Die Renditen zehnjähriger US-Staatsanleihen sind so viel geringer als die Renditen zweijähriger Anleihen, wie es seit Anfang der 80-er Jahre nicht mehr der Fall war. Ein solches Szenario, in dem die kurzfristigen Renditen höher sind als die langfristigen Renditen, ist an der Wall Street als Umkehrung der Renditekurve bekannt und wird als Warnsignal für eine drohende Rezession angesehen.
Die Renditen von Staatsanleihen spiegeln weitgehend die Erwartungen der Anleger wider, was die von der Federal Reserve festgelegten kurzfristigen Zinssätze über die Laufzeit einer Anleihe im Durchschnitt betragen werden. Längerfristige Renditen sind in der Regel höher als kürzerfristige, weil sich die Anleger gegen das Risiko unerwarteter Inflation und Zinserhöhungen absichern wollen.
Grundsätzlich bedeutet eine umgekehrte Kurve, dass die Anleger zuversichtlich sind, dass die kurzfristigen Zinssätze in der weiten Zukunft niedriger sein werden als in der nahen Zukunft. Dies liegt in der Regel daran, dass sie davon ausgehen, dass die US-Notenbank die Kreditkosten senken muss, um eine schwächelnde Wirtschaft wieder anzukurbeln.
Und im Moment ist die Renditekurve ungewöhnlich stark umgekehrt - selbst für eine sich ankündigende Rezession. Bereits in der vergangenen Woche lag die Rendite zehnjähriger US-Staatsanleihen stattliche 0,78 Prozentpunkte unter der zweijährigen Rendite. Das ist der größte negative Abstand seit Ende 1981, als eine Rezession begann, deren Arbeitslosenquote höher war, als später im Nachspiel der Finanzkrise von 2008.
Dennoch gibt es auch Gründe für die Annahme, dass die starke Umkehrung der Renditekurve eher auf eine abnehmende Inflation und eine Rückkehr zu einer normaleren Wirtschaft hindeuten könnte, als auf eine bevorstehende wirtschaftliche Katastrophe. Tatsächlich hat sich die Renditekurve in den letzten Wochen vor dem Hintergrund guter Wirtschaftsnachrichten immer stärker umgekehrt.
Die derzeitige Renditekurve ist "die Aussage des Marktes: Ich denke, die Inflation wird zurückgehen", zitiert das Wall Street Journal Gene Tannuzzo, den globalen Leiter für festverzinsliche Wertpapiere beim Vermögensverwalter Columbia Threadneedle. Die Anleger glauben seiner Ansicht nach, dass die Fed glaubwürdig ist. "Letztendlich wird die Fed den Kampf gegen die Inflation gewinnen, und bis dahin müssen wir höhere kurzfristige Zinssätze ertragen."
Seit Monaten, beginnend im Sommer, war die Rendite zehnjähriger Staatsanleihen wiederholt nicht viel weiter als 0,5 Prozentpunkte unter die zweijährige Rendite gesunken. Dies änderte sich erst Anfang November, als das Arbeitsministerium besser als erwartet ausgefallene Daten zum Verbraucherpreisindex veröffentlichte, was die Hoffnung weckte, dass die Inflation endlich nachlassen könnte.
Der Bericht über den Verbraucherpreisindex für Oktober führte zu einem leichten Rückgang der kurzfristigen Renditen, wobei die Rendite für zweijährige Anleihen am Dienstag von 4,63 Prozent zu Beginn des Monats auf etwa 4,47 Prozent sank. Die Anleger haben ihre kurzfristigen Zinserwartungen jedoch nicht annähernd so stark angepasst wie ihre längerfristigen Wetten, denn die zehnjährige Rendite sank von 4,15 Prozent auf 3,75 Prozent.
In Anlehnung an die Aussagen von Fed-Vertretern gehen die Anleger nach wie vor davon aus, dass die Zentralbank den Leitzins bis Anfang nächsten Jahres auf etwa 5 Prozent anheben wird, der derzeit zwischen 3,75 und 4 Prozent liegt. Die rückläufige Inflation hat jedoch viele zu der Annahme veranlasst, dass die Fed später im Jahr 2023 mit Zinssenkungen beginnen wird. Denn dann werde sie ein höheres Wirtschaftswachstum für wichtiger erachten als den Kampf gegen die Inflation.
Die Renditen von Staatsanleihen beeinflussen maßgeblich die wirtschaftlichen Aussichten. Vor allem die längerfristigen Renditen spielen eine Schlüsselrolle bei der Bestimmung der Kreditkosten in der gesamten Wirtschaft. Sie haben auch einen starken Einfluss auf die Aktienmärkte, da steigende Renditen Anleihen attraktiver machen und daher häufig zu einem Rückgang der Aktienkurse führen.
Die hartnäckig hohe Inflation und die rasch steigenden Erwartungen für die kurzfristigen Zinssätze haben in diesem Jahr bereits zu einem enormen Anstieg der Renditen von Staatsanleihen geführt, wobei die Kurse bestehender Anleihen fielen, um die höheren Zinssätze für neue Anleihen widerzuspiegeln. Dies wiederum hat bei den wichtigsten Anleihenindizes zu den schlechtesten Renditen seit den 1970er Jahren geführt.
Auch der S&P 500 hat in diesem Jahr 17 Prozent verloren, der Goldpreis ist um 3 Prozent zurückgegangen und Bitcoin liegt seit Jahresbeginn sogar rund 65 Prozent im Minus. Da die längerfristigen Renditen jedoch gesunken sind, hat er sich in den letzten Wochen ebenfalls stabilisiert und seit dem Tag vor dem Inflationsbericht vom 10. November schon um 6 Prozent zugelegt.
Doch der jüngste Rückgang der Renditen und die deutlichen Kursgewinne auf dem Aktienmarkt sind möglicherweise nicht von Dauer. Denn niedrigere Renditen haben es den Unternehmen etwas leichter gemacht, Geld zu beschaffen und auszugeben. Damit werden genau jene Bedingungen, die überhaupt erst zu einer möglichen Mäßigung der Inflation und der Aussicht auf eine weniger harte Straffung der Geldpolitik geführt haben.
Bei mehr als einer Gelegenheit in diesem Jahr hat der Präsident der Federal Reserve Jerome Powell den Aufschwung bei Aktien und Anleihen zunichte gemacht, indem er die Botschaft verkündete, dass die Zentralbank die Zinssätze wahrscheinlich nicht nur anheben wird, sondern sie auch länger auf einem hohen Niveau halten wird.
In einer Pressekonferenz im Anschluss an die Fed-Sitzung vom 1. und 2. November (also vor der Veröffentlichung der jüngsten Inflationsdaten) betonte Powell, dass die Inflation nach wie vor eine große Bedrohung darstelle und dass die Fed die Zinssätze zwar in kleineren Schritten anheben werde, aber wahrscheinlich immer noch höher als in ihrer letzten offiziellen Prognose vom September angekündigt.