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Xi Jinpings Herrschaft – Ende des Dialogs?

Lesezeit: 15 min
03.07.2023 09:48  Aktualisiert: 03.07.2023 09:48
Xi Jinpings Herrschaft hat China grundlegend verändert, sagt der Direktor des Zentrums für US-chinesische Beziehungen der Asia Society, Orville Schell. Mit dem Westen bahne sich eine Konfrontation an, der Ton habe sich verschärft.
Xi Jinpings Herrschaft – Ende des Dialogs?
Xi Jinping (r), Präsident von China, empfängt Bill Gates, Co-Vorsitzenden der Bill & Melinda Gates Foundation. (Foto: dpa)

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Orville Schell ist Direktor des Zentrums für US-chinesische Beziehungen der Asia Society und ein langjähriger Chronist Chinas, der die Entwicklung des Landes seit den Tagen Mao Zedongs aufs Engste verfolgt. Hier spricht er mit der polnischen Historikerin und ehemaligen Dissidentin Irena Grudzińska Gross über Präsident Xi Jinpings Herrschaft mit zunehmend eiserner Faust, Chinas Rückfall in den maoistischen Absolutismus zu Hause und seine nationalistische Aggression gegenüber dem Ausland.

Irena Grudzińska Gross: Jeder Tag scheint neue Entwicklungen zu bringen, die auf eine Abwärtsspirale in den US-chinesischen Beziehungen hindeuten.

Orville Schell: Ja. Und was die Sache noch nervenaufreibender macht: Xi Jinping ist gerade von einem dreitägigen Staatsbesuch in Moskau zurückgekehrt, wo er Präsident Wladimir Putin und andere leitende russische Regierungsvertreter traf. Laut Pekings Chefdiplomat Wang Yi besteht Chinas Ziel darin, „unsere umfassende strategische Partnerschaft [derart] zu stärken“, dass sie „allen Belastungsproben standhalten“ kann.

Natürlich also fühlen sich die USA und ihre demokratischen Verbündeten bedroht, und das nicht nur durch Russlands und Chinas Aggressivität, sondern auch durch die von ihnen geschmiedete unheilige Allianz mit den Autokraten im Iran, Syrien, Belarus und Nordkorea. Es überrascht also nicht besonders, dass die USA und ihre Verbündeten aktiv mobil machen, um eine wirksamere kollektive Abschreckung zu schaffen, was wiederum dazu führt, dass Russland sich noch stärker abgelehnt und ausgeschlossen fühlt und China sich noch stärker durch diese aus seiner Sicht grundlose Containment-Politik der letzten Zeit bedroht fühlt.

Anfang dieses Jahres – gerade als US-Außenminister Antony Blinken seinen damaligen Amtskollegen Wang Yi treffen wollte, um eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zwischen beiden Ländern zu stoppen – tauchte am Himmel über Alaska ein riesiger chinesischer Ballon auf, und Blinken sagte seine Reise ab. Damit war unglücklicherweise die Chance zum Versuch einer Stabilisierung der bilateralen Beziehungen vertan. Seitdem hat sich das gegenseitige Misstrauen fast täglich verstärkt. Angesichts der stetigen Annäherung Chinas an Russland spaltet sich die Welt derzeit immer schneller in zwei einander zunehmend feindselig gegenüberstehende ideologische Blöcke.

Während Russland weiterhin die Zivilbevölkerung in der Ukraine attackiert, hat der Kreml eine Parade zwielichter Autokraten bei sich begrüßt – vom weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko über den Direktor der Zentralen Kommission für Auswärtige Angelegenheiten der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) bis hin jetzt zum chinesischen Präsidenten Xi Jinping selbst. Als wollte er damit mögliche noch verbleibende Zweifel über Chinas Haltung ausräumen, hat Xi am 6. März die USA in einer Rede vor dem Nationalen Volkskongress Chinas öffentlich angegriffen und erklärt: „Die westlichen Länder haben, angeführt von den USA, eine umfassende Eindämmung, Einkreisung und Unterdrückung Chinas umgesetzt.“ Dass er die USA dabei namentlich erwähnte, war neu für ihn.

