Der März des vergangenen Jahres ist den Rohstoffakteuren, welche mit dem Industriemetallsektor befasst sind, noch gut in Erinnerung. Seinerzeit geriet die traditionsreiche London Metal Exchange (LME) in die Schlagzeilen, als sie mit ihrem mehr als unkonventionellem agieren den vollkommen aus den Fugen geratenen Nickelmarkt zu beruhigen versuchte.
Nicht wenige der kleineren Marktteilnehmer gerieten in arge Bedrängnis als die Börse, immerhin ältester und neben New York (COMEX) und Singapur (SIMEX) zudem weltgrößter Markt für Kassa- und Termingeschäfte im Metallsektor, in einer beispiellosen Aktion Transaktionen im Umfang von gut 4 Mrd. Dollar rückabwickelte und den Nickelhandel dann für eine Woche komplett schloss. Ein bekannter Hedgefonds verklagte die Börse kurz darauf auf fast eine halbe Milliarde Dollar Schadenersatz.
Immerhin, und das muss man zugutehalten, blieb der Welt damit wohl ein neuerlicher „Lehman-Moment“ erspart, denn eigentlich ging es darum, im Hintergrund in Bedrängnis geratenen, durchaus namhaften, Investmentbanken den Rettungsring zuzuwerfen. Und kaum war Gras über diese Sache gewachsen, schockte die Börse die Rohstoffbranche erneut: statt Nickel belieferte sie Anfang diesen Jahres die Käufer des hochwertigen Metalls mit lackierten Steinen.
Die LME war Opfer eines groß angelegten Betruges geworden und sah sich zurecht mit der Frage konfrontiert, ob sie überhaupt in der Lage sei, die von ihr lizensierten Lagerhäuser zu überwachen und eine ordnungsgemäße Belieferung sicherzustellen. Aktuell brauen sich abermals dunkle Wolken über der Themse zusammen, allerdings ist der LME selbst in diesem Fall kaum ein Vorwurf zu machen.
„Made in Russia“ - auch an der Börse Ladenhüter
Wenn auch der Ruf der geschichtsträchtigen Börse unter den chaotischen Geschehnissen der jüngeren Vergangenheit gelitten hat, für Metalle, wie zum Beispiel Zinn, Zink, Blei, Stahl oder Aluminium setzt sie nach wie vor die Benchmark-Preise und ist damit für den Welthandel unersetzlich. Jedoch bei letzterem, Aluminium, drohen nun Marktverwerfungen.
Anders als bei beispielsweise Erdöl, gibt es für Basismetalle aus russischer Produktion keine wesentlichen Sanktionen, die deren Einfuhr und Weiterverarbeitung für den Rest der Welt reglementieren würden. Dennoch haben sich nicht wenige Marktteilnehmer freiwillig Beschränkungen auferlegt und lehnen auch den Kauf russischer Mineralien ab. Dies wohl aus der Sorge heraus, später selbst keine Abnehmer mehr für das aus Russland importierte Metall finden zu können.
Da die Londoner Metallbörse den Handel und die Lagerung dieser Waren auf Grund fehlender Sanktionen auch nach Kriegsbeginn unvermindert zuließ, gelangte auch weiterhin russisches Aluminium in die Lagerhäuser - allerdings nicht mehr hinaus, dessen Lieferung wird von den Käufern zunehmend abgelehnt. Die Zunahme des russischen Anteils in den von der LME zertifizierten Depots liegt also nicht daran, dass auf einmal unverhältnismäßig mehr russisches Aluminium eingelagert werden würde, sondern, dass mehr Aluminium anderen Ursprungs ausgelagert wird und sich somit die Relation verschiebt.
Den jüngsten Daten der LME zufolge stieg der Anteil von russischem Aluminium an den dort registrierten Lagerbeständen im Mai auf bemerkenswerte 68 Prozent und hat sich damit im Monatsvergleich um 16 Prozentpunkte auf mehr als 263.000 Tonnen erhöht. Gleichzeitig wurde vor allem indisches Metall abgefragt, der Anteil in Indien produzierten Aluminiums nahm im gleichen Zeitraum von 46,5 Prozent auf 30 Prozent ab.
Benchmark-Funktion in Gefahr
Insbesondere Aluminium wird auf dem Weltmarkt immer wichtiger, handelt es sich dabei doch, neben Kupfer und Eisenerz, um das Metall mit den meisten Anwendungsfällen in Bezug auf die globalen Dekarbonisierungsbemühungen. Auch ohnedies geben die großen Mengen russischen Aluminiums in den LME-Lagern der Branche erheblichen Anlass zur Sorge, da sie die Preisbildung an der Börse, die als Benchmark für Verträge zwischen Produzenten, Händlern und Endkunden dient, verzerren könnten.
Dieses Problem wurde schon vor geraumer Zeit erkannt. Bereits im vergangenen Jahr haben eine Reihe westlicher Händler die Londoner Börse aufgefordert, die Lieferung von Metall russischen Ursprungs zu untersagen, jedoch ohne Erfolg. Dass deren Sorgen durchaus berechtigt waren, zeichnet sich nun ab. Während die Aluminiumpreise in den letzten Monaten aufgrund von globalen Rezessionssorgen gesunken sind, haben sich führende Handelshäuser einen regelrechten Kampf um die relativ knappen nicht-russischen physischen Bestände geliefert, in der Erwartung, dass sich dieser Markt schnell verengen könnte.
Wenn große Mengen unerwünschter russischer Lieferungen an der Börse stranden, besteht das Risiko, dass der Benchmark-Preis verzerrt und nicht mehr synchron mit dem Rest des Marktes gehandelt wird. Eines jener großen Handelshäuser, die zur chinesischen CMC Group gehörende IXM, hatte im Mai eine marktbeherrschende Stellung bei Aluminium aufgebaut, und nun damit begonnen, einen Teil des Metalls abzunehmen.
In Russland produzierte Lieferungen lehnt der Händler jedoch ab. Für die LME bedeutet diese Entwicklung eine zunehmende Abhängigkeit von russischem Material, welches sich als immer schwerer absetzbar zeigt. Es ist bereits absehbar, dass sich die zukünftigen Abnehmer nur noch aus einer kleine Gruppe nicht-westlicher Händler und Weiterverarbeiter bestehen wird. Damit dürfte es auch nur noch eine Frage der Zeit sein, bis ein in solcher Weise auseinander driftender Markt seine Benchmark-Funktion verliert.