Aus den deutschen Gewerkschaften kommt angesichts von Rezession und nachlassender Inflation deutliche Kritik am Zinskurs der Europäischen Zentralbank (EZB). "Die EZB sollte die Zinsschraube nicht überdrehen", sagte der Erste Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, am Mittwoch der Nachrichtenagentur Reuters. "Die Konjunktur ist in einer schwierigen Situation, die gestiegenen Zinsen haben bereits der Baukonjunktur einen Dämpfer verpasst." Höhere Kosten für Investitionen gefährdeten die notwendige sozial-ökologische Transformation der Industrie. "Weitere Zinsschritte sind auch für die Bekämpfung der Inflation wenig hilfreich." Die aktuelle Teuerung habe ihre Ursachen in extrem gestiegenen Energie- und Rohstoffpreisen und deren Weitergabe in den Erzeugerpreisen. Somit sei hier der Einfluss der Geldpolitik "sehr begrenzt".
Ähnlich sieht das der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). "Wir warnen die EZB vor weiteren Zinserhöhungen", sagte deren Vorstandsmitglied Stefan Körzell. "Höhere Zinsen bremsen die Nachfrage und die Wirtschaft aus, treiben Deutschland unnötig in eine Rezession."
Europas größte Volkswirtschaft ist zuletzt zwei Quartale in Folge geschrumpft und könnte sich einigen Ökonomen zufolge auch im Gesamtjahr 2023 negativ entwickeln. Dennoch gehen die meisten Experten davon aus, dass die EZB ihren Leitzins am Donnerstag erneut hochsetzen wird - von 3,75 auf 4,00 Prozent. Sie will damit die Inflation eindämmen. In Deutschland sind die Verbraucherpreise im Mai um 6,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen - das ist die niedrigste Teuerungsrate seit mehr als einem Jahr, doch strebt die EZB im Euroraum einen Wert von zwei Prozent an.
"Die jüngsten Tarifabschlüsse der Gewerkschaften in Deutschland sind zwar gut ausgefallen, gefährden aber nicht das Preisstabilitätsziel der EZB", sagte DGB-Vorstand Körzell angesichts von Warnungen vor einer Lohn-Preis-Spirale. "Neuere Analysen zeigen vielmehr: Ein erheblicher Teil der Inflation geht aktuell auf den Profit-Hunger der Unternehmen zurück, die ihre Preise stärker anheben als es zur Kompensation höherer Kosten notwendig wäre." Der Staat sollte dieser Entwicklung etwa durch Übergewinnsteuern und ein starkes Kartellrecht frühzeitig einen Riegel vorschieben. "Weitere Zinsschritte sind in der aktuellen Situation besonders schädlich, weil auch die Regierungen in Deutschland und Europa zunehmend einen sparpolitischen Kurs einschlagen", sagte der Gewerkschafter. "Die deutsche Schuldenbremse wird wieder scharf gestellt, die europäischen Fiskalregeln sollen nächstes Jahr wieder in Kraft treten."
Das werde zu einer deutlichen Verschärfung der Finanzierungsbedingungen führen und die Investitionen belasten, sagte Körzell. Dabei sei aktuell eine deutliche Ausweitung von privaten und öffentlichen Investitionen notwendig, um den sozial-ökologischen Umbau zu finanzieren. "Setzt die EZB ihren geldpolitischen Kurs weiter fort, ist das also schlecht für Wirtschaft, Arbeitsplätze und Klima." (Reuters)