Chinas neuer Außenminister Qin Gang hat die Temperatur noch weiter erhöht, indem er die USA eines „hysterischen Neo-McCarthyismus“ beschuldigte, der beide Länder auf einen Kurs „des Konflikts und der Konfrontation“ geführt habe. Und schließlich pries Putin, als Xi am 10. März eine dritte Amtszeit erhielt, diesen für seinen „persönlichen Beitrag“ zur Stärkung der „umfassenden Partnerschaft“ zwischen beiden Ländern. Putin erwartet nun eine sogar „noch fruchtbarere russisch-chinesische Zusammenarbeit“.

Verkürzt gesagt: Wir scheinen unwiderruflich auf eine Vertiefung der Feindseligkeiten zuzusteuern. Angesichts dieser neuen, auf den Kalten Krieg folgenden Blockbildung, bei der jede Seite der anderen die Schuld für den Zusammenbruch der Beziehungen gibt, ist zunehmend schwer absehbar, wo das alles hinführen soll.

Der COVID-Fehler

IGG: Diese Spirale scheint sich Ende letzten Jahres beschleunigt zu haben, etwa zu dem Zeitpunkt, als Xi über Nacht seine „Null-COVID-Politik“ aufhob. Was ist da passiert?

OS: Auch das war für diejenigen unter uns, die das Geschehen in China schon lange verfolgen, beispiellos und nahezu unvorstellbar. Nach so vielen Jahren einer zentralisierten Führung Xis und der erfolgreichen Wiederbelebung der KPCh als alles durchdringende, ganz China netzartig überziehende Kraft sind wir es gewohnt, dass jede Art des Dissens sofort erstickt wird. Xis Furcht vor einer unkontrollierbaren Pandemie (und Chinas nur begrenzt wirksame Impfstoffe) führten ihn dazu, seine drakonische Null-COVID-Politik aufrechtzuerhalten und allen Städten, Fabriken oder Dörfern, die irgendwelche Anzeichen einer Infektion erkennen ließen, einen Lockdown aufzuzwingen.

Aber dann brachen Demonstrationen gegen diese beispiellosen Kontrollmaßnahmen aus, und diese Proteste weiteten sich rasch aus und gewannen eine stärker politische Qualität. Einige Demonstranten griffen sogar die Partei und den Staat an. Das verschaffte der Außenwelt einen kleinen Einblick, wie es unter der manikürten Oberfläche des öffentlichen Diskurses in China aussieht. Obwohl wir sie nicht immer sehen, gibt es eine Menge unterdrückter Kritik.

IGG: Hatte Xi wirklich Angst vor COVID-19, oder war die Pandemie eher ein Vorwand, um die Kontrolle über die Gesellschaft zu verschärfen?

OS: Xi hat die Pandemie geschickt genutzt, um neue Arten der Überwachung und Kontrolle zu erproben und umzusetzen. Die wahre Frage ist daher, warum er so fixiert auf „Kontrolle“ ist.

Er ist als moderner chinesischer Führer eine etwas überraschende Anomalie. Sein Vater und seine Familie wurden während der Kulturrevolution verfolgt, und auch er selbst wurde für sieben Jahre in einen sehr armen Teil des Landes verschickt. Alledem zum Trotz hat er während der 1960er und 1970er Jahre vom politischen Quell der Kulturrevolution Maos getrunken. Dies waren seine prägenden Jahre, in denen er das Instrumentarium erwarb, das er später zuerst als Provinzpolitiker und dann als Überragender Führer der Volksrepublik nutzen sollte.

Anders als viele andere frühere chinesische Führer, die Zeit im Ausland – in Russland, Europa oder anderswo – verbrachten, hat Xi, wie Mao, China nie für längere Zeit verlassen. Er verbrachte also die Kulturrevolution damit, zu lernen, wie man in der maoistischen Welt kämpfte, überlebte und siegte.

Nach so vielen Jahrzehnten der Reformen und der Öffnung, die mit Deng Xiaoping begannen, erleben wir nun, wie Xi China wieder in die Vergangenheit zurückführt: in eine staatliche Politik, die eher maoistisch als republikanisch ist. Es ist, als werde man Zeuge, wie irgendein rezessives leninistisches Gen, von dem wir dachten, dass es in der chinesischen Politik nie wieder Ausdruck finden würde, erneut hervortritt. Weil Xi glaubt, dass sich China in einer von Grund auf feindseligen politischen Beziehung zu den USA und dem Westen befindet, ist er fest entschlossen, Chinas Eigenständigkeit zu fördern und sogar zu einem etwas an die maoistische Autarkie erinnernden Zustand zurückzukehren. Die Hoffnung, dass sich China durch „Dialog“ zu einem verantwortungsbewussten globalen Stakeholder entwickeln könnte, ist Geschichte. Xi hatte andere Vorstellungen, und jetzt erleben wir Divergenz statt Konvergenz.

