen sind, ich bin kein Verschwörungstheoretiker.

Ich glaube, die Leute sind einfach zu dumm, um Verschwörungen durchzuführen, zu eigennützig und zu sehr in Widersprüchen verstrickt. Aber ich denke, dass etwa die „Degrowth“-Philosophie ein wichtiger Faktor ist. Was mich am meisten beunruhigt, ist die Tatsache, dass nicht gesagt wird, wie sich ein solcher Wachstumsrückgang auf die Mittel- und Arbeiterklasse auswirken wird. Wissen Sie, für diese Leute wird das sicher kein Problem sein. Sie jammern über das Klima, während sie in ihrem Privatjet nach Davos fliegen. Wie heuchlerisch kann man sein?

Andererseits gibt es in den USA ein Problem mit dem Kapitalismus. Sowohl die republikanische als auch die demokratische Regierung haben einer Handvoll Unternehmen fast freie Hand gelassen, sich in jede beliebige Technologie einzukaufen. Hier in Orange County in Kalifornien, wo ich wohne, wurde zum Beispiel von einem hiesigen Unternehmen Oculus entwickelt, und dann von Facebook aufgekauft, um das Metaversum zu schaffen. Sie sehen also, dass die Technologien zunehmend von diesen riesigen Unternehmen übernommen werden.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ist es ein Problem, dass diese riesigen Unternehmen vielleicht nicht gerade die Leute sind, denen man diese Technologien anvertrauen sollte?

Joel Kotkin: Ja, sie haben recht. Ihnen sollte man nicht diese Technologien anvertrauen. Karl Polanyi schrieb, dass Innovation auf einer überfüllten Bühne stattfinde. Ich glaube nicht, dass Innovation stattfindet, wenn fünf, sechs oder sieben Unternehmen herrschen. Wir haben zwei Oligarchien, eine hier in den USA und eine in China, und die kontrollieren so ziemlich alles in der Tech-Welt.

Denken Sie nur an Unternehmen wie Google und Facebook, die gibt es jetzt schon seit ziemlich langer Zeit. Und Elon Musk ist wahrscheinlich bislang der erste Tech-Unternehmer, der wirklich etwas Sinnvolles tut. Seien wir ehrlich: Mehr Menschen dazu zu ermutigen, ins Metaverse zu gehen und mehr Zeit online zu verbringen, ist nicht sehr gesund für die Gesellschaft und die Wirtschaft. Und wenn man Kinder hat, ist das besonders beängstigend.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Es gibt zahlreiche Romane und Filme, die vor einer Art Metaverse warnen, aber die Leute in den Tech-Unternehmen denken scheinbar nur, dass sie einfach etwas Gutes tun. Das ist die erst einmal naiv klingende Botschaft, die Facebook und Co. immer wieder aussenden: Wir verbinden die Menschen miteinander, wir bringen Menschen zusammen.

Joel Kotkin: Wissen Sie, das Problem ist, dass mit der zunehmenden Oligopolisierung der Technologieunternehmen vier oder fünf Unternehmen entscheiden können, was Sie lesen sollten, was Sie nicht lesen können und was Sie interessieren sollte. Gerade heute Morgen habe ich nach Steve Koonins Büchern geschaut. Koonin war der Energieberater von Präsident Obama, ein sehr pragmatischer Typ, der einige Kritikpunkte an der Netto-Null-Politik (die Reduktion der Treibhausgase auf Netto-Null] geäußert hat, von der ich glaube, dass Deutschland jetzt erkannt hat, dass sie zumindest auf kurze Sicht sinnlos ist.

Dann habe ich bei Google nachgeschaut und die ersten fünf Artikel waren allesamt eine Kritik an ihm. Ich finde, dass gerade Google bei bestimmten Themen voreingenommen ist. Ein anderes Beispiel – ich weiß nicht, wie viel in Deutschland darüber geschrieben wurde – ist die ganze Hunter-Biden-Laptop-Geschichte und die Tatsache, dass gewisse Social-Media-Plattformen eine Geschichte der New York Post, eine der ältesten Zeitung der Vereinigten Staaten, einfach in ihrer Reichweite einschränken konnten. Die Orwellsche Welt kann sowohl aus dem privaten Sektor als auch aus dem Staat heraus erwachsen. Und wenn beide unter einer Decke stecken, hat man wirklich ein Problem.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Absolut. Außerdem sehen wir, dass die Macht des Staates eher schwindet, beziehungsweise sich eher hin zu Tech-Unternehmen bewegt, die wir nicht kontrollieren können. Sicher, wir können unsere Regierung auch nicht kontrollieren, aber wir können mit ihr reden, sie braucht unsere demokratische Legitimation, während Big-Tech im Grunde über unsere Leben entscheiden kann, ohne dass wir uns dagegen wehren können. Was glauben Sie?

Joel Kotkin: Nun, ich glaube, dass man bei den Menschen eine Art Abhängigkeit von der Technologie schafft. Es gab einen interessanten, nicht besonders guten Film über eine Gesellschaft, in der die Menschen, die meiste Zeit online verbringen. Und es gibt eine Rebellenbewegung, die die Menschen offline bringt. Doch sobald die Leute einen Entzug von der Droge durchmachen, beginnen sie zu randalieren. Das ist ein Teil davon, wohin wir uns entwickeln, nämlich zu einer Gesellschaft, in der die Menschen sehr abhängig sind vom Internet. Das ist der Punkt, an dem sich die Macht konzentriert. Umso mehr müssen wir diese Menschen hinterfragen können. Aber was macht man, wenn man jemanden wie Mark Zuckerberg hat, der im Grunde auch versucht zu garantieren, dass die Demokraten die Wahlen gewinnen und Hunderte von Millionen Dollar in die Unterstützung von staatlichen Wahlbüros steckt. Dieses geheime Einverständnis zwischen der bürokratischen Elite, dem Klerus, wie ich sie in meinem Buch „The Coming of Neo-Feudalism“ nenne, und den Oligarchen, das ist der Punkt, an dem sich die Macht konzentriert.

