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Gefahr durch Pestizide: Schwere Vorwürfe gegen Bayer und Syngenta

Die beiden Agrochemiekonzerne müssen sich einer öffentlichen Anhörung im EU-Parlament stellen. Der Vorwurf: Sie hätten den EU-Behörden Studien zu Gesundheitsgefahren durch Pestizide vorenthalten. Eine schwedische Detail-Studie hat die europäischen Behörden aufschreckt.
22.07.2023 08:56
Aktualisiert: 22.07.2023 08:56
Lesezeit: 5 min
Gefahr durch Pestizide: Schwere Vorwürfe gegen Bayer und Syngenta
Bei der EU-Zulassung von Giftstoffen gibt es Grauzonen. (Foto:dpa) Foto: Julian Stratenschulte

Pestizide sind für Landwirte wichtig, um ihre Ernten zu sichern und vor Schädlingen zu schützen. Sie enthalten allerdings Substanzen, die Mensch und Natur erheblich schädigen können. Deshalb unterliegen sie in den USA und in Europa strengen Kontrollen und werden zunehmend restriktiv behandelt. Die großen Agrochemiekonzerne konzentrieren sich verstärkt auf den von laxeren Regeln geprägten globalen Süden, auf Asien, Lateinamerika und auch Afrika. Es ist ein Milliardengeschäft, für das sie jedoch offenbar auch in Europa Schlupflöcher finden. Denn die EU-Zulassungs-Regeln wurden erst 2019 verschärft. Zuvor setzten die Regulierungsbehörden vor allem auf Vertrauen in die Selbstverpflichtung der Hersteller-Konzerne. Eine jüngst veröffentliche Studie aus Schweden weckt Zweifel an diesem Ansatz.

Forscher am Institut für Umweltwissenschaften der Universität Stockholm hatten in einer Studie Tests auf eine bestimmte Art von Toxizität, die sogenannte Entwicklungsneurotoxizität (DNT), untersucht. Sie betrifft mögliche Störungen bei der Entwicklung der Gehirne bei Föten und Kindern. In ihrer Untersuchung verglichen sie, ob die der US-Umweltschutzbehörde (EPA) vorgelegten Studien auch bei den EU-Behörden eingereicht wurden.

Das Ergebnis: von 35 in Frage kommenden DNT-Studien wurden neun (26 Prozent) bei den EU-Behörden nicht eingereicht. Bei sieben dieser Studien hätten die Ergebnisse Auswirkungen auf die Zulassung der Pestizidwirkstoffe oder deren Verlängerung haben können. In drei der Fälle hat dies nun bereits zu einer Neubewertung der Pestizide durch die EU-Zulassungsbehörde geführt. In vier weiteren Fällen prüfen die Behörden noch, ob die Zulassung geändert werden muss.

Zulassungssystem der EU eines der strengsten der Welt

Alarmiert durch diese Erkenntnisse luden die Ausschüsse für Umwelt und Landwirtschaft deshalb Anfang der Woche zu einer öffentlichen Anhörung nach Brüssel und versammelten die Chefs aller mit der Zulassung von Pestiziden befassten EU-Behörden. Die schwedischen Studienleiter Axel Mie und Christina Rudén erläuterten ihre Ergebnisse und die dadurch auftretenden Fragen. Der Chef der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), Bernard Url, die Direktorin der Europäischen Chemikalien Agentur (ECHA), Dr. Sharon McGuinness, und die in der EU-Kommission für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit zuständige Claire Bury versuchten, die Rechtslage und mögliche Konsequenzen zu erklären. Die Position der Konzerne vertraten Dr. Cristina Alonso Alija, Bayers Chefin für Nachhaltigkeit, Sicherheit, Gesundheit und Umwelt, sowie Dr. Alexandra Brand, Regional Direktorin für Ernteschutz in Europa, Afrika und dem Nahen Osten der Syngenta Group.

Dabei ist das Zulassungssystem der EU eines der strengsten der Welt: Die Pestizidhersteller sind gesetzlich verpflichtet, ihren Dossiers für eine Zulassung von Giftstoffen oder deren Verlängerung sämtliche Studien zu ihren Produkten und deren Inhaltsstoffen hinzuzufügen. Das gilt selbst für bereits zugelassenen Pestizide und auch dann, wenn die Ergebnisse den Herstellern nicht bedeutsam erscheinen, denn in der Gesamtschau mit anderen Studien kann sich für die Zulassungsbehörde durchaus ein anderes Bild ergeben.

Das Problem dabei: Die Hersteller beauftragen ihre Studien selbst, so dass die Behörden nicht unbedingt von ihnen wissen. „Wenn Studien nicht eingereicht werden, werden die Entscheidungen der Behörden unzuverlässig“, warnte Axel Mie. Die neun von den Schweden untersuchten Substanzen waren teilweise zum Zeitpunkt der zurückgehaltenen Untersuchungen in Schweden bereits zugelassen. Die Hersteller hatten die schwedischen Behörden über den neuen Kenntnisstand nicht informiert. „Bei einem Stoff hat die fehlende Studie eine Neubewertung um ganze 18 Jahre verzögert“, berichtete Mie.

Einzelfälle oder nur die Spitze eines Eisbergs?