IGG: Warum hat Xi die Null-COVID-Politik zu dem Zeitpunkt beendet, an dem er das tat?

OS: Es sah zunächst aus, als würde Xi mit seinem Kampf gegen COVID-19 Erfolg haben. Die Entwicklung schien in China besser zu verlaufen als im Westen, sowohl was die Infektionszahlen anging als auch wirtschaftlich. Die Behörden schotteten die Fabriken ab – indem sie faktisch Blasen um sie herum schufen –, sodass die Arbeiter weiterarbeiten konnten (und nicht nach Hause gehen konnten). Parteivertreter überwachten die Arbeiter sehr sorgfältig, isolierten alle Infizierten und hielten die chinesischen Lieferketten einigermaßen im Gange.

Wir im Westen erlebten derweil eine gewisse Unordnung, weil wir keine derart in sich schlüssige und disziplinierte Politik hatten. Wir erfühlten unseren Weg im Dunkeln, was viele dazu führte, unsere Reaktion auf die Pandemie als chaotisches Durcheinander zu betrachten.

Inzwischen jedoch sehen wir, dass die Desorganisation des Westens es diesem letztlich ermöglichte, eine größere Herdenimmunität zu erreichen und so sowohl die Pandemie als auch die Rückkehr zum normalen Leben auf weniger disruptive Weise zu bewältigen.

Letztlich entwickelte sich Chinas Erfolgsstory im Bereich der öffentlichen Gesundheit zum politischen Fehlschlag. Die Leute in den weißen Schutzanzügen – die alle testeten und einige impften –, wurden zunehmend mit der Polizei und einem repressiven Staat in Verbindung gebracht. Wer versuchte, aus seiner Fabrik zu fliehen, seine Wohnung zu verlassen oder zu protestieren, wurde zusammengeschlagen. Doch nachdem sie monatelang von ihren Familien, von Geschäften und dem normalen Leben abgeschnitten waren, begannen immer mehr Chinesen, ihrem Ärger auf den Staat Luft zu machen, und diese Wut über Xis COVID-Überreaktion begann, sich mit anderen latenten Quellen der Unzufriedenheit zu vermischen.

Schließlich hatte Xi auch die Kontrolle über die Universitäten, die Medien, Reisen, Kultur und praktisch alle übrigen Aspekte des Lebens verschärft. Eine Zeitlang ermöglichte die Pandemie es ihm, diese sich abzeichnende Unzufriedenheit durch Entwicklung eines beispiellosen Überwachungssystems unter Kontrolle zu halten. Während Null-COVID nun vorbei ist, werden diese neuen Mechanismen staatlicher Kontrolle fortbestehen. Tatsächlich bringen sie bereits einige Elemente der Gesellschaft gegen sich auf.

Mit gefletschten Zähnen

IGG: Bestehen noch Aussichten auf eine Zusammenarbeit oder einen Dialog Chinas mit den USA und Europa?

OS: Während der letzten Jahrzehnte hat sich die Weltwirtschaft sehr rasch entwickelt. Das führte zu einer Situation, in der alle zu profitieren schienen. Die Annahme war, dass, solange der „Dialog“ mit China fortbestünde, die Volksrepublik stärker in den internationalen Markt eingebunden und den demokratischen politischen Systemen weniger feindselig gegenüberstehen würde.

Wir wussten, dass China sich nicht über Nacht oder völlig ändern würde. Doch waren Richtung und Tempo der Reformen ausreichend ermutigend, um das weltweite Angebot des „Dialogs“ aufrechtzuerhalten. Wir wussten auch, dass China und die USA stärker voneinander abhängig werden würden, aber wir betrachteten das nicht als Gefahr, solange China mehr oder weniger freundlich war, die Lieferketten arbeiteten und das globalisierte Marktsystem weiter funktionierte.

