Finanzen

Was gegen radikale Unsicherheit hilft

Lesezeit: 14 min
06.08.2023 07:03  Aktualisiert: 06.08.2023 07:03
Die Zukunft einzuschätzen, um heute bessere Entscheidungen zu treffen, ist seit jeher eine der großen Herausforderungen der Wirtschaftswissenschaften. Neue Studien gehen dieser Frage nochmals nach - mit überraschenden Erkenntnissen.
Was gegen radikale Unsicherheit hilft
Von der Unsicherheit der Erwartung: Ökonom John Maynard Keynes (Foto: dpa)

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Eine zentrale Prämisse der neoklassischen Theorie lautet, dass die Folgen der Entscheidungen von Marktteilnehmern im Voraus bekannt sein können und als risikobereinigte Schätzungen zu quantifizieren sind. Wie John Kay und Mervyn King in ihrem 2020 erschienenen Buch Radical Uncertainty: Decision-Making Beyond the Numbers zeigen, haben derart probabilistische Überlegungen eine lange Geschichte. In der Wirtschaftswissenschaft wurde damit das Konzept des „erwarteten Nutzens“ messbar gemacht - jenes Desiderats, das es für rationale Wirtschaftsakteure definitionsgemäß zu maximieren gilt. Als Verfasser einer bedeutenden, von der britischen Regierung finanzierten Analyse des Aktienmarktes (Kay) und als ehemaliger Gouverneur der Bank of England (King) sind beide Autoren bestens geeignet, die komplexe Interaktion zwischen Finanzmärkten und Märkten für „echte“ Dinge (Waren, Dienstleistungen, Arbeit, Patente und so weiter) zu untersuchen. Dabei haben sie jene statistischen Methoden und ontologischen Annahmen in Frage gestellt, die Wirtschaftsfachleute dazu bringen, die Zukunft als messbar und steuerbar zu betrachten.

Umgang mit Erwartungen

Von John Maynard Keynes an der Universität Cambridge vor 90 Jahren bis hin zu Robert Lucas an der Universität Chicago Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Wirtschaftswissenschaft Erwartungen in den Mittelpunkt der Marktdynamik gestellt. Allerdings bestehen unterschiedliche Auffassungen darüber, wie diese Erwartungen zustande kommen. Sind die von uns erfassten Daten das Ergebnis von Prozessen, die sich so „stationär“ präsentieren wie physikalische Gesetze - etwa jene, die die Eigenschaften von Licht und Schwerkraft bestimmen? Oder lassen soziale Prozesse, die den Märkten Leben einhauchen, zukünftige Ergebnisse radikal unsicher werden?

Ab den 1970er Jahren dominierten Lucas und seine Kollegen über eine lange Generation hinweg die Wirtschaftstheorie und brachten verschiedene Strömungen der Chicagoer Schule hervor. Während die Effizienzmarkthypothese besagte, dass die Preise auf den Finanzmärkten alle relevanten Informationen enthalten, ging die Theorie realer Konjunkturzyklen der neuen klassischen Makroökonomik davon aus, dass die Makroökonomie ein sich selbst ausgleichendes System sei, dessen Märkte sowohl effizient als auch vollständig sind. Das System mag zwar externen Schocks ausgesetzt sein, ist aber für fiskal- oder geldpolitische Interventionen nicht empfänglich. Diese Annahme vollständiger Märkte unterstellt, dass wir unsere Unwissenheit im Hinblick auf die Zukunft überwinden können. Sie legt nahe, dass wir jederzeit Verträge abschließen könnten, um uns so gegen alle in ihrer Unendlichkeit möglichen Eventualitäten in der Zukunft zu versichern. Da es aber offenkundig keine perfekten, vollständigen Märkte gibt, vertritt die Hypothese rationaler Erwartungen der Chicagoer Schule die Auffassung, dass die Marktteilnehmer ihre vorausschauenden Entscheidungen anhand eines (allgemein impliziten) Modells darüber treffen, wie die Welt im Durchschnitt funktioniert und weiterhin funktionieren wird. Infolgedessen werden Erwartungen gezügelt und mit effizienten Marktgleichgewichten in Einklang gebracht. Kay und King ihrerseits blicken noch weiter zurück in die Zeit vor der Formulierung der Hypothese rationaler Erwartungen, als Frank Knight und später Keynes korrekt aufzeigten, dass unsere Unkenntnis hinsichtlich zukünftiger Ergebnisse unausweichlich ist. Keynes formulierte es in berühmten Worten im Jahr 1937 folgendermaßen:

„Mit ‚unsicherem Wissen‘...will ich nicht einfach sicheres Wissen von dem unterscheiden, was nur wahrscheinlich ist. … Der Sinn, wie ich den Begriff gebrauche, ist der, in welchem Ausmaß Unsicherheit herrscht über den Ausgang eines europäischen Krieges, oder über den Kupferpreis sowie den Zinssatz in zwanzig Jahren, oder das Veralten einer Neuerung, oder die Lage privater Vermögensbesitzer im Gesellschaftssystem von 1970. Für diese Fragen gibt es keine wissenschaftliche Grundlage, auf der man irgendeine, was für eine auch immer, berechenbare Wahrscheinlichkeit bilden kann. Wir wissen es einfach nicht“.

Die in schockierender Weise nicht vorhergesehene globale Finanzkrise des Jahres 2008 hat diese Erkenntnis wieder in den Fokus gerückt.

Die erneute Relevanz der keynesianschen Wirtschaftslehre ergab sich aus ihrer Kernaussage: Eine monetäre Marktwirtschaft kann nicht als Garant für Vollbeschäftigung angesehen werden. Diese Lehre ergab sich aus der zentralen Bedeutung, die Keynes der Fragilität der Erwartungen beimaß, auf deren Grundlage Investitionsentscheidungen getroffen werden. Im Jahr 2008 wurden die Investitionserwartungen zertrümmert: ein derart massives Marktversagen verlangte nach ebenso massiven Kompensationsmaßnahmen durch staatliche Institutionen. Sogar Lucas räumte ein: „Mit dem Rücken zur Wand ist jeder Keynesianer.” Kay und King schreiben dazu:

„Die von Lucas gepriesenen Fortschritte in der ökonomischen Theorie verhinderten weder einen größeren Abschwung der Weltwirtschaft, noch gaben sie politischen Entscheidungsträgern die Instrumente an die Hand, die diese zur Bewältigung des Abschwungs benötigten. Die von ihm beschriebenen Modelle gingen von einer stabilen und unveränderlichen Struktur der Wirtschaft aus und waren nicht in der Lage, mit außergewöhnlichen Ereignissen fertig zu werden, die sich aus der grundsätzlichen Nichtstationarität einer Marktwirtschaft ergaben.”

Da sich die Wirtschaftswissenschaften seit dem Schock von 2008 weiterentwickelt haben, wird Keynes' theoretischer Standpunkt hinsichtlich der Frage unvermeidliche Unsicherheit oder steuerbares Risiko allmählich als ebenso relevant anerkannt, wie die aus seiner Makroökonomie abgeleiteten Politikempfehlungen. Die entscheidende Frage bleibt: Wo finden wir Leitlinien, um die Folgen radikaler Unsicherheit abzumildern? Welche Grundlage gibt es für zielorientiertes Handeln vor dem Hintergrund der Feststellung „Wir wissen es einfach nicht?“ Ich sehe drei Lösungsansätze. Die ersten beiden sind defensiver Natur, der dritte proaktiv. Alle drei erteilen einer ausschließlichen Konzentration auf die Effizienz der Ressourcenallokation eine Absage. Damit stehen sie außerhalb des nach wie vor vorherrschenden Paradigmas der Mainstream-Ökonomie.

