Politik

Der Staat delegiert seine Pflichten an die Wirtschaft - und untergräbt damit die Demokratie

Lesezeit: 7 min
10.12.2022 09:09
Mit der Übertragung seiner Pflichten auf Bankmanager, Rohstoffhändler und Medienlenker gefährdet der Staat die Demokratie, schreibt DWN-Kolumnist Ronald Barazon.
Der Staat delegiert seine Pflichten an die Wirtschaft - und untergräbt damit die Demokratie

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Der Staat ist offenbar unfähig, seine eigentlichen Aufgaben zu erfüllen. Daher werden andere in die Pflicht genommen. Die EU möchte ab 1. Jänner kein Öl mehr aus Russland importieren. Also wären die Zöllner und Finanzbeamten verpflichtet, kein russisches Öl mehr ins Land zu lassen. Das geschieht nicht. Stattdessen sollen die Versicherer diese Arbeit besorgen, indem sie Öltanker nicht mehr versichern, sodass diese nicht mehr fahren können.

Die EU will die Verleumdungen und Hasstiraden im Internet beenden. Unter normalen Verhältnissen würden die Betroffenen zu Gericht gehen und die Täter wegen übler Nachrede und gefährlicher Drohung belangen. Dies ist aber nicht möglich, weil man im Internet anonym agieren kann. Es gibt keine Meldepflicht wie in der realen Welt und somit findet man die Absender nicht. Dieser Zustand wird nicht mit einem Gesetz beseitigt. Die EU verlangt von den Betreibern sozialer Medien, dass sie kriminelle Äußerungen zensurieren.

Auch andere Gruppen sind ähnlich geschützt wie die Akteure im Internet: Kein Fahrrad trägt ein Nummernschild, jeder Rowdy kann ungestraft jeden Gehsteig zur Rennbahn umfunktionieren. Jeder schäbige Denunziant kann als „Whistleblower“ anonym die schlimmsten Verleumdungen in Umlauf bringen

Ein Viertel des Öl-Bedarfs fällt weg

Schon die kleine Rundschau zeigt den absurden Zustand, in dem sich die Institution „Staat“ im vermeintlich demokratischen Westeuropa befindet. Der Blick in die Details erschreckt noch mehr. Das eingangs zitierte Ölembargo bedeutet im Klartext, dass, würde der Einfuhrstopp tatsächlich stattfinden, ab Jänner, also in wenigen Tagen, 25 Prozent des Öls fehlen werden. So hoch ist der Marktanteil des russischen Öls in der EU. Die Folge ist klar: Man wird zu extrem hohen Preisen Ersatz aus anderen Quellen beschaffen müssen.

Diese banale Realität interessiert die Brüsseler Strategen nicht. Es geht neuerdings nur um die Ukraine. Russland soll finanziell geschwächt und folglich gezwungen werden, den Krieg gegen die Ukraine zu beenden. Dass dieses Kalkül nicht funktioniert, beweisen die seit der Annexion der Krim 2014 verhängten Sanktionen.

Lesen Sie dazu: Wirtschaftssanktionen: Ein wirksames Instrument?

Jetzt hat man beschlossen, dass russisches Öl nur um 60 Dollar je Fass importiert werden darf. Und das bereits seit 5. Dezember. Wozu die Maßnahme, wenn ab 1. Januar ohnehin kein Öl mehr aus Russland importiert werden soll? Also ist das Embargo doch nicht so ernst gemeint? Auch fällt auf, dass nur von Tankern die Rede ist, Öl, das über Pipelines kommt, darf weiter in die EU importiert werden.

Sanktionen aus Brüssel - die Konkurrenz freut sich übers Geschäft

Die EU-Spitzen haben sich ein schlaues System überlegt und werden dabei von den USA unterstützt, die pikanter Weise gar keinen Bedarf an Öl-Importen haben. Die EU-List besteht im Verbot der Versicherung von Tankern, die russisches Öl transportieren, das mehr als 60 Dollar kostet oder gar schon um mehr als 60 Dollar gekauft wurde. Die Versicherungsverträge betreffen aber in erster Linie Schäden, die entstehen, wenn Hafenanlagen ruiniert werden, Schiffe kollidieren, sinken, stranden und Ähnliches mehr. Selbstverständlich ist bei Verlust auch die Fracht, also das Öl, versichert, doch gilt in der Regel der jeweilige Marktpreis oder ein vereinbarter Betrag. Nach den Vorstellungen der EU sollen offenbar nun Inspektoren der Versicherungen auf jedem Schiff kontrollieren, ob eine Ladung aus Russland und zu welchem Preis transportiert wird. Bei mehr als 60 Dollar je Fass würde die Versicherung nicht mehr decken.

Diese weltfremde Vorstellung ist nicht realisierbar. Doch können sich die Versicherungen nicht einfach weigern, die Maßnahme umzusetzen. Sie stehen unter dem Druck der mächtigen, von der EU kontrollierten Aufsichtsbehörden, die die Verletzung von Regeln streng bestrafen. Bevor man sich also auf ein derartiges Risiko einlässt, wird man wohl oder übel kein Schiff mehr versichern, das auch nur annähernd in die Gefahr kommen könnte, russisches Öl zu transportieren. Also erwartet man in Brüssel den Zusammenbruch der Schiffstransporte russischen Öls.