Letztlich gerieten die USA im Bereich des Handels in eine massive Abhängigkeit von China, insbesondere bei Industrieprodukten, seltenen Erden, Polysilizium, Lithium, Kobalt, bestimmten pharmazeutischen Produkten und sogar in einigen Technologiesektoren. Im Falle der Mikrochips, die einst in den USA entwickelt und produziert wurden, begannen wir, den Prozess des „Fabbings“ nach Taiwan, Südkorea und sogar China auszulagern. Dasselbe galt zunehmend für viele weitere Waren, die anderswo billiger produziert werden konnten, weil die Unternehmen ihre Kosten senken und keine großen, teuren Lagerbestände vorhalten wollten. Infolgedessen sind wir, was wichtige Elemente unserer Lieferketten angeht, nun stark von China abhängig.

Doch dann änderte Xi die chinesische Außenpolitik und nahm eine sehr aggressive und tyrannische Haltung ein, die ein Land nach dem anderen verprellte. Das begann 2017 mit der Strafdiplomatie gegenüber Südkorea in Reaktion auf Südkoreas Entscheidung zur Stationierung eines US-Raketenabwehrsystems (THAAD) zur Verteidigung gegen Nordkorea. Chinesische Regierungsvertreter machten daraufhin geltend, dass das System genutzt werden könne, um China zu überwachen; daher begann Xis Regierung, um ihren Nachbarn zu bestrafen, Flüge zu streichen, dutzende koreanischer Kaufhäuser in China zu schließen, K-Pop und andere Kulturimporte zu blockieren und insbesondere den enormen Strom chinesischer Touristen nach Südkorea zu stoppen. Die Koreaner waren also die Ersten, die die volle Wucht dessen erlebten, was die Chinesen als „Wolfskrieger-Diplomatie“ bezeichnen.

IGG: Erzählen Sie uns mehr über dieses Konzept.

OS: Als Xi zu der Überzeugung gelangte, dass sich China im Aufstieg befände (und der Westen im Niedergang) – dass „sich der Ostwind gegenüber dem Westwind durchsetzt“ –, begann er, andere verstärkt Chinas Gewicht spüren zu lassen und ihnen zuzufügen, was China selbst in vergangenen Jahrhunderten vonseiten der „Großmächte“ widerfahren war. In China waren damals zufällig gerade zwei Filme über einen mächtigen Krieger herausgekommen, der sich weigerte, irgendeine Kränkung hinzunehmen – egal von wem, aber insbesondere von Ausländern. Xi machte diese unbußfertige Aggressivität zum Markenzeichen eines neuen außenpolitischen Stils, der den neuen Reichtum und die neue Macht Chinas verdeutlichen sollte.

Doch führte diese neue Haltung auch dazu, dass China Anstoß an mehr und mehr Aussagen und Handlungen westlicher Mächte und anderer nahm, egal, ob Japan, Südkorea, Australien oder Indien. Wenn irgendeine dieser Regierungen China beleidigte, folgte daraus, dass sie abgestraft werden musste. Die Entwicklung Chinas verlief nicht mehr länger unter dem Banner eines „friedlichen Aufstiegs“. Stattdessen wurde die chinesische Außenpolitik zunehmend streitbarer, wobei Macht als die Fähigkeit verstanden wurde, an allen, die als Gegner betrachtet wurden, Vergeltung zu üben.

Als nun immer mehr Länder die „Wolfskrieger“-Behandlung zu spüren bekamen, begannen deren führende Politiker, Chinas vorgebliche Freundlichkeit infrage zu stellen. Nach Südkorea wurde Kanada für seine Rolle bei der Verhaftung von Meng Wanzhou, der Tochter des Huawei-Gründers, wegen des Vorwurfs des Verstoßes gegen Iransanktionen abgestraft. Zur Vergeltung inhaftierten die Chinesen unter fadenscheinigen Vorwürfen zwei Kanadier für fast drei Jahre. Dann war da Australien, dessen Verbrechen darin bestand, sich für eine gründliche Untersuchung der Ursprünge von COVID-19 auszusprechen. China strafte die Australier dafür ab, indem es seine Gerste-, Hummer-, Rindfleisch- und Weinimporte aussetzte.