Cash und Kontrolle

Der erste dieser Lösungsansätze lautet „Cash und Kontrolle.” Dabei handelt es sich um ein Instrumentarium zur Absicherung der Unsicherheit in meinem eigenen Berufsfeld des Risikokapitals, wobei dessen Einsatz im gesamten Spektrum der Finanzinstitutionen und -märkte allgemein anerkannt ist. Zum ersten Mal begegnete mir radikale Unsicherheit vor etwa 40 Jahren als aufstrebender Risikokapitalgeber. Vorbereitet hatte man mich darauf zu meiner Zeit als Doktorand der Wirtschaftswissenschaft in Cambridge, wo ich von Richard Kahn, Keynes führendem Schüler und intellektuellen Vollstrecker, betreut wurde. Wie ich in Doing Capitalism in the Innovation Economy darlege, wurde mir eine bittere Lektion erteilt, als ich das Investment meiner Risikokapitalfirma in ein aufstrebendes Life-Sciences-Unternehmen namens Bethesda Research Laboratories (BRL) leitete. Aufgrund von Managementfehlern vonseiten der Gründer sowie Governance-Fehlern anderer Investoren und Führungskräfte war ich gezwungen, eine Operation zur Rettung unserer Investition einzuleiten. Trotz aller Due-Diligence-Prüfungen, die wir durchgeführt hatten, um Technologie und potenzielle Märkte des Unternehmens zu verstehen, stellten wir fest, dass wir unwissend investiert hatten.

Als ich Jahrzehnte später über diese Erfahrung nachdachte, fragte ich mich: „Hätten wir uns damals gegen unsere unvermeidliche Unwissenheit absichern können?“ Die Antwort lautete ja, aber nur, wenn es vollständige Märkte gegeben hätte und wir genau die Art von Wertpapieren hätten kaufen können, die sich in der einzigartigen Situation, in der wir uns befanden, bezahlt gemacht hätten. Wie Kay und King jedoch sehr ausführlich darlegen, können Märkte niemals vollständig sein. Also improvisierte ich im Nachhinein eine retrospektive Absicherung, die später zur Grundlage meiner Strategie Cash und Kontrolle wurde.

Auf der Mikroebene des Risikokapitalgebers bedeutet Cash und Kontrolle, im Falle von Problemen uneingeschränkten Zugang zu den erforderlichen Mitteln zu haben, um sich Zeit für das Verstehen des Problems zu verschaffen, sowie auch über ausreichend Kontrolle zu verfügen, um die Parameter der Situation zu ändern. Im Fall von BRL verfügten meine Partner und ich über privilegierten Zugang zu mehr als ausreichend Geld von unseren institutionellen Kunden (deren Investitionen wir mit Nachdruck schützen wollten). Um allerdings volle Kontrolle über das Unternehmen zu erlangen, mussten wir diesen Zugang nutzen, um uns gegen andere Risikokapitalgeber und die Gründer durchzusetzen - ein mühsames Unterfangen. Die Einsetzbarkeit von Cash und Kontrolle ist natürlich kontextspezifisch. Während der jüngsten, durch eine ultralockere Geldpolitik geschürten Einhornblase stand den Unternehmern so reichlich Cash zur Verfügung, dass die Aufrechterhaltung der Kontrolle fast unmöglich geworden war. Das Kräfteverhältnis hatte sich in Richtung der Gründer verschoben, von denen sich viele durch den Besitz von Mehrstimmrechtsaktien (super-voting shares) dauerhafte Kontrolle sicherten.

Diese Zwei-Klassen-Aktienstruktur war von der Welt der familiengeführten Medienunternehmen auf das Silicon Valley übergesprungen, beginnend mit der ersten Risikokapitalfinanzierung von Google im Jahr 1999. Abgesegnet wurde dieser Deal von den beiden führenden Risikokapitalgebern ihrer Generation: John Doerr von Kleiner Perkins und Mike Moritz von Sequoia Capital. In den darauffolgenden Jahren strebte jeder Unternehmer danach, einen Status wie die beiden Google-Gründer Sergey Brin und Larry Page zu erreichen. Vor allem Facebook-Gründer Mark Zuckerberg trat direkt in deren Fußstapfen.

Der Preis für die Akzeptanz dieser Bedingungen wurde bald durch öffentliche Auseinandersetzungen - auf Vorstandsebene und vor Gericht - deutlich, als etwa die Gründer von Uber und WeWork aus ihren Unternehmen hinausgedrängt werden sollten. Und nun, da die Normalisierung der Geldpolitik der Einhornblase ein Ende setzte, ist Cash und Kontrolle wieder ein relevanter Leitfaden für Risikokapitalgeber.