Die Parlamentarier reagierten empört. „Das Verhalten der Firmen ist völlig unakzeptabel. Wenn 25 Prozent der Studien nicht eingereicht werden, müssen wir das sehr ernst nehmen“, sagte die schwedische Abgeordnete Emma Wiesner (Renew). „Wir reden hier über einen handfesten Skandal“, so der deutsche Agrarexperte Martin Häusling (Grüne). „Hier wurden Regeln gebrochen, ohne dass das Konsequenzen hat. Sprechen wir hier von einem Einzelfall oder ist das nur die Spitze des Eisbergs?“

Axel Mie vermutet Letzteres: „Es gibt Tausende von Studien zu Pestiziden, wir haben nur einen ganz kleinen Teil davon in einem Spezialgebiet untersucht“, sagte er. „Ob das Ergebnis nur die Spitze des Eisbergs ist, weiß ich nicht. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, dass das Einzelfälle sind. Das sollte beobachtet werden.“ Deshalb empfehlen die schwedischen Autoren den EU-Behörden, ebenfalls internationale Vergleiche mit anderen Zulassungsbehörden anzustrengen. Außerdem sollten die Regeln geändert und künftige Studien von den Behörden selbst und nicht mehr von den Produzenten beauftragt werden. Die Agrochemie-Konzerne müssten zudem im Falle einer Verheimlichung ihrer Studien hart bestraft werden.

Konzerne weisen Vorwürfe zurück

Dass es zu solch weitreichenden Konsequenzen kommt, ist allerdings unwahrscheinlich. Bayer und Syngenta jedenfalls streiten jeden Vorsatz, Studien verheimlicht zu haben, ab: „Wir haben immer verantwortlich gehandelt und alle Daten eingereicht. Sicherheit war immer unsere erste Priorität“, sagte Bayer-Vertreterin Cristina Alonso Alija. „Wir haben uns immer an die zur Zeit unserer Studien geltenden Regeln gehalten“. Die Offenlegung ihrer Studien sei schließlich die Basis für das Vertrauen in ihre Industrie.

Auch Alexandra Brand weist für die Syngenta Gruppe die Darstellung der Studienleiter entschieden zurück. „Die Zulassungssysteme sind international nicht harmonisiert“, sagte Brand. „Manchmal müssen wir auf Anfrage bestimmter Behörden nachliefern, wie in den drei Fällen der US-Behörde EPA. Für die EU-Zulassung seien sie nicht Pflicht gewesen und hätten zudem keine Relevanz für eine weitere Verlängerung gehabt, so Brand weiter. „Wir sind für Transparenz und haben nichts zu verbergen.“

Der Ermessensspielraum, ob Studien für die Zulassung relevant sind oder nicht, war in der Tat ein Problem, so dass das Handeln der Konzerne heute nicht justiziabel ist. EFSA-Chef Bernhard Url brandmarkte das Verhalten dennoch als „ethisch und moralisch verwerflich“. Erst mit der neuen Transparenzregel von 2019 wurden die Pestizidhersteller stärker in die Pflicht genommen. Die Hersteller und die durchführenden Labore sind seitdem verpflichtet, ausnahmslos alle ihre Studien melden. Unabhängig von ihrem Ausgang oder ihrer vermeintlichen Relevanz. Das kann über die Register der Labore kontrolliert werden.

Die Beweislast liege bei der Branche, das sei ein weltweiter Ansatz, sagte Url. Sie müsste für die Sicherheit ihrer Produkte einstehen. Audits und Inspektionen könnten allerdings verbessert werden, räumt der EFSA-Chef ein. Internationale Kooperation gebe es schon, etwa mit US-amerikanischen und kanadischen Behörden, doch auch diese könnten ausgebaut werden. „Das System ist nicht perfekt, aber wir haben Fortschritte gemacht.“ Die EU könne jedoch die Studien weder selbst beauftragen noch bezahlen. Das sei Aufgabe der Produzenten. Die EU-Behörden könnten diese Mammutaufgabe nicht stemmen.

Bleibende Schwachstellen im Prüfsystem

ECHA-Chefin Sharon McGuinness stellte unmissverständlich klar: „Grundsätzlich muss alles eingereicht werden, je mehr Daten desto besser.“ Denn auch vermeintlich unrelevante Daten könnten in der Gesamtschau die Einschätzung einer Substanz verändern und die Menschen schützen. Man müsse erstmal davon ausgehen, dass die Branchen es richtig machen wollen. Die EU hätte anders als die US-Behörde EPA aber keine Durchsetzungsbefugnisse, um Regelbrüche zu sanktionieren. Die liegen bei den Mitgliedsstaaten, die die Dossiers der Hersteller einreichten und für ihre Vollständigkeit zuständig seien. Wenn sie Strafen verhängen, müssten sie das den EU-Behörden nicht melden. Bisher seien keine solchen Fälle bekannt.

Auch Kommissionsvertreterin Claire Bury hält das Verhalten der Konzerne für nicht korrekt. „Wir verlassen uns auf eine zuverlässige Risikobewertung. Die Ergebnisse der schwedischen Studie machen uns ernste Sorgen“, so Bury. Doch die Richtlinien hätten sich geändert, was künftige Regelbrüche verhindere. Damit sind aber längst nicht alle Probleme gelöst. Axel Mie legt den Finger in die Wunde. Zum einen sollte man einen grundsätzlichen Interessenkonflikt nicht aus den Augen verlieren. Die Test-Labore forschen im Auftrag der Hersteller, die gleichzeitig Kunden sind, die sie nicht verlieren wollen. Es könne also durchaus Fälle geben, bei denen der Ausgang ihrer Studien durch wirtschaftliche Zwänge beeinflusst werde.

Zum anderen sei weiterhin ungeklärt, was mit Bewertungen von bereits lange zugelassenen Pestiziden geschieht. Denn der Großteil der heute eingesetzten Giftstoffe sei vor 2019 zugelassen worden. Eine Verlängerung ihrer Zulassungen werde immer auf Basis alter Studien entschieden. Dass das ein Problem ist, sieht auch Kommissions-Vertreterin Claire Bury. Eine rückwirkende Überprüfung wäre sicherlich angeraten, sagt sie. Sie bezweifele allerdings, dass das bei der schieren Fülle von Studien jemals vollständig gelingen könnte.

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