Darüber hinaus griff China ohne erkennbaren Grund Indien an. Obwohl die beiden Länder seit 1962 keinen echten Krieg im Himalaja geführt hatten, begann China unverständlicherweise, indische Soldaten in der Region Ladakh herauszufordern. Indien war von dieser Aggression derart verärgert, dass es dem Quadrilateralen Sicherheitsdialog beitrat – einer neuen indopazifischen Partnerschaft mit Australien, Japan und den USA.

China stieß zudem rücksichtslos andere Länder wie Schweden, die Tschechische Republik und Litauen vor den Kopf und verhängte willkürliche Sanktionen gegen Europaabgeordnete, d. h., es beleidigte ganz Europa. Xis scharfes Vorgehen im Inland fand sein Spiegelbild in einem rigorosen Vorgehen gegenüber dem Ausland.

IGG: Man sollte das überhaupt nicht als Diplomatie bezeichnen, oder?

OS: Nein. Es war sehr kontraproduktiv. China verärgerte andere Länder ohne erkennbaren Grund, von einem Bedürfnis Xis abgesehen, andere das wirtschaftliche und politische Gewicht seines Landes spüren zu lassen. Während diese Tendenz bereits vor Xis Aufstieg erkennbar war (man erinnere sich, dass China, als Liu Xiaobo 2010 den Friedensnobelpreis erhielt, seine Lachsimporte aus Norwegen einstellte), erhob Xi dies auf ein völlig neues Niveau.

Entsprechend streitlustiger wurde China auch im Süd- und Ostchinesischen Meer. Es errichtete und militarisierte Inseln und beanspruchte eine der meistbefahrenen Seeschifffahrtsrouten als sein Eigentum. Der nächste Angriff erfolgte auf Hongkong. Unter Verstoß gegen die Vereinbarungen der Übergabe des Gebiets durch Großbritannien 1997 beendete China faktisch die Autonomie der Stadt und ging rücksichtslos gegen Hongkongs freie Presse, sein Wahlsystem und seine Regeln zum Schutz der Menschenrechte und der Freiheit der Wissenschaften vor.

Danach wandte sich Xi der Straße von Taiwan zu. Er verstärkte seine streitlustige Rhetorik und verkündete, dass Taiwan „eher früher als später“ Teil Chinas werden müsse. China würde nicht vor dem Einsatz militärischer Gewalt zurückschrecken, falls diese zur „Wiedervereinigung“ erforderlich sei. Und schließlich hat China seine Ansprüche auf verschiedene Inseln südlich von Okinawa forciert, obwohl diese seit langem von Japan verwaltet werden.

Wir haben es hier also mit territorialen Ansprüchen gegenüber einer ganzen Palette von Ländern zu tun – von Japan, Taiwan und Vietnam über Malaysia und Brunei bis hin zu den Philippinen. Chinas Ansatz hat die Politiker in Washington und nun auch in Europa dazu geführt, das Land zunehmend als disruptive und destabilisierende Kraft zu betrachten.

Ein-Mann-Partei

IGG: Wann und warum hat Chinas „friedlicher Aufstieg“ zunehmenden Spannungen Platz gemacht?

OS: Das begann, wie schon gesagt, bevor Xi an die Macht kam, nämlich unter dem vorherigen KPCh-Generalsekretär Hu Jintao. Hu war es, der begann, das Thema Südchinesisches Meer zu forcieren. Doch als Xi 2012/13 an die Macht kam, begann er sofort, die von China ausgebauten Inseln zu militarisieren, obwohl er US-Präsident Barack Obama zugesagt hatte, ebendas nicht zu tun.

Und um es noch einmal zu sagen: Es war Xis Aggressivität, die dazu führte, dass der „Dialog“ für die USA oder den Westens nicht mehr tragfähig war. Er war es, der Regierungen weltweit zwang, zu überlegen, ob sie, insbesondere was den Technologiesektor und andere Branchen mit militärischer Bedeutung angeht, zu sehr von China abhängig seien. Immer mehr Länder fragen sich, ob sie sich in Bezug auf seltene Erden, Lithium, Kobalt und bestimmte Mikrochips von China abhängig machen wollen. Die Antwort lautet natürlich nein.