Marktmacht und Merkantilismus

Jenseits der Welt der Start-ups, im Herzen der Konzernwirtschaft, besteht eine wichtige Möglichkeit der Kontrolle in der Marktmacht, die Warren Buffett als „Burggraben“ eines Unternehmens bezeichnet. Auf der Jahreshauptversammlung von Berkshire Hathaway im Jahr 1995 erklärte er es folgendermaßen: „Uns geht es darum, Unternehmen zu finden, die aus dem einen oder anderen Grund diesen Burggraben um sich herum haben - weil sie etwa die kostengünstigsten Produzenten in einem bestimmten Bereich sind, weil sie aufgrund ihrer Merkmale über einen natürlichen Markt verfügen, weil sie als starke Marke in den Köpfen der Verbraucher verankert sind, weil sie technologisch voraus sind, oder aus irgendeinem anderen Grund.”

Seitdem ist eine beträchtliche Menge an wissenschaftlicher Literatur erschienen, die sich mit der Theorie und Quantifizierung der erkennbaren Zunahme der Marktmacht in verschiedenen Branchen, insbesondere in den Vereinigten Staaten, befasst. Marktmacht - und die daraus resultierenden Monopolrente - verleiht die Möglichkeit, sich in großem Umfang selbst zu versichern. Daher verfügen die vier erfolgreichsten Unternehmen der Welt, die in ihren Anfangsjahren jeweils von Risikokapitalgebern unterstützt wurden, in der Regel über große Mengen an Cash und kurzfristigen marktfähigen Wertpapieren. Zum 31. März 2023 beliefen sich die entsprechenden Bestände bei Alphabet (Google) auf 115 Milliarden Dollar, bei Amazon auf 69 Milliarden Dollar, bei Apple auf 56 Milliarden Dollar (plus 110 Milliarden Dollar an marktfähigen langfristigen Wertpapieren) und bei Microsoft auf 104 Milliarden Dollar. Diese Unternehmen haben zwar die radikale technologische Unsicherheit bei der Entwicklung neuartiger Produkte und Dienstleistungen sowie eine radikale kommerzielle Unsicherheit hinsichtlich der Frage, ob es für ihre Innovationen Kunden gibt, in Kauf genommen, sich jedoch geweigert, finanzielle Unsicherheit jedweder Art zuzulassen.

Das gleiche Bemühen um strategische Finanzautonomie veranlasste auch Jamie Dimon zur Erstellung einer „Festungsbilanz“, die es JPMorgan - als vielleicht einziger Bank weltweit - ermöglichte, die globale Finanzkrise 2008 ohne staatliche Nothilfe zu überstehen. In ähnlicher Weise reagierten die ostasiatischen Länder auf die vom Internationalen Währungsfonds Ende der 1990er Jahre angerichteten Zerstörungen mit aggressiver merkantilistischer Politik. Durch die Ausweitung ihrer Leistungsbilanzüberschüsse und Reserven kamen sie zu Cash und Kontrolle und erlangten damit solide finanzielle Sicherheit.

Es hat einen guten Grund, warum eine derartige – entweder durch eine unterbewertete Währung oder mittels gesetzlich festgelegter Zölle und Subventionen umgesetzte - Politik als „protektionistisch“ bezeichnet wird. Sie dient zweifellos den wirtschaftlichen Interessen derjenigen, die zu Lasten der Masse der Verbraucher exportieren (die ihrerseits unter den nachteiligen Veränderungen der Handelsbedingungen leiden). Im Extremfall droht eine derartige Politik die Art von Handelskriegen auszulösen, die zur Großen Depression beigetragen haben.

Doch hinter der Rhetorik vom Freihandel verbirgt sich die pragmatische politische Ökonomie des Welthandels. Friedrich List stellte dazu vor 180 Jahren fest: „Jede Macht, die es aufgrund protektionistischer Politik zu einer Vormachtstellung in Produktion und Handel gebracht hat, kann (nachdem sie diese erlangt hat) mit Vorteilen zu einer Politik des Freihandels zurückkehren.“ Man fühlt sich an Großbritannien im Jahr 1846 oder an die USA im Jahr 1945 erinnert. Sowohl Liquiditätsreserven, die in normalen Zeiten zu hoch wären, als auch Maßnahmen, die mit der Zeit zur Bildung derartiger Reserven führen, stellen eine Abweichung vom Ideal der Effizienz dar. Seitdem sich die Wirtschaftswissenschaft mit der Realität unvollständiger Märkte auseinandersetzt, wird Selbstversicherung auf Grundlage nicht gebundener Barmittel zunehmend als „rational“ anerkannt, obwohl dies mit spürbaren Kosten verbunden ist.