In anderen Gesellschaften kann das auch anders sein. Ich könnte mir vorstellen, dass in Europa, wo es nicht so viele starke Technologieunternehmen gibt, die Oligarchie nicht so mächtig ist wie der Staat. Europa hat ein etwas anderes Modell. Und so kann es sein, dass die Einmischung der Regierung in den Markt und die Meinungsfreiheit dort ein größeres Problem darstellt als in den USA, wo das größte Problem von der privaten Seite ausgeht.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ja, der Staat ist hier in Europa wahrscheinlich immer noch stärker, aber wir sehen zunehmend, dass auch diese Stärke langsam zerbröckelt. Nicht umsonst betreiben dieTech-Konzerne eine ganze Menge Lobbyarbeit in Brüssel. Es gibt Daten, die tatsächlich zeigen, dass es die großen Tech-Unternehmen sind, die am meisten Geld für Lobbyisten im EU-Parlament ausgeben.

Joel Kotkin: Das Gleiche gilt für Washington, D.C. Ich habe schon in den siebziger Jahren über das Silicon Valley berichtet, und diese Leute waren damals eher gemäßigte Republikaner, einige von ihnen gemäßigte Demokraten. Es gab damals nur sehr wenige Leute, die politischen Extremen nahestanden. Sie hatten sich nicht viel aus Politik gemacht. Das war für sie eine Art Nebensache. Heute sind in Washington, wie auch in Brüssel, die Tech-Unternehmen die größten Lobbyisten. Und was macht man nun, wenn ein solches Unternehmen 90 Prozent der weltweiten Suchmaschinen außerhalb Chinas besitzt? Ich würde sagen, ein Tocqueville, ein Adam Smith oder ein Edmund Burke – ich könnte eine Reihe von Namen aufzählen – hätten alle gesagt, das geht nicht, das kann so nicht funktionieren, dass eine so kleine Gruppe von Unternehmen eine solche Vormachtstellung hat. Lenin sagte, dass der Kapitalismus seine Stärke nicht den großen Unternehmen verdankt, sondern dem Dorfmarkt. Den müsse man abschaffen, um den Kapitalismus abzuschaffen. Was heute passiert, ist, dass der Kapitalismus den Kapitalismus abschafft.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was bedeutet dieser Prozess für unsere Gesellschaft? David Goodhart prägte die Begriffe der lokal verwurzelten und ökonomisch eher schwachen Somewheres und der kosmopolitisch lebenden und eher wohlhabenden Anywheres. Wird dieses Zeitalter des Neo-Feudalismus, von dem Sie sprechen, unsere Gesellschaft weiter in eine solche Richtung polarisieren?

Joel Kotkin: Man sollte ein Auge auf die Protagonisten der Tech-Szene werfen. Woran glauben Sie, welche Art von Gesellschaft wollen sie? Wir haben das nicht bei Lenin getan, nicht bei Stalin, Hitler und auch nicht bei Mao. Wir hatten uns nicht klargemacht, dass diese Menschen absolut ernst meinten, was sie sagten. In der Zukunftsvorstellung der Tech-Visionäre spielen einfache Leute keine Rolle mehr. Der Durchschnittsmensch wird nicht mehr viel zur Gesellschaft beitragen können. Alles wird automatisiert und die Menschen werden mit bedingungslosem Grundeinkommen abgespeist. Jeder kriegt hier und da eine Subvention, und vielleicht arbeitet manch einer gelegentlich in einem Gig-Economy-Job (In der Gig Economy dominieren vor allem zeitlich eng befristete Arbeitsformen]. Aber von Aufstiegschancen ist da keine Rede. Die Tech-Eliten haben kein besonders großes Interesse an dieser Mittelstandsdynamik.

Ich halte das für gefährlich, denn es gibt noch viel zu tun. Und es gibt eine Menge Dinge, die wir tun müssen. Vor allem hierzulande müssen wir herausfinden, wie Menschen, die in – wie man so sagt – einfachen Jobs arbeiten, genug Geld verdienen können, um ein anständiges und unabhängiges Leben führen zu können. Und das ist ein großes Thema. So schrecklich die Autofirmen und die Ölfirmen und die anderen Industrieunternehmen des späten 20. Jahrhunderts auch gewesen sein mögen, sie haben viele gute Arbeitsplätze geschaffen, viele gute gewerkschaftliche Arbeitsplätze und viel Wohlstand in den lokalen Gemeinschaften.

Ich erinnere mich noch an frühere Besuche in Deutschland, ich wurde ja in Deutschland geboren, weil mein Vater dort in der Army gedient hatte. Damals konnte man in eine kleine Stadt gehen und eine angenehme Straße mit lauter Mittelstandsgeschäften und kleinen Cafés entlang spazieren. Heutzutage sieht man stattdessen nur noch Ladenketten. Von der Dynamik des Mittelstandes, die es früher einst gab, ist nicht mehr viel zu sehen. Und ich glaube, die Tech-Eliten haben kein besonders großes Interesse an dieser Mittelstandsdynamik.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das ist ein gutes Schlusswort. Schließlich läuft unserem Zoom-Meeting, ironischerweise, auch die Zeit ab. Vielen Dank, Herr Kotkin!

Lesen Sie hier den ersten Teil des Interviews: „Neuer Feudalismus der Tech-Eliten bedroht den Mittelstand“


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