Das ist der Grund, warum die USA 2022 den CHIPS and Science Act verabschiedeten und den Verkauf bestimmter Arten von geistigem Eigentum, Mikrochips und Maschinen zur Chipfertigung an China beschränkten sowie allen US-Bürgern und Greencard-Inhabern gesetzlich untersagten, für bestimmte chinesische Technologieunternehmen zu arbeiten. Die US-Strategen fürchten, dass China unsere Technologie und unser geistiges Eigentum nicht nur nutzen wird, um mit uns in Wettbewerb zu treten, sondern um Krieg gegen uns zu führen. Das ist leider gegenwärtig der Stand der Dinge. Die Beziehung ist heute viel feindseliger, und sie wurzelt in einer Divergenz zwischen grundverschiedenen politischen Systemen. Daher steht im Kern der Beziehung zwischen China und dem Westen nun die Aussicht auf eine stärkere Entkoppelung.

IGG: Glauben Sie, dass Xi, nun da er sich seine gegen bisherige Normen verstoßende dritte Amtszeit gesichert hat, die Risiken erkennt, sich zu überheben?

OS: Während ich persönlich glaube, dass Xi sich übernimmt, sehe ich kaum Anzeichen dafür, dass er selbst die Gefahr erkennt, in die er sein Land und die Welt bringt. Er ähnelt dem Helden der griechischen Tragödie, der ungehemmter Hybris anheimfällt. Er wird weiter immer mehr Macht anhäufen, genau wie Mao das tat.

Mao war „Vorsitzender“ der Partei bis zu seinem Tod. Doch als Deng 1978 an die Macht kam, verzichtete er auf diesen Titel und legte neue Führungsregeln fest, die vorschrieben, dass jeder Parteisekretär nur zwei Amtszeiten von insgesamt zehn Jahren amtieren solle. Xi jedoch – der erste nicht von Deng ernannte Generalsekretär der Partei – änderte die Regeln, um sowohl als Generalsekretär als auch als Präsident mehr als zwei Amtszeiten zu haben und potenziell bis an sein Lebensende zu herrschen. (Der Titel „Präsident“ ist in Wahrheit relativ belanglos; die wichtige Position ist die des Generalsekretärs der Partei.)

Natürlich dachten zu Beginn seiner ersten Amtszeit (2012) viele, darunter auch ich, dass sich Xi aufgrund der Geschichte seines Vaters als verfolgter altgedienter Revolutionär als ein Reformer wie Deng erweisen könnte. Doch das war nicht der Fall.

Nun, da Xi seine dritte Amtszeit hat, wird er sich vermutlich auch eine vierte Amtszeit sichern. Es ist auffällig, dass er sich bisher nicht die Mühe gemacht hat, einen Nachfolger zu ernennen, obwohl diese normalerweise ein paar Jahre vor Ende der zweiten Amtszeit bestimmt werden. Das hätte Xi zur „lahmen Ente“ gemacht, was für jemanden, dem Macht alles bedeutet, nicht hinnehmbar ist. Weil Xi jedes Zeichen von Schwäche zu vermeiden sucht, wird er nicht zulassen, dass jemand anders dem Zepter der Macht nahekommt.

IGG: Gibt es irgendwelche Anzeichen einer internen Opposition?

OS: Nun ja, die jüngste „Weiße-Blätter-Revolution“, die sich gegen Xis Null-COVID-Politik wandte, zeigte eine gewisse Unzufriedenheit mit den extremen Kontrollen auf. Doch indem er – unter anderem durch seine Kampagne gegen die Korruption – die Macht in seinen Händen vereint hat, hat Xi die politische Landschaft derart von möglichen Rivalen gesäubert, dass es keine offenen Anzeichen für eine Grüppchenbildung innerhalb der Führung oder eine Opposition innerhalb der Partei selbst gibt. Xi hat die Zentrale Disziplinarkommission der Partei genutzt, um potenzielle Abweichler einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen.

Die KPCh hat fast 100 Millionen Mitglieder, aber Zehntausende davon sitzen inzwischen im Gefängnis. Xi hat nicht nur die einsperren lassen, die korrupt waren, sondern auch jene, die ihm Widerstand leisten könnten. Damit hat er sich freilich viele Feinde gemacht – und diese Feinde haben natürlich Freunde. Obwohl sie nicht die Möglichkeit haben, sich öffentlich zu organisieren oder zu äußern, können wir sicher sein, dass es eine Menge latenter Unzufriedenheit gibt. Innerhalb einiger Gruppen werden sicher schon die Messer für Xi gewetzt.

