Am vergangenen Dienstag kam es zu Kampfhandlungen im Südkaukasus zwischen Armenien und Aserbaidschan. Aserbaidschan hat das Nachbarland Armenien mit Artillerie und Drohnen angegriffen. Mittlerweile wurde eine Waffenruhe ausgerufen, doch die Lage bleibt angespannt. Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan bezifferte die vorläufige Zahl der Todesopfer auf armenischer Seite auf 105. Das Verteidigungsministerium in Baku meldete 50 gefallene Soldaten auf Seiten Aserbaidschans.
Die über Nacht ausgebrochenen Kämpfe an mehreren Stellen entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze sind so ernst, dass Eriwan seinen mächtigen Verbündeten Russland um Hilfe gebeten hat. Dies wurde wenige Stunden nach einem nächtlichen Telefongespräch des armenischen Premierministers mit dem russischen Präsident Wladimir Putin bekannt. Die armenische Regierung hat bestätigt, dass sie russische Militärhilfe angefordert hat, um die Aggression und den Beschuss Aserbaidschans abzuwehren, wie RIA Novosti berichtet. Darin heißt es:
„Während des Treffens wurden weitere Schritte besprochen, um den aggressiven Handlungen Aserbaidschans gegen das souveräne Territorium Armeniens zu begegnen, die um Mitternacht begannen. Im Zusammenhang mit der Aggression gegen das souveräne Territorium der Republik Armenien wurde beschlossen, sich offiziell an die Russische Föderation zu wenden, um die Bestimmungen des Vertrags über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand umzusetzen, sowie an die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit und den UN-Sicherheitsrat.“
Streit um Bergkarabach: Schon 2020 gab es Krieg
Seit Jahrzehnten tobt zwischen Armenien und Aserbaidschan ein Konflikt um die Region Bergkarabach, die mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird. Dort hat sich die Republik Arzach formal für unabhängig erklärt hat, wird jedoch international nicht als eigenständiger Staat anerkannt. Die Republik Arzach wurde bereits in einem Krieg gegen Aserbaidschan 1994 militärisch von Armenien unterstützt und konnte nach einem Sieg angrenzende Gebiete für sich beanspruchen.
2020 war der Konflikt in der Region erneut aufgeflammt, nachdem es an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze zu Kampfhandlungen kam zwischen Truppen Armeniens und der Republik Arzach auf der einen und Streitkräften Aserbaidschans auf der anderen Seite. Der Krieg endete nach vier Monaten mit einem Sieg Aserbaidschans, das in der Folge weite Teile der 1994 verlorenen gegangenen Gebiete zurückeroberte.
Als Ergebnis der Waffenstillstandsverhandlungen wurden russische Friedenstruppen in Bergkarabach stationiert – ein Schritt, der ausdrücklich die Zustimmung der UN und der EU erhielt. Dieses Mal fand der Angriff Aserbaidschans allerdings nicht im umstrittenen Bergkarabach statt, sondern richtete sich gegen Gebiete Armeniens, die innerhalb der international anerkannten Grenzen liegen.
Armenien ruft Bündnisfall aus und bittet Russland um militärische Unterstützung
Armenien befindet sich in einem Militärbündnis mit Russland, der sogenannten Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit (OVKS). In Folge des aserbaidschanischen Angriffs rief Armenien nun den Bündnisfall aus und ersuchte Russland offiziell um militärische Unterstützung. Ob es zur Entsendung weiterer russischer Soldaten in die Region kommt, ist aber zweifelhaft. Zum einen hat Russland derzeit kaum Kapazitäten für einen weiteren militärischen Konflikt, nachdem Moskau im Ukraine-Krieg zahlreiche Verluste hinnehmen musste. Zum anderen ist Russland mit beiden Seiten verbündet.
Das lässt sich schon an den Waffenlieferungen Russlands in beide Länder ablesen. Während Armenien im letzten Jahr Waffen aus russischer Produktion für umgerechnet eine Milliarde Euro kaufte, deckte sich Aserbaidschan sogar für fünf Milliarden Euro mit russischem Kriegsgerät ein. Zudem verbindet Russlands Präsident Putin eine Partnerschaft mit Aserbaidschans Staatsoberhaupt Ilham Aliyev, den Putin zuletzt kurz vor Beginn des Ukraine-Kriegs traf.
Stattdessen konzentrierte Russland sich in den folgenden Tagen auf eine Vermittlerrolle. Außerdem beschloss das Militärbündnis OVKS die Entsendung einer Erkundungsmission in das Gebiet. Nach zweitägigen Kampfhandlungen wurde eine vorläufige Waffenruhe verkündet, die seit Mittwoch 20 Uhr gilt. „Unter Teilnahme der internationalen Gemeinschaft ist eine Vereinbarung über eine Waffenruhe erzielt worden“, sagte der Sekretär des armenischen Sicherheitsrates, Armen Grigorjan, im armenischen Fernsehen. Aserbaidschan bestätigte die Waffenruhe zunächst nicht. Doch das armenische Verteidigungsministerium teilte mit, dass der Beschuss abgenommen habe.
Eine Verurteilung des Angriffs seitens der EU bleibt aus
Die EU insgesamt und Deutschland im Speziellen haben den Angriff Aserbaidschans auf seinen Nachbarn bis heute nicht verurteilt. Zwar forderte Bundeskanzler Scholz beide Seiten auf, die Kampfhandlungen umgehend zu beenden. Doch auf die Frage des Journalisten Thilo Jung, ob die Bundesregierung in dem Konflikt einen klaren Aggressor ausmachen könne, antwortete ein Sprecher des Auswärtigen Amts ausweichend. Mangels unabhängiger Beobachter vor Ort ließe sich der Sachverhalt nicht überprüfen.
Dabei kommen unabhängige Medienberichterstatter klar zu dem Ergebnis, dass der Angriff am vergangenen Dienstag von Aserbaidschan ausging. Der tatsächliche Grund für die deutsche und auch europäische Zurückhaltung bei einer Verurteilung Aserbaidschans dürfte dabei viel mit Gaslieferungen zu tun haben. Zwar rangiert Aserbaidschan in punkto Pressefreiheit, Menschenrechte und Korruption teilweise noch hinter Russland. Doch es verfügt über das in der EU dringend benötigte Gas.
Erst im Mai vermeldete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass die Handelsbeziehungen zu Aserbaidschan ausgebaut werden sollen. Im Juli unterzeichnete die EU dann ein Gasabkommen mit Aserbaidschan. Um sich von russischen Gaslieferungen unabhängiger zu machen, soll in den nächsten fünf Jahren doppelt so viel Gas wie bisher aus dem Südkaukasus nach Europa fließen. Zurzeit importiert die EU jährlich rund 8 Milliarden Kubikmeter Gas aus Aserbaidschan. Ab 2027 soll die Importmenge auf 20 Milliarden Kubikmeter anwachsen. Von der Leyen kommentierte das Abkommen mit den Worten: „Die EU wendet sich an vertrauenswürdige Energielieferanten“.