In Resilienz investieren

Das bringt uns zum zweiten Lösungsansatz: Investitionen in die Resilienz durch strategische Allokation von mehr Kapital, als für eine optimal effiziente Produktionskette erforderlich wäre. Kay und King selbst betonen den notwendigen Kompromiss zwischen Effizienz und Resilienz. Die Covid-19-Pandemie hat die Zerbrechlichkeit ausgedehnter Lieferketten zutage gefördert. Produktionsnetzwerke, die auf einen möglichst geringen Einsatz von Working Capital optimiert waren, brachen schnell zusammen, als sich herausstellte, dass Effizienz der Feind der Resilienz ist. Und dies nur 12 Jahre nachdem die globale Finanzkrise zutage förderte, dass die effiziente Kapitalallokation im Bankensektor die Resilienz des Finanzsystems radikal verringert hatte.

Resilienz im Bankensystem erfordert ein im Vergleich zu „normalen“ finanziellen Bedingungen übermäßig hohes Eigenkapitalniveau, genauso wie Resilienz in Produktionssystemen von Pufferbeständen und alternativen Bezugsquellen abhängt. In jedem Fall sind Zeitreihen von Daten, die definieren, was „normal“ und was eine statistisch quantifizierbare Abweichung ist, irreführende Anhaltspunkte für unvorhersehbare, das System über seine Grenzen hinaus belastende Schocks - wie den Tsunami in Fukushima, die Covid-19-Pandemie, die russische Invasion in der Ukraine und so weiter. Das Working Capital umfasst die Investitionen eines Unternehmens in Vorräte und in Forderungen gegenüber Kunden, die ihre Käufe noch nicht bezahlt haben. Unternehmen haben zwar keine Kontrolle über die Höhe ihrer Forderungen, können sich aber selbst absichern, indem sie mehr Vorräte halten, als nach der historischen Entwicklung zur Deckung des aktuellen und geplanten Produktionsniveaus erforderlich sind. Die notwendige Verringerung der realisierten Kapitalrendite ist der Preis für diese Absicherung. Gleichwohl kann auch konträres Verhalten bestraft werden. Auf den Finanzmärkten hat die Literatur über die „Grenzen der Arbitrage“ gezeigt, wie Liquidität auf der rechten Seite der Bilanz eines Anlegers (wo die Verbindlichkeiten zur Finanzierung von Vermögenswerten aufgeführt sind) Bank Runs ermöglicht und die Zeitspanne einschränkt, in der gegen den Markt investiert werden kann. Die Struktur von Berkshire Hathaway als geschlossener Fonds ermöglichte es Buffett, die große Technologieblase der 1990er Jahre auszusitzen, ohne Gefahr zu laufen, seine Finanzierungsbasis zu verlieren. Das Wachstum von Private Equity in den letzten Jahrzehnten hat Buffetts Modell erheblich erweitert.

Das typische Unternehmen kann sich diesen Luxus womöglich nicht leisten. Wenn konträres Verhalten die kurzfristige finanzielle Performance beeinträchtigt, zieht das womöglich die Aufmerksamkeit aktivistischer Hedgefonds oder eines entschlossenen Übernehmers auf sich. Für das Unternehmen wie für den Investmentmanager lautet die entscheidende Frage: „Wie lange kann man es sich leisten, falsch zu liegen?“ Die Übernahme durch Private Equity bietet der Führungsebene des Unternehmens Schutz vor derartigen Bedrohungen, allerdings auf Kosten der endgültigen Übertragung der Kontrolle an die neuen Eigentümer.