Was die Welt sieht

IGG: Wie interpretieren Sie die Szene vom 20. Parteikongress im letzten Herbst, als Hu ziemlich ehrfurchtslos aus dem Saal eskortiert wurde?

OS: Was diese Szene so seltsam machte, war, dass wir bei einem Kongress der KPCh noch nie derart unverhohlene Anzeichen der Unordnung oder gar der Opposition in Presse oder Fernsehen erlebt haben. Hu – Xis Amtsvorgänger als Generalsekretär, der seinen Posten nach zwei Amtszeiten in geordneter Manier aufgegeben hatte – sollte eigentlich auf der Bühne sitzen. Das war immer ein durch und durch nach Drehbuch ablaufendes, hochgradig reglementiertes Spektakel. Doch aus Gründen, die wir noch immer nicht ganz verstehen, wurde er hinausgeführt.

Vielleicht ist er dement – er sah ziemlich verloren aus. Oder vielleicht wurde er hinausgeführt, weil Xi fürchtete, er könne irgendeine Art peinlichen Protest veranstalten. Hu versuchte mehrfach, eine rote Mappe auf dem Podium zu greifen. Vielleicht war Xi besorgt, dass Hu die Liste für den Ständigen Ausschuss des Politbüros sehen und erkennen würde, dass all seine Leute kaltgestellt worden waren. Das Einzige, was wir wirklich wissen, ist, dass etwas im offiziellen Drehbuch nicht Vorgesehenes passiert ist. Für eine Partei, die schon immer allergisch gegen alles Spontane war, war es ein faszinierender Moment.

IGG: Aber alle saßen so ruhig da …

OS: Ich vermute, sie waren alle total verschreckt. Niemand wollte anerkennen, was da vor sich ging, um ja vor Xi keine Majestätsbeleidigung zu begehen.

Also, wenn ich Xi wäre, ich wäre aufgestanden, hätte Hu umarmt, mir das Mikrofon gegriffen und der ganzen zombieartigen Ansammlung von Parteivertretern erklärt: „Lasst uns Kamerad Hu für seine großen Verdienste an der Nation danken. Ihm ist unwohl, und er muss sich etwas ausruhen.“ Dann hätten sie ihn respektvoll aus dem Saal eskortieren können. Aber nein! Er wurde ohne Sinn für Dekorum hinausgedrängt, und seine früheren Kollegen saßen einfach nur da, wie Roboter, und taten nichts. Dieses kleine Drama sagt eine Menge darüber aus, wie das chinesische System funktioniert.

IGG: Würden Sie Xis Technoautokratie als neokommunistisches System bezeichnen?

OS: Es ist fair, zu sagen, dass Mao tatsächlich eine Art „Marxist“ oder „Kommunist“ war. Er glaubte an den Klassenkampf, den Sturz der Bourgeoisie, die „Diktatur des Proletariats“ usw. Aber ich glaube, Xi ist ein reiner Leninist. Er strebt zu einem gewissen Grad danach, die Ungleichheit innerhalb der chinesischen Gesellschaft zu verringern, doch sein wahrer Fokus liegt auf der Stärkung des Reichtums und der Macht des Staates, und er betrachtet die Parteiorganisation als Schlüssel zu diesem Ziel. Auch Lenin war ein Partei-Aufbauer.

Nachdem Deng Ende der 1970er Jahre an die Macht kam, nahmen Standing und Macht der KPCh allmählich ab. Während der 1980er Jahre wurden sogar die Parteizellen aus den staatseigenen Unternehmen entfernt, und private Unternehmen waren im Wesentlichen frei von einer direkten Kontrolle durch die Partei. Xi jedoch hat dies rückgängig gemacht und erklärt: „Ost und West, Nord und Süd: Die Partei führt in allem.“ Er hat nicht nur in den staatlichen Unternehmen wieder Parteizellen installiert, sondern auch in den privaten. Und er hat die Parteistruktur nach klassisch leninistischem Muster wieder aufgebaut: als hochdisziplinierten, gut organisierten politischen Apparat, der zu Hause herrschen kann und zugleich zu steuern versucht, was im Ausland passiert.