Nur: Selbst, wenn keine in der EU, in den USA oder auch in Japan beheimatete Versicherungsgesellschaft mehr Schutz bietet, die Versicherungen der anderen Länder freuen sich über das zusätzliche Geschäft.

Genauso wie sich die nicht-russischen Öllieferanten freuen, Europa beliefern zu können. Und das auch mit russischem Öl, das in Fässern ohne russisch-kyrillische Schriftzeichen den Umweg über Indien und andere hilfreiche Länder nimmt. Oder gar in russischen, allerdings anderswo und irgendwo registrierten Schiffen.

Banker sind schon länger als Polizisten im Einsatz

Die absurde Idee, Versicherungen, aber auch Banken, die Arbeit der Polizei, des Staates besorgen zu lassen, ist nicht neu. So müssen Mitarbeiter von Finanzinstituten bei jedem hereinkommenden Geldbetrag sicherstellen, dass es sich nicht um Drogen- oder sonstiges Schwarzgeld handelt. Da ist dann schon eine banale Lebensversicherung eines Stammkunden verdächtig, vielleicht doch ein Instrument der Geldwäsche zu sein.

Firmen unterliegen dem Generalverdacht, den Staat zu betrügen, und so haben die zu Polizisten mutierten Bankangestellten die tatsächlichen, wirtschaftlichen Eigentümer zu enttarnen, die sich möglicherweise hinter vorgeschobenen Treuhändern verstecken.

In der Klimapolitik wird schon länger agiert wie jetzt beim russischen Öl: Abhängig vom aktuellen Trend wird den Versicherern die Versicherung und die Finanzierung eines Energieträgers erlaubt oder verboten. Bis vor kurzem sollte Gas begünstigt und Kohle sabotiert werden, jetzt dürften sich die Regeln ändern.

Lesen Sie dazu: Deutschland setzt wieder massiv auf Kohle-Strom

Die Sünder lachen über die Datenschutzverordnung

Im Internet bewirkt bekanntlich die gnadenlose Datenschutzgrundverordnung DSGVO, dass die Nutzer sich ständig mit Cookies auseinandersetzen müssen, die entgegen dem eigentlichen Wortsinn keine Kekse sind, sondern mühsame Bestimmungen. Die DSGVO verbietet regulären Unternehmen, Werbebriefe über Mails an potenzielle Kunden auszusenden und ist auch sonst ein Vorschriftenkoloss mit hohen Strafen bei Verstößen.

Daneben toben unbekümmert und unerkannt die übelsten Akteure durch das Netz, verleumden und beschimpfen unter dem Schutz der Anonymität wehrlose Mitbürger, legen über Hack-Attacken Unternehmen und Institutionen lahm und erpressen Lösegeld in Millionenhöhe. Doch keine politische Instanz kommt offenbar auf die Idee, dass man diesem Treiben Einhalt gebieten könnte, indem gesetzlich festgelegt wird, dass jeder Teilnehmer am Internet eine fixe, registrierte Adresse haben muss.

In der realen Welt ist jeder erreichbar, im Internet nicht

In der realen Welt besteht in den meisten Ländern Meldepflicht, etwa in Deutschland und Österreich. Aber auch in Ländern wie Frankreich, Großbritannien und die USA, die keine Meldepflicht haben, bleibt niemand anonym. Von der Sozialversicherungsnummer, über den Führerschein, den Pass oder den Personalausweis ist man erfasst. Und wer all diesen Zwängen entkommt, muss bei jeder Gelegenheit die letzte Stromrechnung vorweisen, um seine Identität und seinen Wohnort zu deklarieren. Nur im Internet braucht man all das nicht und kann ungehindert Unheil stiften.

Hier sei nicht die Illusion vertreten, in der realen Welt gäbe es keine Kriminalität, sondern angemerkt, dass der Missbrauch im Internet durch die Möglichkeit der totalen Anonymität enorm erleichtert wird.

Nun werden Regeln geschaffen, die Betreiber von sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter und anderen zu Polizisten ernennen, die über die Sauberkeit auf ihren Medien zu achten haben. Dieser Gedanke ist schon von vornherein skurril. Es kommt auch niemand auf die Idee, den traditionellen Telefongesellschaften aufzutragen, Gespräche zu unterbinden, die gegen bestimmte Regeln verstoßen.

Die sozialen Medien sind nichts Anderes als neuartige Telefonsysteme. Die Aufwertung der Twitter-Manager zu Polizisten ist auch aus einem anderen Grund problematisch. Mit der Rolle als Kontrolleur ist auch die Einladung verbunden, politisch nahestehende Gruppen zu begünstigen und die Nachrichten anderer zu sabotieren. Angesichts der großen Verbreitung der sozialen Medien ist die Installierung eines Facebook--oder TikTok-Chefs zum Sittenrichter demokratiepolitisch abzulehnen.