In Richtung einer neuen Mesoökonomie

Nimmt man die Fragilität von Produktionsnetzwerken ernst, öffnet sich die Tür in Richtung einer strategischen Erweiterung der ökonomischen Disziplin. Von der klassischen Nationalökonomie eines Adam Smith und David Ricardo bis zur Grenznutzenschule des späten 19. Jahrhunderts, deren Mathematik den Weg für die moderne neoklassische Theorie ebnete, wurde das Gebiet als bimodales Fach betrachtet. Während sich die Mikroökonomie mit dem Verhalten einzelner Akteure (Unternehmen, Verbraucher, Arbeitnehmer, Investoren) beschäftigt, befasst sich die Makroökonomie mit dem Verhalten von Gesamtgrößen (wie Bruttosozialprodukt, Bruttoinlandsprodukt, Nationaleinkommen und so weiter). Der Raum dazwischen wurde jedoch weitgehend vernachlässigt. Entgegen dieses Trends haben sich zwei bedeutende Ökonomen mit diesem Übergangsbereich beschäftigt. Bei dem einen handelte es sich um den sowjetisch-amerikanischen Nobelpreisträger Wassily Leontief, der die ersten Input-Output-Tabellen erstellte, um den Güterstrom von den Primärressourcen bis zum Produktionsergebnis darzustellen.

Heute erstellt in den USA das Bureau of Economic Analysis jährlich eine nationale Input-Output-Analyse, die jedoch zwangsläufig statisch und rückwärtsgerichtet ist. Sie enthält zwar Informationen über die veränderte Struktur der Wirtschaft, bietet aber weder den theoretischen Rahmen noch die empirischen Informationen, die notwendig sind, um zu verstehen, wie sich Schocks im System ausbreiten und wie die ökonomischen Merkmale der verschiedenen Sektoren dynamisch zusammenwirken. Auch der italienische Wirtschaftswissenschaftler Luigi Pasinetti versuchte in seinem Werk Structural Economic Dynamics zu erhellen, wie die unterschiedlichen Elastizitäten von Angebot und Nachfrage in Bezug auf Preis und Einkommen (neben dem branchenspezifischen Produktivitätswachstum) eine Modellökonomie mit Leben erfüllen könnten. Pasinettis Arbeit war jedoch rein konzeptionell und es fehlten sowohl Daten als auch entsprechende mathematischen Werkzeuge, um sie zu operationalisieren. Nun, da die Digitalisierung des Wirtschaftslebens und die Verfügbarkeit entsprechender Rechenressourcen die Operationalisierung der Mesoökonomie ermöglichen, knüpft ein internationales Team von Wirtschaftswissenschaftlern mit Schwerpunkt in Cambridge dort an, wo Pasinetti aufgehört hat. Durch Auslotung des Grenzbereichs der Markteintritte beziehungsweise Marktaustritte sowie finanzieller Abhängigkeiten zwischen Marktteilnehmern, vereint dieses weitreichende Forschungsprogramm sowohl theoretische als auch empirische Fortschritte in der Netzwerkanalyse. Die Mesoökonomie verspricht, Leitlinien zur Identifizierung und Bewertung potenzieller Fehlerquellen und Ausbreitungskanäle zu liefern und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wo Investitionen in Resilienz wahrscheinlich eher notwendig und effektiv sind. Die Relevanz dieses Ansatzes wird durch die laufenden Debatten über Ursachen, Art und alternative Reaktionsmöglichkeiten auf die Inflation unterstrichen. Ist diese in erster Linie die Folge eines zu starken makroökonomischen Nachfrageimpulses oder sektorspezifischer Angebotsschocks? Wie kann es gelingen, die komplexen Wechselwirkungen zwischen Schocks auf der Nachfrage- und der Angebotsseite der Wirtschaft kritisch zu analysieren? Ein alternativer, vergleichbar strategischer Anwendungsfall besteht in der Abbildung von Abhängigkeiten, die sich aus industriepolitischen Initiativen ergeben. So wird beispielsweise jede Anstrengung zum Wiederaufbau einer Hightech-Produktionsbasis in den USA auf zahlreiche Engpässe stoßen, und die darauf abzielenden Gegenmaßnahmen werden wiederum Rückwirkungen haben, die die nachgelagerten Folgen abschwächen können. Die angewandte Mesoökonomie kann bei der Prognose helfen, wo gezielte Ko-Investitionen eingesetzt werden sollten.