Dies geschieht durch die finanziell enorm gut ausgestatteten und gut organisierten Einheitsfront-Organisationen, die nun die Aufgabe haben, „Chinas Geschichte gut zu erzählen“. Zu diesem Zweck haben sie enorme Mengen Geldes und massive institutionelle Kompetenzen erhalten – für die Auslandsarbeit durch die Medien, die Konfuzius-Institute, den Kulturaustausch, die Hochschulen, zivilgesellschaftliche Organisationen, Philanthropie und andere Kanäle. Alle diese Kanäle sind bestrebt, zu beeinflussen, wie China im Ausland wahrgenommen wird.

IGG: Die ausländische Meinung ist Xi also nach wie vor wichtig?

OS: Xi wünscht sich China als unabhängige Supermacht, aber er will auch Abhängigkeiten bei bestimmten ausländischen Unternehmen schaffen, damit er diese als Machtmittel gegenüber ihren Regierungen nutzen kann. Zudem hat er ein Vermögen für die Entwicklung der Neuen Seidenstraße ausgegeben – sein Vorzeigeprojekt, das die wirtschaftliche Abhängigkeit der Entwicklungsländer von China fördert, sodass diese bei den Vereinten Nationen mit der Volksrepublik stimmen und sie bei ihren zahllosen Streitigkeiten mit demokratischen Ländern unterstützen.

In letzter Zeit hat sich Xi auf westliche Investmentbanken konzentriert und diesen alle möglichen neuen Sonderrechte eingeräumt, damit sie Finanz- und Vermögensverwaltungsgesellschaften in China gründen. Einige Unternehmen haben den Köder geschluckt – trotz Chinas zunehmend feindseliger Beziehungen zu den USA.

Meine eigene Sicht ist: Egal, ob Sie von Blackstone oder Morgan Stanley sind, Sie müssen verblendet sein, wenn Sie nicht sehen, woher der Wind bläst. Trotz fortdauernder Abhängigkeit von China bei vielen Lieferketten sind vertiefte wirtschaftliche Verbindungen nicht in Sicht, weil eine derartige Co-Abhängigkeit inzwischen mit enormen geopolitischen Risiken verbunden ist. Es ist schwer vorstellbar, dass selbst Elon Musk, der mit seinem Tesla-Werk in China ein Vermögen gemacht hat, in der Lage sein wird, diesen Erfolg langfristig aufrechtzuerhalten. China will nun seine eigene Elektrofahrzeugindustrie aufbauen und will sich nicht mehr auf Musk stützen.

Der Wind bläst also immer stärker in Richtung Entkoppelung, auch wenn dieser Prozess weder einfach noch begrüßenswert ist. Zwar haben sich einige Unternehmen in den USA und anderen Ländern – wie etwa die Säulen der deutschen Autoindustrie – mit dieser neuen Realität noch nicht abgefunden. Unternehmensführer befassen sich nicht gern mit düsteren, disruptiven Szenarien. Doch sie brauchen bloß zu schauen, was in der Ukraine passiert ist. Wenn China gegen Taiwan vorgehen sollte, würde das die Folgen des Kriegs in Osteuropa wie ein Kinderspiel erscheinen lassen.

IGG: Wie meinen Sie das?

OS: Schauen Sie sich an, was Putin aus territorialem Groll gemacht hat. Er hat eine großmaßstäbliche Invasion gestartet. Wenn Unternehmen warten, bis China Taiwan angreift – oder bis irgendein militärischer Unfall im Südchinesischen Meer eintritt oder die Spannungen mit Japan über die Senkaku-Inseln aus dem Ruder laufen –, wird es zu spät sein, einen Plan B zu entwickeln. Diese Unternehmen laufen Gefahr, alles zu verlieren. Einige Wirtschaftslenker können immer noch nicht glauben, dass die Ära des „Dialogs“ vorbei ist und China letztlich in einen Konflikt mit den USA geraten könnte. Aber sie müssen aufwachen. Ich prognostiziere hier keinen Konflikt, doch lassen sich derartige Prognosen immer schwerer von der Hand weisen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2023.

www.project-syndicate.org

Orville Schell ist Vizepräsident und Direktor des Zentrums für US-chinesische Beziehungen der Asia Society. Irena Grudzińska Gross ist Professorin am Institut für slawische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften und Stipendiatin der Guggenheim-Stiftung des Jahres 2018.

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