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Die Unterwanderung der Demokratie

Es ist eine der elementaren Aufgaben des Staates, den Bürgerinnen und Bürgern Schutz zu gewähren. Die Gesellschaft insgesamt, die Polizei und die Justiz haben im Sinne des großen, französischen Philosophen Voltaire zu funktionieren. „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“ Leider wird dieser fundamentale Grundsatz einer freien Gesellschaft nicht selbstverständlich gelebt, in zahlreichen Bereichen herrscht geradezu ein Meinungsterror.

Wer beispielsweise die Wirkung von Impfungen hinterfragt, die Atomenergie nicht pauschal ablehnt, nicht überzeugt ist, dass CO2 die einzige Ursache des Klimawandels ist oder die Zuwanderung als vorteilhaft bezeichnet, stößt auf breite Ablehnung. Das Phänomen führt dazu, dass viele Menschen kritische Äußerungen vermeiden.

Womit die Demokratie in der Demokratie in Frage gestellt wird. Die Freiheit kann nur bewahrt werden, wenn sich jeder und jede selbstbewusst artikuliert und sich namentlich deklariert. Nur dann herrscht ein Klima, in dem sich eine Diktatur von vornherein nicht entwickeln kann. Ist dies nicht der Fall entsteht, anfangs unbemerkt, eine Gesellschaft von Untertanen. Bei entsprechenden Rahmenbedingungen kann ein autoritärer Politiker die demokratischen Strukturen missbrauchen, um an die Macht zu gelangen. Die Gefahr wird deutlich, wenn, mit dem Hinweis auf das Recht auf freie Meinungsäußerung, suspekte Gruppen die Verherrlichung von Massenmorden betreiben und den Holocaust leugnen.

In China ist jedes Handy eine Außenstelle der Geheimpolizei

Zu beachten ist das Argument, wonach die Anonymität im Internet die Kritiker schützt. Dieser Einwand hat seine Berechtigung, berücksichtigt aber nicht, dass Kritik nur wirkt, wenn sie offen ausgesprochen wird. Auch der Hinweis, dass sich in den Diktaturen durch die Anonymität der Widerstand im Internet geschützt organisieren kann, ist nur bedingt richtig.

In China sind es die Machthaber, die das Internet und alle anderen Elemente der Digitalisierung zur Perfektionierung des Überwachungsstaates nützen. Das System funktioniert bereits so perfekt, dass heute nicht einmal mehr die Kontrolltürme in den Wohnzonen mit Wächtern besetzt sind. Jedes Handy, jeder Fernsehapparat, jedes Elektroauto ist eine Außenstelle der Geheimpolizei. Die Chefs der dominierenden Suchmaschine Google arrangieren sich zudem laufend mit den chinesischen Behörden, um auch diesen Milliardenmarkt bedienen zu können.

Kurzum, um die Demokratie zu bewahren, braucht es auch in der vermeintlich sicheren Gegenwart den revolutionären Geist der Vorfahren, die die Freiheit erkämpft haben. Wie sehr dieser Satz stimmt, kann man auch am Verhalten des Staates gegenüber dem Missbrauch des Internets ablesen. Die Politik schützt die Anonymität und darüber hinaus die Lücken in den Programmen, die zum Ausspionieren und Hacken der Nutzer verwendet werden, weil der Staat selbst als Hacker agiert. Es gibt keinen Computer, der vor der Finanz, der Polizei und der Justiz sicher ist.

Denunziantentum wurde als „Whistleblowing“ gesellschaftsfähig gemacht

In dieses Bild passt die bereits seit Jahren praktizierte Legalisierung des Denunziantentums. In einem Rechtsstaat, der diesen Namen verdient, wandern anonyme Anzeigen unbeachtet in den Papierkorb. In den vermeintlich rechtsstaatlichen, westlichen Demokratien hat sich unter der Bezeichnung „Whistleblowing“ das Gegenteil durchgesetzt.

Bei zahlreichen öffentlichen Stellen kann man anonym jede beliebige Behauptung über Nachbarn, Kollegen oder Fremde deponieren und in den meisten Fällen ist ein Polizist, ein Staatsanwalt, ein Finanzaufseher oder ein anderer Behördenvertreter prompt unterwegs und geht der Behauptung nach. Gerade werden die tatsächlichen oder vermeintlichen Energieverschwender angezeigt.

Das Abbild dieser Gesellschaft kann man im Straßenverkehr erkennen. Da toben rücksichtslose Raser auf Fahrrädern der verschiedensten Bauart über Gehsteige, rote Kreuzungen und kümmern sich generell nicht um Verkehrsregeln. Der Staat sieht wohlwollend zu, dass diese Gefährte ohne Nummernschilder zur Fahrerflucht einladen. Mehr noch: Fahrradfahrer sind eingeladen, gegen die Einbahnen zu fahren. Die vielen, kultivierten Fahrradfahrer fallen neben den aggressiven Rasern oft nicht auf. Die Verwandlung der Straßen zur freien Wildbahn wird als Lohn für den Beitrag der emissionsfrei fahrenden Verkehrsteilnehmer zum Umweltschutz verstanden. Ist der Beitrag zum Klima geringer, wenn ein Nummernschild auf dem Fahrrad klebt?

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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