Selbst wenn die Netzwerkexternalitäten eines komplexen, dynamischen Produktionssystems sichtbar sind, wird deren Entstehung freilich durch reflexive Interaktionen und bedeutende Innovationen in der Lieferkette beeinflusst. Wie sich diese Kräfte auswirken, bleibt zwangsläufig ungewiss. Fakt bleibt jedoch, dass es angebracht und auch notwendig ist, das Working Capital über jenem Niveau zu halten, das man in einem hypothetischen, optimal effizienten Produktionssystem benötigen würde.

Experimente und Innovation

Der dritte Lösungsansatz beginnt mit der Erkenntnis, dass Innovation per Definition mit radikaler Unsicherheit verbunden ist. In Doing Capitalism schreibe ich dazu:

„ Die Innovationswirtschaft beginnt mit der Erfindung und gipfelt in Spekulation. Etwa 250 Jahre lang waren aufeinanderfolgende Prozesse des Versuchs und wiederholten Irrtums Motor des Wirtschaftswachstums: vorgelagerte Forschung und Erfindung sowie nachgelagerte Experimente in einem durch die Innovation eröffneten neuen Wirtschaftsraum. Dabei kommt es bei jeder dieser Aktivitäten zwangsläufig zu viel Verschwendung: Forschungsprogramme, die in der Sackgasse enden, unbrauchbare Erfindungen und gescheiterte kommerzielle Unternehmungen.”

Herrscht die risikoärmste und effizienteste Kapitalallokation vor, wird der zwangsläufig kostspielige Prozess des Experimentierens nicht in Angriff genommen. Auch Innovationen mit transformativem Potenzial werden nicht realisiert. Bei Experimenten geht es darum, wie wir die Konturen des Unbekannten abbilden. In der Risikokapitalbranche ist jede Neugründung ein Experiment, und die meisten scheitern. Der marktwirtschaftliche Wettbewerb eliminiert die Gescheiterten und bestätigt die Gewinner. Ohne eine derartige „Schumpetersche Verschwendung“ würde es den anhaltenden, kumulativen Aufwärtstrend bei Produktivität und Lebensstandard nicht geben.

Als im späten 19. Jahrhundert die mechanische Tüftelei als Grundlage für produktive Innovation von wissenschaftlichen Erkenntnissen abgelöst wurde, kamen die notwendigen Forschungsmittel von den Großunternehmen, die während der Zweiten Industriellen Revolution (die uns Eisenbahnen, Elektrifizierung und Massenproduktion bescherte) entstanden waren. Unabhängig davon, ob sie ihre Marktposition formellen Vereinbarungen mit der US-Regierung (AT&T), Patentmonopolen (RCA und Xerox) oder einer Kombination aus innovativer Forschung und kommerzieller Vormachtstellung (DuPont und IBM) verdankten, konnten es sich die führenden Unternehmenslaboratorien leisten, im Vorfeld in Grundlagenforschung zu investieren, aus der sich kommerziell bedeutsame technologische Innovationen entwickeln würden. Durch die Allokation ihrer Monopolgewinne in wissenschaftliche Forschung und Entwicklung bauten diese Unternehmen ihre Marktmacht aus und dienten gleichzeitig einem übergeordneten, gesellschaftlichen Zweck. Allerdings erwies sich ihre Marktposition als kurzlebig. Innerhalb einer Generation gerieten die für die Finanzierung von Forschung und Entwicklung zur Verfügung stehenden Monopolgewinne zunehmend unter Druck, und die großen Technologieunternehmen der Nachkriegszeit unterlagen den Kräften der schöpferischen Zerstörung im Sinne Schumpeters und der Kartellrechtsdurchsetzung auf US-amerikanischer Bundesebene. Verstärkt wurde dieser Trend zudem durch den Druck zur Maximierung des Shareholder Value. Nach einer Gesetzesänderung im Jahr 1982 durften Unternehmen ihre Aktionäre durch Aktienrückkäufe vergüten. Daraus ergab sich eine überzeugende Alternative zur Investition überschüssiger Cashflows in radikal unsichere Experimente.

