Die deutschen Gaskunden zittern vor drastischen Preiserhöhungen ihrer Versorger und sehen sich den Winter in unbeheizten Wohnungen verbringen. Doch an den Börsen entspannt sich die Lage etwas, obwohl die Lieferungen aus Russland fast zum Erliegen gekommen sind. Experten zufolge können Erdgas-Abnehmer für die kommenden Monate auf eine Fortsetzung dieses Trends hoffen.
„Wir werden mit Sicherheit eine Dämpfung der Preise in den nächsten 18 Monaten sehen“, sagt Timm Kehler, Geschäftsführer des Verbands „Zukunft Gas“. Vermutlich würden sie zwar über dem Niveau von 2021 liegen, also vor dem Ukraine-Krieg - jedoch „deutlich unter dem, was wir in den letzten Wochen und Monaten erleben mussten“. Die Experten des Energiewirtschaftlichen Instituts der Universität Köln (EWI) sagen in einer Studie für die kommenden Jahre ebenfalls Rückgänge voraus.
Im Vergleich zu seinem Rekordhoch von Ende August hat sich der richtungsweisende europäische Erdgas-Future um fast die Hälfte auf aktuell rund 180 Euro je Megawattstunde verbilligt. Er kostet aber immer noch mehr als doppelt so viel wie vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine Ende Februar und knapp zehn Mal so viel wie Anfang 2021.
Börsianer begründeten den Preisrückgang der vergangenen Wochen unter anderem mit gut gefüllten Speichern in Europa, die die Gefahr akuter Engpässe im kommenden Winter verringerten. Hinzu kämen rekordhohe Einfuhren von Flüssiggas (LNG) aus den USA und eine sinkende Nachfrage aufgrund des weiterhin hohen Preisniveaus, erläutern die Analysten von EnergyScan, dem Datenanbieter des Versorgers Engie. Im Oktober könnten in einigen Staaten die Gaslagerstätten bereits ihre Kapazitätsgrenze erreichen. In Deutschland sind die Gasspeicher aktuell zu gut 90 Prozent gefüllt.
USA WERDEN RUSSLAND WOHL ALS HAUPTLIEFERANT ABLÖSEN
Ein Eckpfeiler der künftigen Energieversorgung ist Flüssiggas aus den USA. Der Bau der schwimmenden LNG-Terminals komme voran, sagt Verbandschef Kehler. Sobald diese in Betrieb gingen, werde dank der vereinfachten Lieferung der aktuelle Aufschlag im Vergleich zu den Preisen, die in Asien gezahlt würden, zurückgehen. Bis 2030 könnten die USA zum größten Gaslieferanten der EU aufsteigen und bis zu 90 Prozent der Menge bereitstellen, die Russland 2021 geliefert habe, rechnen die EWI-Experten vor.
Der entscheidende Hebel bei der Preisentwicklung sei jedoch der Verbrauch, heißt es in der EWI-Studie weiter. „Ginge die EU-Gasnachfrage bis zum Jahr 2030 um 20 Prozent gegenüber 2021 zurück, könnten sich Großhandelspreise auf dem Niveau von 2018 einstellen – unabhängig davon, ob der Gashandel mit Russland beschränkt ist oder nicht.“ Vor vier Jahren pendelte der Gaspreis um die Marke von 20 Euro je Megawattstunde.
REZESSION ALS PREISDÄMPFER
Die Elektrifizierung der Industrie, Einsparungen und die Produktion von Biogas als Ersatz-Energieträger könnten den EWI-Experten zufolge den Gasverbrauch drosseln. Ein Teil des Nachfrage-Rückgangs wird voraussichtlich aber auf das Konto der Rezession gehen, die Volkswirte für unausweichlich halten. „Die massiv gestiegenen Strom- und Gaspreise machen die Produktion mancher Güter unrentabel, so dass diese von den Unternehmen trotz ausreichender Aufträge heruntergefahren wird“, erläutert Commerzbank-Analyst Christoph Weil. „Gleichzeitig lässt die Unsicherheit über die künftige Gasversorgung die Unternehmen vorsichtiger werden, was für weniger Investitionen spricht.“
Die Pläne zur Begrenzung der Energiepreise durch die EU oder einzelne Staaten beurteilt Analyst David Kohl von der Bank Julius Bär skeptisch. „Die wirksamsten Maßnahmen wie die Anhebung der niederländischen Gasproduktion oder die Versteigerung von zusätzlichen Emissionszertifikaten, um vorübergehend den CO2-Preis zu senken, scheinen dabei keine hohe Priorität zu haben.“
Seine Kollegen von der ING Bank warnen vor unerwünschten Nebenwirkungen beim diskutierten Preisdeckel für Strom, der in der EU weniger umstritten ist als derjenige für Erdgas. Ökostrom-Anbieter, die vergleichsweise günstig produzieren, könnten versuchen, ihren Strom an Nicht-EU-Staaten wie Großbritannien oder Norwegen zu verkaufen. Einige EU-Staaten würden dadurch gezwungen, mehr Strom in Gaskraftwerken zu produzieren, was die Nachfrage anheize. Außerdem sei fraglich, ob die Reform schnell genug greife, um die Lage bereits im nahenden Winter zu entspannen. (rtr)