Politik

Vierte Nacht mit Ausschreitungen in Frankreichs Großstädten

Die Ausschreitungen in Frankreich halten an. Bereits die vierte Nacht bringen jugendliche Migranten Chaos und Zerstörung in mehrere Großstädte. Der Innenminister schließt einen Notstand nicht mehr aus.
01.07.2023 13:51
Aktualisiert: 01.07.2023 13:51
Lesezeit: 3 min

In mehreren französischen Städten ist es die vierte Nacht in Folge zu Ausschreitungen gekommen. Mehr als 1300 Menschen seien festgenommen worden, teilte das Innenministerium am Samstag mit. Das Ausmaß der Gewalt sei aber geringer gewesen als in der Nacht zuvor, hieß es in dem vorläufigen Bericht. Ausgelöst wurden die Krawalle durch den Tod eines 17-Jährigen nordafrikanischer Abstammung, der am Dienstag von einem Polizisten bei einer Verkehrskontrolle erschossen wurde. An diesem Samstag soll Nahel M. in seinem Heimatort Nanterre, einem Vorort von Paris, beigesetzt werden. Die Straßen zum Friedhof sollen abgesperrt werden.

In Nanterre fuhren am Vormittag keine Busse. Es war ruhig. Eine Gruppe von etwa 30 jungen Männern hielt Wache am Eingang des Bestattungsinstituts. Sie baten die Menschen, keine Fotos zu machen. Polizei war nicht zu sehen, als sich Trauernde in einer nahegelegenen Moschee versammelten. "Wir sind kein Teil der Familie und kannten Nahel nicht, aber wir waren sehr berührt von dem, was in unserer Stadt passiert ist", sagte einer der jungen Männer. "Deshalb wollten wir unser Beileid ausdrücken."

In der Nacht war es nicht nur in Paris zu heftigen Ausschreitungen gekommen, sondern auch in Marseille, Lyon, Toulouse, Straßburg und Lille. 45.000 Polizistinnen und Polizisten waren Innenminister Gerald Darmanin zufolge im ganzen Land im Einsatz, 5000 mehr als am Tag zuvor. Seit Beginn der Unruhen wurden mehr als 2000 Menschen in Gewahrsam genommen, Darmanin zufolge liegt ihr Durchschnittsalter bei 17 Jahren. 200 Polizisten wurden nach offiziellen Angaben verletzt. Schätzungsweise 2000 Fahrzeuge wurden in Brand gesteckt, mehrere Gebäude gingen in Flammen auf, Dutzende Geschäfte wurden geplündert.

WAFFENGESCHÄFT IN MARSEILLE GEPLÜNDERT

Allein in Marseille wurden nach offiziellen Angaben in der Nacht 80 Personen festgenommen. In Frankreichs zweitgrößter Stadt leben zahlreiche Menschen nordafrikanischer Herkunft. Bilder, die in den sozialen Medien verbreitet wurden, zeigten eine Explosion im alten Hafengebiet. Die Stadtverwaltung erklärte, die Ursache werde untersucht. Man gehe jedoch nicht davon aus, dass es Opfer gegeben habe. Im Zentrum der Stadt plünderten Randalierer ein Waffengeschäft und stahlen laut Polizei einige Jagdgewehre, jedoch keine Munition. Eine Person mit einem vermutlich gestohlenen Gewehr sei festgenommen worden, das Geschäft werde nun von der Polizei bewacht.

Der Bürgermeister von Marseille, Benoit Payan, rief die Regierung auf, umgehend zusätzliche Sicherheitskräfte zu schicken. "Die Plünderungs- und Gewaltszenen sind inakzeptabel", schrieb er Freitagnacht auf Twitter.

In Lille, Frankreichs drittgrößter Stadt, setzte die Polizei Schützenpanzerwagen und einen Hubschrauber ein. In Paris räumte die Polizei am Freitagabend die Place de la Concorde, den größten Platz der Hauptstadt. Dort hatten sich zahlreiche Menschen zu einer Protestkundgebung versammelt.

SCHWERSTE KRISE FÜR MACRON SEIT 2018

Der Gewaltausbruch hat Präsident Emmanuel Macron und seine Regierung in die schwerste Krise seit Beginn der Gelbwesten-Proteste im Jahr 2018 gestürzt. Die Verhängung des Notstandes hat Macron bislang nicht angeordnet - ausgeschlossen ist das Darmanin zufolge allerdings nicht. "Wir schließen keine Hypothese aus, und wir werden nach heute Abend sehen, wie sich der Präsident der Republik entscheidet", sagte er dem Sender TF1 am Freitagabend.

Viele Menschen aus armen Stadtvierteln, in denen Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft leben, fühlen sich benachteiligt und von der Regierung vernachlässigt. Seit langem häufen sich zudem Beschwerden über Polizeigewalt und Rassismus. Die Krawalle erinnern an die Straßenschlachten im Jahr 2005, die damals drei Wochen lang dauerten. Damals hatten sich in Paris zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei in einem Transformatorenhäuschen versteckt und kamen durch Stromschlag ums Leben. Präsident Jacques Chirac sah sich seinerzeit gezwungen, den Ausnahmezustand zu verhängen.

Nahel M., der marokkanische und algerische Wurzeln hat, wurde am Dienstag bei einer Verkehrskontrolle von einem Polizisten erschossen. Videoaufnahmen von dem Vorfall wurden in den sozialen Medien verbreitet. Der Polizist hat eingeräumt, den Schuss auf den Jugendlichen abgegeben zu haben, als dieser mit seinem Wagen trotz der Kontrolle weiterfuhr. Sein Anwalt Laurent-Franck Lienard sagte, sein Mandant habe auf das Bein des Fahrers gezielt, sei aber beim Anfahren des Autos angefahren worden, wodurch er in Richtung Brust geschossen habe. "Offensichtlich wollte er den Fahrer nicht töten", sagte Lienard im Fernsehsender BFM. Der Polizist ist in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts auf Totschlag.

Die regierungsnahe ungarische Tageszeitung Magyar Nemzet sieht in ihrem Kommentar vom Samstag einen Zusammenhang zur Migration. «An den Aufständen nehmen vor allem Anarchisten und eingewanderte Jugendliche teil. Seit vielen Jahren genügt jeweils eine einzige solche Entwicklung um dieses Land, das zur Einwanderungsgesellschaft wird, in Flammen aufgehen zu lassen.»

Weiter heißt es: «Brüssel will jetzt wieder, dass auch jene Länder wie das unsere, die keine Kolonien hatten, die nach Europa kommenden Migrantenmassen aufnehmen. Die Verbindung dieser Ankömmlinge zu uns wäre noch loser und immaterieller als jene eines im Übrigen auch französisch sprechenden Einwanderers aus dem Kamerun oder aus Algerien zu Frankreich. Wenn ein Land dazu (zur Aufnahme von Flüchtlingen) nicht bereit ist, muss es für jeden Migranten acht Millionen Forint (etwa 21 000 Euro) Strafe an die EU zahlen. Mit dieser Summe könnte man mehr ungarischen Lehrern jährlich die Gehälter erhöhen. Kein Wunder, dass unser Land und Warschau diese gemeinsame Schlusserklärung des Europäischen Rats nicht unterstützen.» (Reuters/dpa)

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