Spekulation und Staat

In der Nachkriegszeit entwickelte sich in den USA der Staat außerdem zur wichtigsten Finanzierungsquelle für Forschung und Entwicklung. Das US-Verteidigungsministerium legte den Grundstein für die spätere digitale Revolution, und die National Institutes of Health spielten eine ähnliche Rolle im Bereich der Biotechnologie. In den 1980er Jahren war eine professionelle Risikokapitalbranche entstanden, die sich auf den vom Staat geschaffenen Strukturen bewegte. Lange vor der Gründung der National Venture Capital Association hatte Finanzspekulation die Finanzierung von Entwicklung und Einsatz transformativer Technologien in großem Maßstab ermöglicht - von den Wasserstraßen und Eisenbahnlinien der Ersten Industriellen Revolution bis hin zum Zeitalter der Elektrifizierung in den „goldenen Zwanzigern.“ In jüngerer Vergangenheit hat die Technologie-/Internet-/Dotcom-Blase Ende der 1990er Jahre nicht nur die physische Infrastruktur des Internets finanziert, sondern auch eine ganze Reihe von Experimenten mit Digital- und Netzwerktechnologien. Zu den Ergebnissen dieser Experimente zählten die ersten Plattformen für E-Commerce und soziale Medien. Danach sorgte die lange Phase „unkonventioneller“ Geldpolitik (als Reaktion auf die Finanzkrise des Jahres 2008 und die Covid-19-Pandemie) für die Entstehung der Einhornblase. Auch daraus bezog eine Vielzahl von Experimenten ihre Finanzierung: einige, wie das maschinelle Lernen, bergen wirtschaftliches Umwälzungspotenzial (im Guten wie im Schlechten). Andere, wie Start-ups im Bereich Sofortlieferungen, dürften wohl auf dem Schrotthaufen der Geschichte landen, wenn es ihnen nicht gelingt, ihren Betrieb durch die von ihnen verkauften Dienstleistungen zu finanzieren anstatt durch spekulative Wertpapiere, für die es keine Käufer mehr gibt. Das Ausmaß dieser jüngsten Blase zeigt sich in der extremen Reichweite einiger Experimente, deren potenzieller Erfolg sich erst nach der Laufzeit der zugesagten Risikokapitalmittel einstellen wird - wie im Fall des Quantencomputers oder der Energie aus Kernfusion. Ist jedoch Finanzspekulation die Finanzierungsquelle der Innovation, gewinnen jene Anleger, die in eine Blase investieren, bevor sie wissen, ob ein Experiment erfolgreich war.

Der öffentliche Sektor kann ebenfalls spekulative Ansätze im Bereich Innovationen verfolgen und das mit längerfristiger Kontinuität. Die Programmleiter der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) werden für eine bestimmte Zeit aus der Privatwirtschaft rekrutiert und dann mit der Finanzierung von Projekten betraut, die sich mit den spezifischen Bedürfnissen der Streitkräfte befassen. Durch Ausschaltung des Marktrisikos kann die DARPA extrem anspruchsvolle technische Experimente finanzieren. Ein Schlüsselaspekt dieses historischen Erfolgs liegt darin, dass Fehlschläge als unumgängliche Begleiterscheinung von Experimenten akzeptiert werden. Dieser Erfolg dient als überzeugendes Modell für die Finanzierung jener Innovationen, die für wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel erforderlich sind. In allen diesen Szenarien ist übermäßige Konzentration auf effiziente Ressourcenallokation der Feind der Innovation und manchmal auch der Feind des Fortbestands eines Unternehmens. Die Realität der radikalen Unsicherheit kehrt Cassius‘ Behauptung um: der Fehler liegt sehr wohl in unseren Sternen. Wir sind dazu verdammt, die Zukunft so gut wie möglich zu meistern, ohne Hoffnung, jemals den einen optimalen Weg zu finden. Im Angesicht des effizienten Misserfolgs gilt es, den effektiven (und zwangsläufig verschwenderischen) Erfolg zu schätzen.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

William H. Janeway ist Special Limited Partner bei der Private-Equity-Firma Warburg Pincus, Lehrbeauftragter für Wirtschaftswissenschaften an der University of Cambridge und Verfasser von Doing Capitalism in the Innovation Economy (Cambridge University Press, 2018).

Copyright: Project Syndicate, 2023.

www.project-syndicate.org

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William H. Janeway ist Lehrbeauftragter für Wirtschaftswissenschaften an der University of Cambridge und Verfasser von Doing Capitalism in the Innovation Economy (Cambridge University Press, 2018).


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